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Griechenland verliert seinen Nachwuchs

Angesichts eines drohenden Staatsbankrotts sehen viele junge Griechen für sich keine Zukunft mehr in der Heimat. Immer mehr wollen ihr Land verlassen, Griechenland verliert seine klügsten Köpfe.

Von Gunnar Köhne | 22.06.2011
    Auch Irva Chatzitsakou hat sich den"empörten Bürgern" angeschlossen. Fast jeden Tag besucht die 30-Jährige das bunte Protest-Camp auf dem zentralen Athener Syntagma-Platz gleich gegenüber dem griechischen Parlament. Fast mitleidig schauen ihre großen dunklen Augen hinüber zum Parlamentsgebäude. Dort fallen in diesen Tagen Entscheidungen von großer Tragweite für das Überleben Griechenlands. Die arbeitslose Kunsthistorikerin zuckt gleichgültig mit den Schultern:
    "Von den Beschlüssen in diesem Parlament erwarte ich überhaupt nichts mehr. Was immer sie entscheiden, wir werden hier weiter gegen ihre Politik demonstrieren. Denn das ganze System ist verrottet, wir brauchen einen Neuanfang."

    Doch dass der in ihrem Land bald gelingen könnte, daran glaubt Irva nicht mehr. Darum hat sie längst ihre Abreise geplant: Nach dem Sommer wird sie nach Rom gehen, dort hat sie schon einmal für ein Jahr in einer Galerie gearbeitet. Im Kulturbereich wurde zuerst gespart, beklagt sie, öffentliche Unterstützung für Ausstellungen und Kunstprojekte gebe es in Athen so gut wie keine mehr. Darum lebt Irva wieder im Haus ihrer Mutter. Um einen Job zu finden, hat sie alle Tricks probiert:
    "Ich habe zwei verschiedene Lebensläufe für Bewerbungen. Einer ist für Stellen im Kulturbereich. Darin habe ich meine akademische Karriere aufgeschrieben. In meinem zweiten Lebenslauf verschweige ich mein Studium. Den verschicke ich, wenn ich mich um Hilfsjobs und Sekretärinnenstellen bewerbe. Aber das hat bislang auch nichts gebracht. Darum gehe ich jetzt."
    Irva Chatzitsakou steht nicht allein. Sieben von zehn griechischen Hochschulabsolventen überlegen, wegen der Wirtschaftskrise auszuwandern. Das hat eine bereits im vergangenen Herbst erstellte Umfrage der Zeitung "To Vima" ergeben. Die Zahl der Ausreisewilligen dürfte in der Zwischenzeit mit der Jugendarbeitslosigkeit - derzeit bei 40 Prozent - weiter gestiegen sein. Fast die Hälfte der Befragten gab an, dass sie sich im Ausland bereits nach einer Stelle umgesehen hätten. Einhellig äußerten sie auch ihr Misstrauen gegenüber dem Staat und den politischen Parteien.
    Dieses Misstrauen sitzt auch bei der Musiklehrerin Nancy Stergiopoulou tief. Die 27-jährige Athenerin wird im nächsten Monat wieder dorthin zurückkehren, wo sie studiert hat: nach London. Im staatlichen Erziehungssystem hat sie keinen Platz gefunden, für private Musikstunden für ihre Kinder fehlt den meisten Griechen derzeit das Geld. Appelle von Medien und Politikern an die Ausreisewilligen, ihr Heimatland nicht im Stich zu lassen, lassen Stergiopoulou kalt. Was hätte denn ihr Land getan, um die junge Generation zu halten, fragt sie:
    "Zurzeit ist in diesem Land alles so unsicher, dass, selbst wenn du einen Job hast, du nicht sicher sein kannst, ob dein Arbeitgeber im nächsten Monat noch existiert. Dieses Land wird von einer starrköpfigen alten Generation regiert. Warum sollten wir unsere besten Jahre in einem Land vergeuden, dem wir so offensichtlich egal sind?"
    Griechenland drohe intellektuell und professionell auszubluten, warnen Fachleute. Ein Wiederaufbau ohne junge, engagierte Akademiker könne kaum gelingen. Zumal viele der Auswanderer möglicherweise nie zurückkehren werden. Auch Irva, die Kunsthistorikerin, denkt bei Italien nicht an einen vorübergehenden Exodus:
    "Rom ist doch eine wunderbare Stadt. Da kann man auch den Rest seines Lebens verbringen."
    Programmtipp

    "Griechenland in Not" ist auch das Thema heute Abend in der DLF-Sendung "Zur Diskussion", live aus Brüssel, 19.15 - 20.00 Uhr.