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Griechenland
Das globale Dorf

Die Kleinstadt Veria ist eine griechisch-orthodoxe Hochburg. Hier ist ein Flüchtlingscamp entstanden, das anders aussieht als viele andere. Es gibt Häuser, keine Zelte. Und es sind Orte vorgesehen, an denen gebetet werden kann. Vor allem muslimische Flüchtlinge wissen das zu schätzen.

Von Marianthi Milona | 23.08.2016
    Die Junge syrische Frau Amar Alissa hockt mit weißem Kopftuch und brauner Jacke auf einem Gebetsteppich in einem kleinen Raum. Im Hintergrund ist ein provisorisches Doppelbett zu erkennen.
    Amar Alissa beim täglichen Gebet (Marianthi Milona)
    Nach einem kurzen Telefonat erlaubt mir ein Soldat, der am Eingang des Militärlagers von Agia Barbara, nahe der Kleinstadt Veria an diesem Tag die Wache schiebt, den Zugang: "Dort hinten, wo sie das Schild sehen, nehmen sie den linken Weg, der führt sie automatisch zum Hauptquartier. Sie werden dort erwartet", erklärt mir der Wachmann.
    Als ich nach einigen Kurven das Hauptquartier erreiche, nimmt mich ein anderer Soldat in Empfang. Nein, er selbst dürfe keine Auskünfte geben, erklärt er, aber es gebe viele Vertreter von Hilfsorganisationen vor Ort. An diese sollte ich mich halten. Ein paar Meter weiter treffe ich bereits auf den Leiter von Amnesty International, Christos Kafassis, der mir die ersten Informationen über die Situation liefert:
    "Dieses Camp ist anders, als alle übrigen, die wir in Griechenland betreuen. Die Wohnkapazitäten, die uns in dieser Kaserne zur Verfügung stehen, ermöglichen den Flüchtlingen in Häusern zu wohnen. Es gibt keine Zelte. Das Zweite, dass hier von Bedeutung ist: In diesem Camp leben nur Familien und zu 80 Prozent handelt es sich dabei, um Menschen aus Syrien. Die restlichen 2ß0 Porzent sind Iraker. Das ist der Grund, warum es hier sehr sicher und ruhig zugeht."
    Und tatsächlich, in diesem Flüchtlingscamp wirkt alles sehr friedlich. Die Anlage erstreckt sich weitläufig über verschiedene Ebenen. Fast alle Behausungen befinden sich unter schattigen Kiefern und Pinien. Dahinter erkennt man mit bloßem Auge einen riesigen Stausee, den die Geflüchteten auch zum Baden nutzen können. Während es einem beim Anblick des Lagers von Idomeni Angst und Bange wird, vermittelt das Lager von Veria eine idyllische, friedliche, Dorfatmosphäre. Und das helfe auch den Hilfskräften vor Ort, alle notwendigen Formalitäten, die heidnische Versorgung und die Essensausgabe, besser zu organisieren, erklärt Christos Kafassis:
    "Es ist unsere Aufgabe den Menschen auch bei ihren Asylantragsverfahren behilflich zu sein. Wir bieten ihnen drei Möglichkeiten an: einen Antrag auf Asyl in Griechenland zu stellen, oder einen Antrag auf Asyl in einem anderen europäischen Land, welches sie aber nicht selbst bestimmen können. Drittens den Antrag auf Familienzusammenführung vorzubereiten.
    Und diesen Antrag haben die meistens im Camp von Veria gestellt. Eine davon ist die 17-jährige Amar Alisa. Alisa war vor einem halben Jahr mit ihren Eltern und einem Bruder in Griechenland eingetroffen. Zwei ihrer Brüder und eine Schwester befinden sich noch in der Türkei, einer ist im Krieg um Aleppo gestorben, zwei weitere Brüder leben in Hamburg. Und zu diesen will Amar unbedingt hin.
    "Als wir in Idomeni waren, hat mein Bruder gesagt, wir sollten nach Veria gehen."
    Seit zwei Jahren befindet sie sich mit der Familie auf der Flucht und konnte deshalb auch keine Schule besuchen. Mit dem Deutschunterricht hatte sie in Syrien begonnen, deshalb setzte sie ihr Studium im Camp von Veria einfach alleine fort. Weil das den Helfern im Camp auffiel, fanden sie eine Lösung. Amar ist ihnen dafür sehr dankbar:
    "Als wir in Idomeni waren, hat mein Bruder gesagt, wir sollten nach Veria gehen. Ich sagte: 'Nein', ich möchte nicht, wenn die Grenze wieder geöffnet würde. Aber er hat Recht gehabt. Ich habe dann hier in Veria weiter Deutsch gelernt. Dann habe ich eine Frau getroffen, die mir gesagt hat, sie hätte eine Frau, die mich weiter unterrichten möchte. Sehr viele Leute kommen zu uns und sie helfen uns auch. Sie nehmen die Familien in ihr Haus, damit sie baden. Die griechischen Leute sind sehr nett."
    Zwei Flüchtlinge unter einem Autostellplatz. Auf dem Boden liegen Gebetsteppiche.
    Die Männer Beten unter einem überdachten Autostellplatz (Marianthi Milona)
    Was aber für alle im Camp von Veria wichtig ist, hier haben sie auch einen Platz gefunden, um zu beten. Während die Männer gemeinsam unter einem überdachten Autostellplatz ihre Teppiche auslegen dürfen, beten die Frauen in ihren Zimmer alleine. Sie beten um Liebe, um das Ende des Krieges und um ein besseres Leben. Für die Soldaten in der Kaserne nahe der Kleinstadt Veria ist das eine ungewöhnliche Erfahrung. Veria ist eine ultra-griechisch-orthodoxe Hochburg. Moscheen gibt es bisher nicht einmal in den Großstädten Athen und Thessaloniki. Christos Kafassis von Amnesty International erklärt, warum das trotzdem in Griechenland toleriert wird:
    "Wir sollten immer wieder daran denken, dass die größten griechisch-orthodoxen Patriarchate sich seit 1400 Jahren in arabischen Staaten befinden. Unser wichtigstes Patriarchat in Istanbul existiert unter muslimischer Schirmherrschaft. Was ich damit sagen will: Die arabisch-muslimischen Länder haben unsere Patriarchate immer beschützt. So haben wir in dieser Notsituation auch kein Problem damit, dass diese Menschen ihre Religion bei uns so ausüben, wie sie es aus ihrem Land gewohnt sind."
    Am Ende verspreche ich Amar wiederzukommen - und sie zu einem Eis ins Zentrum von Veria mitzunehmen. Ich kann zwar ohne Genehmigung nicht wieder zu ihr ins Flüchtlingslager hinein. Doch sie darf, wann immer sie möchte, das Lager verlassen. In diesem griechisch-orthodoxen Land fühlt sich die junge Muslimin momentan freier, als in ihrem eigenen Heimatland.