Kinder von Diktaturverbrechern in Argentinien

Mein Vater, der Mörder

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Gedenk- und Protestmarsch 42 Jahre nach dem Militärputsch in Argentinien: Eine Frau hält das Bild eines Opfers der Militärdikatur hoch.
2018 demonstrierten Kinder und Enkelkinder von ehemaligen argentinischen Militärs zum ersten Mal gemeinsam am "Tag der Erinnerung" und forderten Aufklärung. © picture alliance / dpa / Nicolas Villalobos
Von Anne Herrberg · 24.03.2021
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Vor 45 Jahren stürzte das Militär in Argentinien die Regierung Perón. Sieben Jahre lang herrschte ein diktatorisches Regime. Ihm fielen etliche Menschen zum Opfer. Die Kinder ehemaliger Diktaturverbrecher setzen sich nun für eine Aufarbeitung ein.
"Wir sind die Töchter, Söhne, Enkelinnen, Enkel und Verwandten von Völkermördern, die in Argentiniens grausamer Diktatur die Hauptrolle spielten. Wir wurden in diese Familien hineingeboren. Sie sagten uns, was wir über die Welt denken sollten und was darin vor sich ging. Und wir haben daran geglaubt: Bis wir es nicht mehr ertragen konnten, und uns die Wahrheit ins Gesicht sprang.
So beginnt das Manifest des Kollektivs "Historias Desobedientes", Geschichten des Ungehorsams. Es ist der Aufruf, den Pakt des Schweigens zu brechen, der in vielen Familien der Diktaturverbrecher bis heute herrscht.

Als habe es keine Diktatur gegeben

"Ich bin aufgewachsen, ohne überhaupt zu wissen, dass ich während einer Diktatur geboren wurde, oder dass es überhaupt eine Diktatur in Argentinien gegeben hat", sagt Analía Kalinec, eine der Gründerinnen des Kollektivs. Ihr Vater Eduardo Kalinec war Polizeikommissar, ein breitschultriger Mann mit Seitenscheitel und Schnauzbart, der sich um Frau und Kinder sorgte und am Wochenende Grillfeste schmiss. Eine ganz normale Familie, bis im Jahr 2005 die bis dahin geltenden Amnestiegesetze in Argentinien aufgehoben wurden.

"Als er 2005 verhaftet wurde, habe ich gar nichts verstanden. Er sagte, sorgt euch nicht, das ist ein Versehen. Dann hieß es, das ist eine politische Fehde gegen mich. Dann begannen die Diktaturprozesse – und es kamen immer mehr Details über diese Jahre ans Licht. Ich begann, mir Fragen zu stellen. Es begann ein Loyalitätskonflikt. Ich hatte Schuldgefühle, isolierte mich immer mehr, bekam Angstattacken. 2008 las ich erstmals die Aussagen der Opfer – und da stand dann der Namen meines Vaters. Dieser Moment war für mich eine Zäsur."

Ein Pakt des Schweigens

Doktor K nannte sich ihr Vater in den Folterzentren. Er galt als besonders brutal, versetzte den Gefangen Elektroschocks an Genitalien, an Brüsten, im Gesicht, stundenlang. Er ließ Menschen entführen und verschwinden. Die Aussagen der Überlebenden sind dokumentiert, schwarz auf weiß. Kalinec wird 2010 zu lebenslanger Haft verurteilt.
"Mein Vater leugnete vor Gericht alles. Als ich ihn zur Rede stellte, versuchte er, sich zu rechtfertigen. Es sei ein Krieg gewesen, gegen gefährliche Terroristen. Dem ein oder anderen sei eventuell etwas die Hand ausgerutscht. Es habe auf keinen Fall einen systematischen Plan gegeben. Es ist der typische Diskurs. Die Polizisten und Militärs tragen nichts zu Aufklärung bei, dabei bin ich mir sicher, dass auch mein Vater Informationen hat, zum Beispiel über Menschen, die man damals verschleppte und verschwinden ließ. Es herrscht ein Pakt des Schweigens. Ich sage bewusst Polizei und Militär, nicht Ex-Polizisten und -Militärs. Denn die Institutionen haben sich bis heute nicht von ihnen distanziert oder ihnen den Titel entzogen, obwohl sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben."

