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Grönland
Warum Schmelzwasser-Seen so plötzlich verschwinden

Glaziologen haben das Phänomen auf dem grönländischen Inlandeis 2006 zum ersten Mal beobachtet: Mehr als 45 Milliarden Liter eines großen Schmelzwassersees verschwanden in zwei Stunden in der Tiefe. Dahinter stecken kilometerlange Spalten, die das Wasser selbst öffnet. Wie dieser Prozess beginnt, war unklar - bis jetzt.

Von Dagmar Röhrlich | 04.06.2015
    Das Foto zeigt einen einen Fluss, der im Eis eines Gletschers auf Grönland verschwindet.
    Ein Fluss, der im Eis eines Gletschers auf Grönland verschwindet. (picture alliance / dpa / Thomas Nylen)
    Überall auf dem Eispanzer Grönlands bilden sich im Sommer Schmelzwasserseen. Sie sind wenige Meter tief, können jedoch viele Quadratkilometer groß werden. Und manche dieser Seen verschwinden einfach innerhalb weniger Stunden:
    "Wir konnten inzwischen beobachten, wie das Phänomen einsetzt. Bevor es losgeht, steht man auf einem unbeweglichen Block aus einem kilometerdicken Eis, aber sobald der See abfließt, bewegt sich alles. Überall öffnen sich kleine Spalten, man hört das Wasser rauschen und sieht, wie ganze Eisschollen wegsacken. Man hat das Gefühl, auf einem schwimmenden Eisberg zu stehen, nicht auf festen Grund. Das ist schon nervenaufreibend", beschreibt Sarah Das von der Woods Hole Oceanographic Institution.
    Zwischen 2011 und 2013 verfolgten sie und ihre Kollegen das Phänomen dreimal mit einem dichten GPS-Messnetz. Es interessiert die Forscher nicht nur, weil es so spektakulär ist, sondern auch, weil das abfließende Wasser die Bewegung des Inlandeises beschleunigt:
    "Generell wirkt das Schmelzwasser, das im Sommer über Gletschermühlen, Spalten oder auch auslaufende Seen das Bett des Inlandeises erreicht, wie ein Schmiermittel. Es kann die Fließgeschwindigkeit gegenüber der im Winter verdoppeln oder verdreifachen."
    Seegrund hebt sich Stunden vor dem Abfließen
    Abfließende Seen sind bislang nur am Rand des Inlandeises beobachtet worden. Ein einzelner See hat dabei keinen großen Effekt: Die schmierende Wirkung des Wassers verliert sich schnell, bleibt lokal begrenzt. Allerdings fürchten viele Forscher, dass sich das Phänomen verstärken und mit steigenden Sommertemperaturen auf das Innere des Eisschilds ausdehnen könnte - in Bereiche, in denen aktuell noch keine große Bewegung gemessen wird. Deshalb musste die Ursache für das Verschwinden der Seen entschlüsselt werden.
    "Wir wussten nicht, was diese Brüche im Eis auslöst, denn eigentlich dürfte es sie gar nicht geben. Die Seen entstehen dort, wo das Eis in Senken fließt, aber dabei wird es regelrecht zusammengedrückt. Für die Bildung von Spalten ist das eigentlich nicht die beste Umgebung", erklärt Laura Stevens vom Massachusetts Institute of Technology in Woods Hole.
    Die GPS-Messungen verraten nun, dass sich ein Teil des Seegrunds schon sechs bis zwölf Stunden vor dem Abfließen zu heben beginnt: "Bevor der See abfließt, muss also schon Wasser nach unten strömen. Es sammelt sich am Grund an und drückt das Eis darüber hoch: Es entsteht eine Aufwölbung, die von ersten Rissen durchzogen wird. Sobald ein Riss die Oberfläche unter dem See erreicht, beginnt das Wasser zu strömen. Es bahnt sich - ähnlich wie beim Fracking - den Weg bis zum Untergrund, und der Abfluss beginnt."
    Senkrechte Höhlen im Eis
    Das Schmelzwasser, das die erste Hebung auslöst, stammt jedoch nicht aus dem See, sondern es fließt irgendwo in der Nähe an einer Gletschermühle nach unten: Diese senkrechten Höhlen bilden sich im Eis, wo es über Erhebungen im Gelände strömt und sich dehnt. Dieses Wasser, das am Untergrund von außen zufließt, setzt also den ganzen Prozess in Gang.
    Sarah Das: "Dieser Mechanismus, der die Seen so schnell abfließen lässt, dürfte im Inneren des Inlandeises kaum funktionieren. Zwar beschleunigt sich die Schmelzwasserbildung im Sommer auch dort, aber wir erwarten nicht, dass dieses Phänomen auftreten wird."
    Denn der Eispanzer im Inneren Grönlands ist mächtiger. Durch die hohe Auflast werden die unteren Eisschichten zähflüssig, die Topografie des Untergrunds beeinflusst die Eisoberfläche deshalb kaum. Die ist flacher, es bilden sich weniger Spalten. Weniger Spalten bedeuten weniger Möglichkeiten für das Schmelzwasser, in die Tiefe zu strömen - und damit fehlt der Auslöser, der sozusagen den Stöpsel zieht.