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Griechenland-Krise
"Wir müssen uns entscheiden zwischen teuer und sehr teuer"

Im Schuldenstreit mit Athen hat der IG-Metall-Chef Detlef Wetzel die Bedeutung einer nachhaltigen Strukturreform in Griechenland betont. Sparen allein nütze nichts, sagte Wetzel im Deutschlandfunk. Vielmehr sei ein "großer Plan" nötig, um das Land zu modernisieren und zu stabilisieren.

Detlef Wetzel im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 11.07.2015
    Detlef Wetzel, Erster Vorsitzender der IG Metall.
    Detlef Wetzel, Erster Vorsitzender der IG Metall. (imago/Metodi Popow)
    IG-Metall-Chef Detlef Wetzel forderte ein vernünftiges Steuersystem in Griechenland. Der Staat müsse seine Einnahmen systematisch generieren können, sagte Wetzel im DLF. Zudem müsse das Land die Möglichkeit für Investitionen erhalten. Derzeit gebe es keine wettbewerbsfähige Wirtschaft und kein gut funktionierendes Gemeinwesen.
    Zugleich warnte Wetzel vor einem Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone. Dies wäre verheerend für die griechische Bevölkerung und für Europa. "Davon würde niemand profitieren."
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    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Als wir uns vor einigen Tagen zum Interview verabredet haben, Detlef Wetzel, der IG-Metall-Vorsitzende und ich, hatten wir überlegt, dass wir über das Thema Industrie 4.0 und die entsprechenden Veränderungen und die Konsequenzen daraus, auch für Gewerkschaften, reden wollen. Das wollen wir tun, allerdings wenn ich ihn jetzt am Telefon begrüße, was ich zunächst einmal tue, guten Morgen, Herr Wetzel, ...
    Detlef Wetzel: Guten Morgen!
    Zurheide: ... Herr Wetzel, muss ich sagen, dass wir natürlich nicht nur darüber reden können, sondern auch mit den aktuellen Ereignissen in Griechenland beginnen müssen. Erste Frage deshalb: Können Sie einem normalen IG-Metall-Mitglied erklären, dass möglicherweise weitere Steuergelder, auch seine Steuergelder, zwischen 50 und 70 Milliarden an Griechenland noch einmal gegeben werden?
    Wetzel: Es ist sicherlich sehr schwierig, Herr Zurheide, und wir müssen uns ja quasi entscheiden zwischen teuer und sehr teuer. Ich glaube, ich würde sagen, dass es natürlich wichtig ist, dass jedes Land in Europa und jedes Volk in Europa eine gute Zukunft hat, und deswegen hoffe ich schon, dass es eine Lösung gibt, wo Griechenland eine gute Zukunft hat, aber gleichzeitig hoffe ich natürlich auch, dass die Steuerzahler in Europa nicht über Gebühr belastet werden. Und für mich wäre ganz wichtig, zu sagen, die Ursachen, ich glaube, die sind relativ klar: Wir sehen eine nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft und wir sehen ein nicht gut genug funktionierendes Gemeinwesen, und wir sehen aber auch, dass Sparen alleine nichts nützt – also eine verworrene Situation. Und ich hoffe, dass es eine gute Lösung gibt, wo eben alle Beteiligten einigermaßen glimpflich aus dieser wirklich schwierigen Situation hinauskommen.
    Zurheide: In der Tat sehen wir ja, dass Reformen seit vier oder fünf Jahren gemacht werden, auch in Griechenland, aber möglicherweise die falsche Medizin verabreicht worden ist. Ich glaube, Sie muss ich das kaum fragen. Was müsste sich denn da verändern, damit genau das passiert, was Sie gerade sagen, dass die Wettbewerbsfähigkeit von Griechenland mittelfristig so ist, dass sie eine Chance haben im Euro?
    Wetzel: Also ich glaube, es ist ja nötig, dass überhaupt mal – was man immer lesen und hören kann –, es überhaupt ein vernünftiges Steuersystem gibt, dass der Staat seine Einnahmen systematisch generieren kann, dass es eine Möglichkeit gibt, zu investieren in Griechenland, dass es ein Konzept gibt, wie sich die Wirtschaft entwickeln kann. Es nützt ja auch nichts, nur Geld irgendwo hinzugeben, sondern es muss ja auch sinnvoll und nachhaltig investiert werden. Es gehört ein großer Plan dazu, wie Griechenland modernisiert und auf neue Füße gestellt werden kann, und da können wir nur hoffen, dass es auch eine politische Kraft in Griechenland gibt, die in der Lage ist, das zu tun. Die Vorgängerregierungen waren da nicht sehr erfolgreich, und die jetzt amtierende Regierung macht auch nicht den besten Eindruck auf mich in dieser Frage.
    Ein Grexit würde extrem teuer für den Steuerzahler
    Zurheide: Das wäre meine nächste Frage gewesen. Trauen Sie denen denn eher zu als den anderen wiederum, ... Vielleicht haben wir ja durch die Entscheidung im Parlament zum ersten Mal so etwas, ich will jetzt das Wort große Koalition nicht in den Mund nehmen, aber dennoch etwas gesehen, wo politische Kräfte auch versuchen, über Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Könnte das helfen, vorsichtige Frage in diese Richtung?