Proteste gegen Strafnachlass

Als vor vier Jahren das Oberste Gericht in Argentinien urteilt, dass verurteilte Kriminelle unter bestimmten Bedingungen Strafnachlass erhalten, gehen Hunderttausende Menschen auf die Straße. Denn durch dieses Gesetz wären auch Diktaturverbrecher wie Analía Kalinecs Vater aus der Haft entlassen worden.
Analía steht mitten in der Menge. Und sie ist nicht mehr allein. Über das Internet hat sie Liliana Furió kennengelernt, deren Vater, Geheimdienstchef in der Provinz Mendoza, ebenfalls wegen Diktaturverbrechen verurteilt wurde.
"Es ist ein Schmerz, den du mit dir herumträgst: das Kind eines Völkermörders zu sein. Damit waren wir über Jahre allein. Mit der Demonstration gegen das Gesetz erschienen erstmals Artikel und Posts auf Facebook von anderen, die sich offen dagegen aussprachen. Denn damals, unter der rechten Regierung von Mauricio Macri, gab es erstmals seit Jahren wieder Rückschritte in der Menschenrechtspolitik. Einer Politik, die von den Menschenrechtsorganisationen, von den Opfern der Diktatur angestoßen wurde. Sie haben den Weg bereitet – und wir tragen Verantwortung, diesem Weg zu folgen, etwas zu tun für Wahrheit und Gerechtigkeit. So begannen wir, Kontakt aufzunehmen, zuerst waren wir drei, dann sechs, dann 30."

Machismo und Obrigkeitshörigkeit

Heute sind es mehr als 100 Kindern von Tätern, die meisten davon Frauen. Sie erhalten Zuspruch von Menschenrechtsgruppen. Das Netzwerk hat Nachahmer gefunden, in Chile und, wenn auch noch nicht offiziell, in Brasilien. Sie mischen sich ein, erheben ihre Stimme und fordern, als Familienangehörige als Zeugen in Prozessen aussagen zu dürfen, denn bisher ist das in Argentinien nicht möglich. Trotzdem konfrontiert Analía Kalinec ihren Vater vor einem Jahr vor Gericht – als Teil des Kollektivs.
Sie erhebt Einspruch gegen eine Vollzugslockerung, die Eduardo Kalinec gestattet hätte, Ausgang zu haben – und hat Erfolg: Kalinec lasse keinerlei Reue erkennen, so das Gericht. Analia Kalinec erklärt damals mit festem Blick auf den Bildschirm gerichtet, durch den ihr Vater aus dem Gefängnis zugeschaltet ist:
"Ich glaube, ehrwürdige Richter, wenn mein Vater heute einen Elektroschocker hätte, würde er nicht daran zweifeln, ihn an mir anzuwenden."
Zwei ihrer drei Schwestern, die heute selbst als Polizistinnen arbeiten, unterstützen die Position des Vaters nach wie vor. Für Analía ein Grund, weiter zu kämpfen.
"Wir rufen weiter zum Ungehorsam auf, damit sich uns mehr Angehörige anschließen, denn wir sind nach wie vor wenige. Wir geben Zeugnis von den Strukturen und der Kultur, in deren Namen all das geschah: geprägt von Machismo, Obrigkeitshörigkeit, dem Ausschalten jeder Kritik und Andersartigkeit, die zum großen Teil weiter unsere Sicherheitskräfte prägen – und auch viele derer Familien."

Kinder der Täter kämpfen gegen das Vergessen

Heute Mittag, am 45. Jahrestag des Militärputsches von 1976, trifft sich das Kollektiv zu einer Performance in der ESMA, der ehemaligen Mechanikerschule der Kriegsmarine, einst das größte Folterzentrum des Landes, heute Erinnerungsort und Kulturzentrum. Analía und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter rufen wieder einmal auf zum Ungehorsam.

"Wir gehorchen nicht mehr dem Diktat einer einzigen Wahrheit, nicht mehr dem Hass gegenüber denen, die anders denken. Wir gehorchen nicht mehr dem, der Autorität wegen seiner Uniform, Waffe oder dem hohen Dienstgrad verlangt, aber die Würde eines Menschen nicht respektiert. Wir gehorchen nicht dem Gebot der bedingungslosen Liebe gegenüber jenen Familienmitgliedern, die uns angelogen, versteckt und betrogen haben – und Verbrechen gegen die ganze Menschheit begangen haben. Wir halten uns nicht an den Pakt des Schweigens, nicht der Komplizenschaft der Familie. Wir nehmen die Schuld nicht an, ungehorsam zu sein."
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