Donnerstag, 28. März 2024

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Griechenland zur EU-Kritik
"Kein Land kann das Flüchtlingsproblem allein lösen"

Kommt Athen in der Flüchtlingskrise nicht seinen Pflichten als EU-Mitglied nach? Man rette Menschen, mehr sei nicht machbar, sagte der Syriza-Politiker Giorgos Chondros im DLF. Andere europäische Staaten müssten ihre Politik überdenken.

Giorgos Chondros im Gespräch mit Thielko Grieß | 17.02.2016
    Der griechische Politiker Giorgos Chondros
    Der griechische Politiker Giorgos Chondros (dpa / picture-alliance / Uwe Zucchi)
    Er beobachte die in Europa stärker werdende Tendenz, "internationale oder europäische Probleme zu nationalisieren", so Chondros im Deutschlandfunk. Das könne nicht gelingen und stelle zudem die Zukunft des Projekts Europa "ernsthaft in Frage" und sei nicht zu akzeptieren. Beim morgigen EU-Gipfel in Brüssel müssten sich die Teilnehmer darüber Gedanken machen.
    Der Syriza-Politiker wies Kritik zurück, sein Land akzeptiere keine Hilfe der Europäischen Union. Athen habe beispielsweise 100 Boote der Grenzschutzangentur Frontex verlangt, aber bislang nur 60 erhalten. Griechenland selbst erlebe eine wirtschaftliche Krise und könne nicht mehr tun, als Menschen retten und aufnehmen.
    Kritik an der Türkei
    Chondros warf der Türkei vor, sich nicht an das Abkommen zur Kooperation in der Flüchtlingskrise zu halten. Ankara nehme Flüchtlinge nicht zurück und habe bislang "nichts unternommen, um den Flüchtlingsstrom aufzuhalten".
    Die Diskussion über die sogenannten Hotspots - seit gestern sind vier der fünf auf den griechischen Inseln geplanten Zentren einsatzbereit - nannte Chondros veraltet. Die Hotspots seien die Erfindung einer Politik gewesen, "die nicht mehr relevant ist". In Europa würden "kaum mehr Länder Flüchtlinge aufnehmen".

