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Grollen über Tunguska

30. Juni 1908. Über Irkutsk wölbt sich ein wolkenloser Morgenhimmel. Plötzlich schießt eine Feuerkugel flach über die Stadt hinweg. Knallend und knatternd verschwindet sie nach Nordwesten. Sie fliegt über die Taiga, bis sie Vanovara erreicht, eine kleine Handelsstation am Fluß Podkamennaya Tunguska, der "Steinigen Tunguska".

Von Dagmar Röhrlich | 22.06.2008
Um 7:16 Uhr spaltet ein greller Blitz den Himmel. Donnerschlag folgt auf Donnerschlag. In Vanovara bersten die Fenster, Menschen werden zu Boden geschleudert, Hirtenhunde und Rentiere verbrennen zu Asche. In einem Gebiet, so groß wie das Saarland, werden 80 Millionen Bäume entwurzelt, entastet, geknickt.

Was damals ein großes Waldgebiet in Russland verwüstete, gibt bis heute Anlass zu heftigen Spekulationen. Die Erklärungsversuche reichen vom explodierten Raumschiff über eine Kollision mit einem Kometen bis hin zu einem Überschall-Gasausbruch aus der größten Kohlelagerstätte der Welt. Doch was wissen wir heute wirklich, 100 Jahre nach den seltsamen Ereignissen von Tunguska?

Am 30. Juni 1908 gegen sieben Uhr morgens werden die Menschen in Zentralasien und Sibirien Zeugen eines ungewöhnlichen Ereignisses: Über Irkutsk schießt eine Feuerkugel flach hinweg, durchpflügt den wolkenlosen Morgenhimmel. Knallend und knatternd verschwindet sie nach Nordwesten. Hunderte von Kilometern fliegt sie über die Taiga, bis Wanawara, eine kleine Handelsstation am Fluss Podkamennaya Tunguska, der "Steinigen Tunguska". Dort dreht die Kugel nach Norden. Plötzlich spaltet ein greller Blitz den Himmel. Es wird blendendhell. Feuersäulen steigen auf. Ein Hitzeschwall rollt über die Taiga hinweg, Donnerschlag folgt auf Donnerschlag. In einem Gebiet, so groß wie das Saarland, werden 80 Millionen Bäume entwurzelt, entastet, geknickt.

"In der näheren Umgebung des Geschehens lebten nur wenige Augenzeugen. Die erzählen davon, dass die Hitze ihnen das Hemd in den Körper brannte, dass Metall schmolz, dass die Fenster zerbarsten und Verschläge einstürzten."

Das alte Physikalische Institut der Universität Bologna ist ein ehrwürdiges Gebäude mit verwinkelten Gängen, hohen Räumen und einem beeindruckenden Treppenhaus. Hier hat Giuseppe Longo sein kleines Büro, immer noch, trotz seiner 79 Jahre. Eine Urkunde an der Wand sticht ins Auge. Für seine Verdienste hat ihm die Internationale Astronomische Union den Asteroiden 5948 Longo verehrt. Der Kernphysiker kümmert sich seit 1991 ausschließlich um Tunguska – doch viel ist es nicht, worauf er seine Arbeit stützen kann.

"Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, sind die Auswirkungen dieses Ereignisses auf den Wald von Tunguska."

1908 fällte eine Explosion den Wald rund um die Steinige Tunguska – eine Explosion, die keine anderen Spuren hinterlassen zu haben scheint als Millionen toter Bäume. Anhand der Ausrichtung der gefällten Stämme wurde das Epizentrum rekonstruiert. Es lag mitten in der Taiga, Tagesmärsche von der nächsten Straße und hunderte Kilometer von einer größeren Stadt entfernt:

"Heute denken wir, dass damals ein kosmischer Körper in großer Höhe über Tunguska explodiert ist. Ich sagte, wir denken, weil bislang kein sichtbares Teilchen dieses Körpers gefunden worden ist, der dort so hoch oben explodiert sein soll."

Die gängige wissenschaftliche Meinung geht davon aus, dass ein 60 Meter großer steinerner Asteroid in acht Kilometern Höhe zerstäubte. Oder eine Flottille von Asteroidenbruchstücken. Es könnte aber auch ein 80 Meter großer Komet gewesen sein, der in 40 Kilometern Höhe verdampfte. Und dann gibt es da noch die "erdgebundenen" Theorien: dass es sich um einen gewaltigen Ausbruch aus einer Erdgaslagerstätte handelte oder um eine ungewöhnliche Form von Vulkanismus – oder um ein UFO. Der Mangel an Spuren lässt viel Raum für Spekulationen.

