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Griechenland
Große Angst vor Abschiebungen

Über 13.000 Flüchtlinge stecken auf den ägäischen Inseln unter katastrophalen Zuständen fest. Und täglich kommen neue Boote an. Jetzt könnte sich die Zahl der Abschiebungen aber drastisch erhöhen, denn die Türkei wurde als sicherer Drittstaat eingestuft, das kann Auswirkungen für Hunderte Syrer in Griechenland haben.

Von Panajotis Gavrilis | 06.10.2017
    Müll und eine besprayte Wand in einem Flüchtlingsheim auf Chios.
    Flüchtlingslager - Hot-Spot Vial auf Chios (Panajota Gavrilis)
    Walat, ein Kurde aus Syrien, sitzt am zentralen Garten in Chios-Stadt und schüttelt entsetzt seinen Kopf. Er kann die Entscheidung der Richter im Fall von zwei Syrern nicht nachvollziehen. Die Türkei ein sicherer Drittstaat?
    "In der Türkei haben sie mich für 13 Tage in ein geschlossenes Lager gepackt. Weil wir illegal vom Nordirak in die Türkei eingereist sind. Es war wie in einem Gefängnis. Sie haben uns schlecht behandelt."
    Walat berichtet von Willkür und Diskriminierung seitens türkischer Behörden. Besonders er als syrischer Kurde könne nicht zurück in die Türkei. Doch für ihn und über 650 weitere Syrer auf den Inseln, deren Fälle aktuell auf Eis liegen, könnte das lang erwartete Urteil eine Richtung vorgeben.
    "Wir finden die Kriterien eines Drittstaates problematisch"
    Zwei Syrer hatten bis zum höchsten griechischen Verwaltungsgericht geklagt, unter anderem gegen die Entscheidung, die Türkei sei sicher für sie.
    "Wir sind besorgt und finden die Kriterien eines sicheren Drittstaates problematisch. Zum Beispiel beim Kriterium einer persönlichen Beziehung: Wenn zum Beispiel ein Syrer über die Türkei nach Griechenland lediglich reist, dann ist es für uns keine ausreichende Bindung, dass jemand deswegen in die Türkei zurückgebracht wird", sagt Minos Mouzourakis vom europäischen Flüchtlingsrat. Insbesondere bei der Frage, was ein sicherer Drittstaat europarechtlich genau sei, gab es die größten Unstimmigkeiten zwischen den Richtern. Das Gericht hätte die Frage der Auslegung dem Europäischen Gerichtshof zur Überprüfung vorlegen können. Zwölf Richter waren dafür, 13 dagegen. Zudem kommt: Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention zwar ratifiziert, sie gilt jedoch nur für europäische Flüchtlinge und demnach nicht für Syrer. Diese bekommen in der Türkei einen sogenannten "temporären Schutzstatus".
    "Dem Gerichtsurteil zufolge, muss ein temporärer Schutzstatus nicht gleichwertig mit der Genfer Flüchtlingskonvention sein. Der temporäre Status, den die Türkei den Syrern gibt, umfasst nicht alle Rechte, die die Genfer Flüchtlingskonvention vorsieht, aber einige. Wie beispielsweise: Abschiebungen nach Syrien sind verboten. Und das wird vom Gericht als ausreichender Schutz eingestuft."
    Viele NGOs sehen Türkei nicht als sicher an
    Insbesondere seit dem Putschversuch im Sommer 2016 und der politischen Entwicklung sehen in Griechenland viele Beobachter und NGOs die Türkei als nicht sicher an. Gabriel Sakellaridis, Leiter der griechischen Sektion von Amnesty International kritisiert die Entscheidung des Gerichts.
    "Amnesty International hat nach eigenen Recherchen Beweise, dass es Rückführungen aus der Türkei nicht nur von Syrern, sondern auch von Afghanen und Irakern in ihre Herkunftsländer gegeben hat. Das ist ein Kriterium, dass ein Land als nicht sicher für Geflüchtete eingestuft wird."
    Eine aktuelle Studie der Freien Universität Amsterdam beschreibt zudem, dass im Rahmen der EU-Türkei-Vereinbarung abgeschobene Personen zum Teil in gefängnisartigen Camps landen, in denen sie kaum Zugang zu Anwälten haben. Auch Nikos Papamanolis, der Koordinator der griechischen Asylbehörde auf Chios, kennt diese Berichte über die Zustände in der Türkei.
    "Es gibt Probleme, das ist Fakt. Aber ich denke, im Großen und Ganzen handelt es sich bei der Türkei um ein Land, das mit der Unterstützung von Europa einen ausreichenden Sicherheitsrahmengewähren kann. Es ist ja kein ausgegrenzter, kein Paria-Staat."
    Männer gehen an einem heruntergekommenen Flüchtlingsheim vorbei.
    Flüchtlingslager - Hot-Spot Vial auf Chios (Panajotis Gavrilis)
    Situation Katastrophal
    In Griechenland ist die Situation in den Flüchtlingslagern nach wie vor katastrophal. Die Verfahren dauern, sind langwierig und gleichzeitig kommen weiter Boote an.
    Die Behörden scheinen überfordert. Entlastung muss her, so der Chef der Asylbehörde auf Chios, Papamanolis. Er hofft mit dem Urteil auf Klarheit und schnellere Entscheidungen.
    "Der rechtliche Knoten wird gelöst. Sicherlich wird sich die Zahl der Rückführungen erhöhen, daran gibt es keinen Zweifel."
    Auch dem syrischen Kurden Walat droht nun eine Abschiebung. Seit über eineinhalb Jahren harrt er auf Chios aus, fühlt sich wie die meisten auf den Inseln im Stich gelassen. Walat ist wütend, sagt er, hat keine Hoffnung mehr.
    "I feel...everything bad. Like alone, like angry, without hope. Like this."