    Wetzel: Das ist ja mal der erste Schritt, dass es überhaupt eine politische Kooperation in Griechenland gegeben hat, und ich finde das gut, dass das geklappt hat, sonst hätte ja auch die Mehrheitsregierung keine Mehrheit im Parlament gehabt, das muss man ja auch sagen. Vielleicht. Ich hoffe sehr, dass die Kräfte, die pro-europäisch sind und die auch in der Lage sind, zu sehen, was das griechische Land braucht an Modernisierung, an Investitionen, aber auch an modernen Strukturen, irgendwann mal die Oberhand gewinnen und tatsächlich dieses Land politisch gestalten.
    Zurheide: Aber die schlichte Antwort, die manch einer hier bei uns gibt – raus aus dem Euro, dann sollen sie eben rausgehen –, das ist nicht Ihre Haltung?
    Wetzel: Nein, weil ich glaube, das würde insgesamt verheerend für das griechische Volk werden und extrem teuer für den deutschen und europäischen Steuerzahler. Ich glaube, da würde keiner von profitieren. Ich habe es am Anfang gesagt: Wir müssen uns, glaube ich, nur noch entscheiden zwischen teuer und sehr teuer.
    Zurheide: Haken wir Griechenland an diesem Punkt ab, auch wenn es da sicher noch vieles zu sagen gibt. Wir beide wollten reden über die Lage in Deutschland. Deutschland wird von außen ja als der starke Mann, als der Gesunde in Europa angesehen. Sind wir wirklich so stark angesichts der bröckelnden Brücken, um das jetzt auch polemisch zuzuspitzen?
    Stichwort Industrie 4.0
    Wetzel: Na, wir sind sicherlich ein starkes wirtschaftliches Land mit einer robusten Volkswirtschaft, aber wir leben unter unseren Möglichkeiten und vor allen Dingen von unserer Substanz. Wir investieren in Deutschland zu wenig, und das gilt sowohl für private, wie für öffentliche Investitionen. Unsere Infrastruktur bröckelt, Sie haben es schon angesprochen, Brücken, Straßen, aber es geht auch um das Thema Bildung und Bildungssystem. Wir haben viel zu investieren und es wird zu wenig investiert. Das Gleiche gilt auch für private Investitionen. Sie haben gesagt, Stichwort Industrie 4.0 – eine große Transformation unserer Volkswirtschaft steht an und alle Lebensbereiche und Arbeitsbereiche werden davon betroffen sein. Aber da werden viele, viele und große Investitionen zu notwendig, und das Gegenteil ist der Fall – also schon auch eine paradoxe Situation. Und wir müssen in Deutschland aufpassen, dass wir unsere Führung, unsere wirtschaftliche Stärke auch langfristig erhalten.
    Zurheide: Man muss ja immer schwierig sein bei diesen Begriffen, jetzt haben Sie es auch noch mal angesprochen, Industrie 4.0 – was genau darunter zu verstehen ist, da streiten sich die Gelehrten immer noch. Es wird jedenfalls eine weitere Veränderung von wirtschaftlichen Prozessen sein, wo die Computer, wo die ganze IT eine deutlich größere Bedeutung bekommt als in der Vergangenheit, lassen wir das mal so stehen. Viele sprechen ja von dem digitalen Wirbelsturm. Nun haben Sie gerade auch eine Reise durch viele Betriebe gemacht, um sich selbst das noch mal anzuschauen. Was war eigentlich da Ihre, erstens, Motivation?
    Wetzel: Na, die Motivation war, dass man eine Entwicklung, die vor uns liegt und von der heute auch keiner genau weiß im Detail, wie sie denn funktionieren und sich darstellen wird, das eben vor Ort sich anzuschauen und mit Menschen zu sprechen, welche Vorstellungen sie haben bezogen auf die Probleme, mit denen zu rechnen ist, aber auch mir anzuschauen, wo man schon anfängt, Lösungen zu finden, wie man Problemen, Möglichkeiten, Schwierigkeiten im Rahmen dieser neuen Prozesse begegnen kann. Also ich war auf der Suche nach Lösungen und auf der Suche nach Erkenntnis, und das möglichst mit betroffenen und sehr sachkundigen Menschen zu tun.
    Zurheide: Fangen wir doch mal an, versuchen wir, es zu definieren: Was ist das aus Ihrer Sicht? In der Tat, die negative Variante ist – und sie wird ja auch in Ihren Reihen häufig so diskutiert –, der Mensch ist noch mehr Erfüllungsgehilfe von Technik und von Computern, als das früher der Fall gewesen ist, weil die Computer dann zeigen, welche Handbewegung gemacht werden muss. Also der Mensch wird immer mehr, ja, entmündigt. Ist das nur eine böse Sicht oder ist das auch eine realistische Sicht?
    "Schaffen wir es, Antworten zu geben?"