"Die erste Expedition machte sich erst 20 Jahre nach den Ereignissen auf, denn die Gegend, wo dieses Himmelsobjekt verschwand, war schwer zu erreichen – und ist es noch bis heute."

Das Waldgebiet von Tunguska liegt acht bis neun Monate im Jahr unter Schnee und Eis, und in den kurzen Sommern stechen die Mücken. Man muss schon sehr fasziniert sein, um dorthin zu reisen. Doch Longo liebt Russland. Er studierte in Moskau und lehrte dort, ehe er Mitte der 60er Jahre nach Italien zurückkehrte. Dann schickte ihm 1991 ein Kollege ein Stück Fichte aus Tunguska. Im Holz der Bäume, die die Explosion überlebt hatten, könnte die Lösung stecken, hieß es in dem Begleitschreiben. Und: wie wäre es mit einer Expedition?

"Bis 1990 durften keine Ausländer nach Tunguska, weil man dorthin nur mit dem Flugzeug über Tomsk oder Krasnojarsk kam und das Zentren der Atomwaffenproduktion waren."

Erst mit Gorbatschows Perestroijka öffneten die Russen das Gebiet, und seitdem pilgern Forscher aus aller Welt an den entlegenen Ort.

"Heute kommt man mit dem Helikopter nach Tunguska, aber 1908 musste man von einer Stadt namens Wanawara laufen. Stadt ist vielleicht etwas übertrieben: Dort lebten Nomaden, Fischer und ein paar Pelzjäger, die Felle verkauften."

Von Wanawara sind es etwa 65 Kilometer bis zur Podkamennaya Tunguska: durch einen schier endlosen Wald und ein Moor, das sieben Meter tief werden kann:

"Wie läuft es sich auf so einem Sumpf? Das geht, weil der Permafrost in ein, anderthalb Metern Tiefe verhindert, dass man versinkt. Man läuft über eine dicke Vegetationsdecke und sinkt dabei bis zu den Knien oder manchmal auch bis zur Taille ein, aber nicht tiefer."

Bei ihrer ersten Expedition 1991 kämpften sich die italienischen Forscher mit ihren russischen Kollegen zu Fuß durch die Taiga. Sie wurden nass, die Mücken stachen, und wenn sie die reißenden Flüsse überqueren mussten, balancierten sie ihre Hosen samt Ausrüstung auf dem Kopf. Bei ihrer dritten Expedition sollte sehr viel mehr Technik zum Einsatz kommen, so dass sie einen Helikopter nahmen, eine Mil Mi-26, ein Ungeheuer von einem Hubschrauber, der mehr schleppen kann als jeder andere. In ihn passten zehn Tonnen Ausrüstung und 30 Wissenschaftler und Techniker. Ziel war der Tscheko-See, acht Kilometer vom Epizentrum entfernt. Da der Helikopter dort nicht landen konnte, musste er schwebend entladen und Wochen später auch wieder beladen werden:

"Die Rotorblätter maßen 30 Meter und drehten sich rasend schnell. Wir mussten unser Gepäck mit Netzen sichern und während des Manövers unter den Rotoren bleiben, sonst hätte uns die Wucht des Luftzugs umgeworfen. Ein Kollege meinte nachher, dass er am liebsten aufgesprungen und weggelaufen wäre, und mir ging es wie ihm."

Am 30. Juni 1908, um 7:16 Uhr Ortszeit zeichneten Seismometer in Irkutsk und Uppsala die Wellen der Erschütterung auf. Auch anderswo sollen Messgeräte angeschlagen haben – leider sind viele Aufzeichnungen verloren gegangen. Doch es gibt Augenzeugenberichte: Noch in mehr als 500 Kilometern Entfernung soll ein Feuerschein den Himmel erhellt haben. Nomaden erzählten, wie der Sturm ihre Hütten vernichtet, Bäume wie mit einer Riesenschere gekappt, andere geknickt oder samt Wurzel aus dem Boden gerissen hatte. Hirtenhunde und Rentiere waren verbrannt. Noch 65 Kilometer entfernt sollen Menschen durch die Luft geschleudert worden sein wie Spielzeuge.

Das Inferno lässt sich in Atombomben-Einheiten "messen": Neueste Computersimulationen gehen von der 100fachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe aus, die "klassischen" Berechnungen sogar von der 1000-fachen. Ein bis zu 60 Meter großer steinerner Asteroid könnte so verheerend wirken, wenn er ein paar Kilometer über dem Boden auf dichtere Luftschichten träfe. Er würde zerbersten, seine Trümmer verdampfen – und nichts bliebe als heiße Luft. Aber verschwinden Tonnen von Gestein wirklich spurlos? 1999 machte sich die Gruppe um Giuseppe Longo auf, um im Tscheko-See nach Beweisen für den Airburst zu suchen. Der Fluss Kimchu fließt durch den See und Longo hoffte, die Strömung habe aus dem ganzen Einzugsgebiet Staubteilchen der Katastrophe angeschleppt und im See angereichert.