    Das Interview in voller Länge:
    Thielko Grieß: Hotspots heißen sie, die Registrierungszentren, die in Südeuropa entstehen, in Italien und in Griechenland. Dort in Griechenland sind vier von fünf geplanten Zentren einsatzbereit. Jetzt begrüße ich am Telefon Giorgos Chondros, Mitglied der Parteiführung von Syriza, der Partei von Ministerpräsident Alexis Tsipras. Einen schönen guten Morgen, Herr Chondros.
    Giorgos Chondros: Schönen guten Morgen auch, Herr Grieß.
    Grieß: Warum hat das mit den Hotspots so lange gedauert?
    Chondros: Aus mehreren Gründen. Aber die Diskussion über die Hotspots ist eine veraltete Diskussion, weil wie es auch richtig gerade in Ihrer Reportage gesagt wurde: Die Hotspots waren eine Erfindung einer Politik, die eigentlich nicht mehr relevant ist, weil sie war mit der sogenannten Relocation-Politik verbunden, das heißt mit der Möglichkeit, dass die Flüchtlinge in allen EU-Ländern aufgeteilt werden. Jetzt sind wir in der Situation, dass wenige oder besser gesagt sehr wenige Länder bereit sind, Flüchtlinge wirklich aufzunehmen.
    Grieß: Das mit den Kontingenten hat sich also erledigt. Diese Idee Angela Merkels haben Sie nun gerade begraben und mit Erde überschüttet.
    Chondros: Ja, das stimmt.
    Grieß: Welche fällt Ihnen stattdessen ein?
    Chondros: Uns in Griechenland kann wenig einfallen, weil wir haben folgendes Problem: Wir sind ein Land an der Grenze Europas. Das haben wir nicht ausgewählt, das ist halt so. Und wir sind in den letzten Monaten und im letzten Jahr das Haupttor sozusagen auf dem Weg der Flüchtlinge zu Zentral- und Nordeuropa. Kein Land allein kann dieses Problem lösen.
    Grieß: Sie haben ja auch die Regeln zu Dublin und Schengen mit unterschrieben. Das heißt, Sie sind schon in der Pflicht. Die geografische Lage, die war damals schon dieselbe, als Griechenland diese Dinge mit unterschrieben hat.
    Das Abkommen mit der Türkei funktioniert nicht
    Chondros: Aber es kann kein Mensch wirklich ernsthaft behaupten, dass man die Meeresgrenze Griechenlands zur Türkei in irgendeiner Weise abriegeln kann. Es sind Tausende von Kilometern Küsten. Die Menschen, die auf der anderen Seite sind, sind in Millionenhöhe und bereit, jedes Risiko einzugehen, aus dieser Region ganz einfach zu flüchten. Das Problem muss insgesamt überdacht werden.
    Grieß: Was ja schlecht funktioniert, wenn man sich die vergangenen Monate anschaut. Warum können Sie die Flüchtlinge, die ja aus der Türkei kommen über die Ägäis - die Türkei ist ein sicherer Staat -, warum können Sie die Flüchtlinge nicht zurückschicken?
    Chondros: Weil die Türkei ganz einfach die Flüchtlinge nicht aufnimmt, wenn wir sie zurückschicken.
    Grieß: Aber Sie haben doch ein Abkommen mit der Türkei.
    Chondros: Ja, aber das Abkommen funktioniert eben nicht, und da möchte ich einmal sagen, es wäre wirklich sehr interessant, die Details über dieses Abkommen zwischen EU und Türkei zu erfahren. Wir wissen die Details bis jetzt nicht. Das einzige was wir wissen ist, dass der Türkei Geld und andere Sachen zugesagt worden sind, Visa-Erleichterung und so weiter. Bis jetzt aber erleben wir die Situation, dass von der türkischen Seite absolut nichts unternommen worden ist, um diesen Flüchtlingsstrom aufzuhalten. Ganz im Gegenteil! Wir haben es gesehen, dass am Anfang des Jahres, in diesen eineinhalb Monaten 2016, fast 80.000 Flüchtlinge von der Küste der Türkei nach Griechenland gekommen sind. Das einzige was Griechenland machen kann, auch aufgrund der internationalen Rechtslage, Flüchtlingskonvention und so weiter, ist, diese Menschen erst einmal zu retten und aufzunehmen. Für ein Land wie Griechenland, das selbst in einer tiefen wirtschaftlichen Krise lebt, ist diese Last auch finanziell zu hoch. Ich kann Ihnen sagen, 2015 über sechs Millionen Euro.
    Grieß: Herr Chondros, Sie stellen Griechenland als hilflos dar. Würden Sie Hilfe akzeptieren, wenn die anderen Europäer sagen, wir schicken Grenzer, wir schicken Beamte zu Ihnen nach Griechenland, die machen dann den Job?
    Europäische Probleme werden nationalisiert
    Chondros: Ja, nicht nur akzeptieren. Griechenland hat offiziell schon seit über einem Jahr um Hilfe gebeten. Ich sage Ihnen drei Beispiele. Griechenland hat verlangt Boote zum Beispiel für die Frontex insgesamt, hat bis jetzt ein paar bekommen. Allein diese Scanner, die die Personalien aufnehmen sollen, die sogenannten Eurotax, Griechenland hat 100 verlangt, um diese Arbeit machen zu können; bis jetzt sind nicht mehr wie 60 vorhanden. Ein solcher Apparat kann, wenn er 24 Stunden arbeitet, nicht mehr wie 100 Menschen aufnehmen. Es gibt Tage in Griechenland, wo 10.000 Menschen einreisen.
    Grieß: Herr Chondros, verstehen Sie, dass die Ungeduld wächst in etlichen anderen europäischen Ländern? Es gibt manche, die sagen, wenn das nicht bald funktioniert, und zwar sehr bald, dann fliegt Griechenland aus dem Schengen-Raum.
    Chondros: Das was ich beobachte und auch verstehe, aber nicht akzeptiere, ist, dass allmählich in Europa die Tendenz stärker wird, internationale oder europäische Probleme zu nationalisieren, dass sozusagen der Versuch unternommen wird, auf nationaler Ebene zu lösen. Erstens einmal kann eine solche Lösung keine echte Lösung sein. Und zweitens: Diese Tendenz stellt wirklich die Zukunft der Europäischen Union, die Zukunft dieses gemeinsamen Projektes ernsthaft in Frage. Da müssen sich wirklich die Führungskräfte Europas echte Gedanken machen, und ich bin wirklich sehr gespannt, was jetzt in diesen Tagen, gerade heute und morgen in Brüssel diskutiert und entschieden wird. Wenn einer wirklich glaubt, wenn man die Grenzen zu Mazedonien dicht macht und Griechenland aus dem Schengen-Raum rausnimmt, das Problem gelöst zu haben, ich glaube, er soll etwas mehr in der Geschichte nachschauen.
    Grieß: Giorgos Chondros, Mitglied der Parteiführung von Syriza in Griechenland. Herr Chondros, danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.