    Wetzel: Das ist eine der möglichen Sichten. Alle neuen Technologien haben die Chance, positive Dinge in die Gesellschaft hineinzutragen, aber auch das Risiko, dass sich Dinge zum Negativen verändern. Und ich glaube, entscheidend für uns ist und auch für mich persönlich ist, zu sagen: Wie kann ich es versuchen als Gewerkschaft, als IG Metall, dass die Risiken minimiert werden und die Chancen sozusagen vermehrt werden? Und das ist das Entscheidende, und dafür brauchen wir Gestaltungsmöglichkeiten und Fantasie, wie die Dinge sich entwickeln können. Ich denke, wir dürfen das nicht dem Gang der Industriegeschichte überlassen, dass die Risiken überwiegen, sondern wir müssen dafür sorgen, dass die Chancen Oberhand gewinnen bei diesem Prozess. Und deswegen – man weiß es nicht, wie es letztendlich kommt. Es wäre auf alle Fälle eine schlechte Variante, wenn der Mensch nur noch Anhängsel der Technik würde und wir es nicht schaffen würden, dass die Technik dafür da wäre, letztendlich dem Menschen zu dienen.
    Zurheide: Haben Sie die Macht, das zu gestalten, so wie Sie sich das wünschen?
    Wetzel: Es geht da erst mal um Ideen. Haben wir überhaupt genug Ideen, die Dinge vernünftig zu organisieren? Schaffen wir es, Antworten zu geben auf den Wunsch der Beschäftigten, mehr Zeitsouveränität zu haben, auf den Wunsch, die Qualifikationen zu erhalten? Schaffen wir es, die Arbeitsplätze zu sichern und es nicht zu Massenarbeitslosigkeit kommen zu lassen? Das wären schon mal Ansatzpunkte, wo man die Fähigkeit hätte, zu gestalten. Da geht es um Ideen. Das andere ist, dass wir natürlich Instrumentarien brauchen, wir brauchen Mitbestimmung, wir brauchen Einflussmöglichkeiten von Betriebsräten, von Belegschaften, hier in diese Prozesse einzuwirken, und wir brauchen in Deutschland den Konsens, dass die Einführung dieser großen neuen Technologie Industrie 4.0 eben keine Verlierer produzieren darf und dass es eine Akzeptanz geben muss, auch zwischen den Sozialpartnern, zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften, wie wir dieses Thema letztendlich organisieren wollen. Es wird nicht gegen den Willen der Menschen funktionieren und wenn Menschen sich ausgeliefert fühlen einem neuen technischen System, dann wird das auch nicht erfolgreich sein.
    Zurheide: Nur: Gibt es diese breite gesellschaftliche Mehrheit? Gibt es überhaupt die Diskussion darüber, oder kommt das einfach so und damit überfällt es die Menschen? Ist das nicht der Eindruck, den viele im Moment haben, dass sie dem ausgeliefert sind?
    "Das Thema Industrie 4.0 ist in den Ministerien bestens aufgehoben"
    Wetzel: Na ja, das wird sicherlich unterschiedlich sein. Wenn in Firmen, wo neue Technologien eingeführt werden, dies ohne große Information und Beteiligung der Belegschaften stattfindet, dann mag das so sein. Wenn es eine Belegschaft ist, wo es keine vernünftigen gewerkschaftlichen Strukturen gibt, dann mag das sein, dass die Menschen überfallen werden. Dort, wo wir sind, wo wir versuchen, als IG Metall die Dinge zu beeinflussen, versuchen wir, auch die Belegschaften zu beteiligen, Informationen transparent werden zu lassen und auch bei den Menschen, die davon betroffen sind, aufzufordern, ihre Ideen und ihre Vorstellungen, wie wir diesen Prozess gestalten können, ... Also da gibt es schon eine Debatte in den Betrieben. Es gibt aber auch eine gesellschaftliche Debatte, zum Beispiel diskutieren wir jetzt sehr intensiv mit der Bundesregierung: Welche Forschungsempfehlungen werden denn gegeben? Und das ist eine wichtige Frage. Interessieren wir uns nur für technische Fragen dieser Digitalisierung? Oder versuchen wir auch, wissenschaftliche Antworten zu finden, wie wir die Arbeit organisieren können, wie wir die Zeitsouveränität der Menschen erhöhen können, wie wir die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben verbessern können und wie wir vielleicht auch die Frage von Gesundheit und Belastungsstrukturen am Arbeitsplatz im Sinne der Beschäftigen organisieren können?
    Zurheide: Haben Sie da genügend Zustimmung innerhalb der Bundesregierung? Nimmt die das wahr? Oder reden wir zu viel über Griechenland?
    Wetzel: Nein. Wir reden zwar sehr viel über Griechenland, aber dieses Thema Industrie 4.0 ist zurzeit in den Ministerien der Bundesregierung bestens aufgehoben. Das ist das Arbeitsministerium, Wirtschaftsministerium und das Forschungsministerium.
    Zurheide: Dann setzen wir darauf, dass die Antworten irgendwann auch kommen, sodass die Menschen wirklich möglicherweise davon profitieren. Herr Wetzel, ich bedanke mich heute Morgen für das Gespräch um 7.28 Uhr. Danke schön!
    Wetzel: Ich auch, danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.