"Mit dem Einschlag selbst sollte der Tscheko-See nichts zu tun haben, davon waren russische Geologen überzeugt. Weil sein Boden mit mindestens 70 Metern Sediment bedeckt ist, gingen sie davon aus, dass der See 5000 Jahre alt ist, mindestens."

Von einem Boot aus zogen die Italiener Bohrkerne, die Überraschendes enthüllten: Nur der oberste Meter Sediment bestand aus fein laminierten Schichten, die sich Jahr für Jahr abgelagert hatten – und sie reichten genau bis ins Jahr 1908 zurück. Darunter herrschte Chaos. Ungewöhnlich war auch das seismische Bild des Seebodens. "Verräterisch", urteilte Giuseppe Longo – und stellte eine neue Hypothese auf:

"Im seismischen Profil des Sees erkennen wir einen Reflektionshorizont. Wir glauben deshalb, dass der Tscheko-See der Krater des Tunguska-Ereignisses ist. Dieser Horizont wäre dann unser Einschlagskörper oder – falls es doch ein Komet war – der Horizont, der durch ihn zusammengepresst wurde. Das Ereignis von Tunguska ist immer als Explosion eines kosmischen Einschlagskörpers in etwa acht Kilometern Höhe über dem Boden beschrieben worden. Wir glauben nun, dass dieser Einschlagskörper in der Atmosphäre in mehrere Teile zerbrach wie der Komet Shoemaker-Levy 9, dessen Bruchstücke im Sommer 1994 in den Planeten Jupiter rasten."

Der kosmische Eindringling zerplatzte demnach in der Erdatmosphäre, dann zerbarst das erste und größte Stück über dem Epizentrum zu Staub:

"Unserer Meinung nach spielte in Tunguska neben dem Hauptkörper noch ein zweites, etwa ein Meter großes Fragment eine wichtige Rolle. Es muss durch das Zerbersten des Hauptkörpers abgebremst worden und langsamer weitergeflogen sein."

Longo ist überzeugt: Es schoss acht Kilometer über das Epizentrum hinaus und schlug am Fluss Kimchu ein. Der heutige Lake Tscheko ist der lang gesuchte Krater:

"Heute fließt dieser Fluss in den Tscheko-See hinein und verlässt ihn direkt daneben wieder. Das ist ungewöhnlich. Wir glauben deshalb, dass der Kimchu zuvor an der Einschlagsstelle eine Schleife geformt hat und deshalb bis heute auf kurze Distanz in den See hinein- und wieder hinaus fließt."

Nur: Ein klassischer Einschlagskrater ist von einem Ring aus ausgeworfenem Material umgeben. Der Tscheko-See hat keinen solchen Ring. Das ist einer der Kritikpunkte, die an dieser Idee geäußert werden. Für Giuseppe Longo greift sie nicht. Schließlich schlug das Trümmerstück nicht auf hartem Stein, sondern in sehr weichem Sumpfboden ein, mit Permafrost darunter. Es sei einfach im Untergrund verschwunden.

1927 – 19 Jahre nach dem Ereignis – bricht der Petrograder Mineraloge Leonid Alexejewitsch Kulik mit der ersten wissenschaftlichen Expedition nach Tunguska auf. Er glaubt fest daran, einen wertvollen Meteoriten aus Eisen und Nickel zu finden. Zu seiner Überraschung gibt es vor Ort nichts als zerstörte Bäume. In den nächsten Sommern reist Kulik immer wieder in die Taiga. Er befragt Zeugen, lässt einen See trockenlegen, in dem er statt eines Asteroiden einen Baumstumpf findet, lässt mit Luftbildern den Schaden dokumentieren. Der Große Vaterländische Krieg unterbricht Kuliks Arbeit. Die Theorie vom Kratersee Tscheko schlägt in der Szene hohe Wellen. In Fachzeitschriften erscheinen Artikel und Gegenartikel. Auf die Idee angesprochen, geben Wissenschaftler gerne Kommentare. So hält Lars Franzén, ein Geograph von der Universität Göteborg den Tscheko-See lediglich für das Resultat von tauendem Permafrost. Auch er war in Tunguska, mit einer anderen Expedition.

"Ich suche in Hochmooren nach absolut runden Eisenkügelchen, von denen wir wissen, dass sie nur in Schmelzen entstehen."

Solche Kügelchen bilden sich bei heftigen Vulkanausbrüchen, vor allem aber, wenn kosmische Partikel in die Erdatmosphäre eintauchen und bis auf das widerstandsfähige Eisen verglühen. Tatsächlich fand Franzén ein paar Eisenkügelchen mehr als erwartet. Das, erklärt er, spreche für eine kosmische Ursache. Allerdings kämen so massive Körper wie Asteroiden nicht in Frage, die hätten sehr viel mehr Material hinterlassen müssen. Und so favorisiert Franzén eine andere Ursache:

War es ein Komet, eine Art schmutziger Schneeball mit wenig festem Material darin? Tatsächlich steht die Kometenhypothese auf ähnlich wackeligen Füßen wie die Asteroidenhypothese. Denn beide stützen sich auf geochemische Indizien: etwa auf Spuren von Eisen oder im Harz der alten Bäume eingeschlossene Staubteilchen. Und da gibt es ein grundlegendes Problem, erklärt Romano Serra von der Universität Bologna:

"Wenn man Tunguska verstehen will, steht man vor der Schwierigkeit, dass es sich bei der Gegend dort um einen uralten Vulkan handelt."

Einen ganz besonderen Paläovulkan, dessen Lava von tief unten aus dem Erdinneren kam. Er ist entstanden, als sich vor 250 Millionen Jahren in Sibirien ein so genannter Mantelplume bis zur Oberfläche durchgefressen hat. Das ist ultraheißes Material, das wie ein Schneidbrenner aus Tausenden von Kilometern Tiefe nach oben steigt. Und hin und wieder ist es im Lauf der Erdgeschichte dann an langen Spalten als Flutbasalte ausgebrochen. Genau das ist damals in Sibirien passiert, und noch heute bedeckt dieser Basalt als anderthalb Kilometer dicke Decke ein Gebiet, so groß wie Westeuropa. Es war die größte Eruption aller Zeiten, und genau in die hinein brach der Paläovulkan von Tunguska aus:

"Wir befinden uns in einem uralten Vulkan und sehen rund um uns Basalte von identischer Zusammensetzung wie viele Meteoriten und Asteroiden sie haben. In einem solchen Umfeld lässt sich nur schwer feststellen, was terrestrisch ist und was nicht. Wenn man in einem Paläovulkan nach kosmischen Körpern sucht, das ist, als ob man in einer Diskothek ausgefeilte akustische Untersuchungen machen wollte."

Hätte sich das Tunguska-Ereignis über Sankt Petersburg abgespielt, wären Hunderttausende von Menschen gestorben - und trotzdem kann noch niemand den Finger auf einen Stapel Beweise legen und sagen: So war es. Das reizt Forscher, alternative Lösungen zu suchen.

"Vor allen Dingen die italienische Gruppe, aber auch russische Gruppen haben chemische Elementhäufigkeiten und Isotopenhäufigkeiten untersucht. Alles geschah immer in der Erwartung, dass es ein Meteorit war, und deshalb waren die Überschriften dieser Arbeiten "Chemische Beschaffenheit des meteoritischen Körpers". Aber wenn man den Text las, dann stand da, die geringfügigen Anomalien, die man gefunden hat, passen sehr gut zu irdischen vulkanischen Phänomen."

Es gibt viele Ungereimtheiten, erklärt der Bonner Astrophysiker Wolfgang Kundt. Dazu zählt er die ungewöhnlichen Leuchterscheinungen, aber auch, dass die Bäume im Zentrum der Explosion nicht verbrannt sind. Und selbst das Fallmuster der Bäume ist ungewöhnlich und will nicht zu einer Explosion in großer Höhe passen:

"Die Bäume fallen alle radial von dem Zentrum über Entfernungen von bis zu 35 Kilometer, die Druckwellen sind wahrscheinlich den Tälern gefolgt. Wenn es ein flach einfallender Meteorit gewesen wäre, der hätte ein paralleles Baumfallmuster gemacht und nicht ein radiales."

Unter den Basalten soll eine große Erdgaslagerstätte stecken. Deshalb ist Wolfgang Kundt davon überzeugt: es war eine Methanexplosion.

"Die Hauptzerstörung kam dadurch zustande, dass etwa zehn Megatonnen an Gas in weniger als einer Minute ausgeströmt sind. Es gab also einen gewaltigen Überdruck, der dann ein Sturmgebiet angeregt hat, das nach allen Seiten davonfliegt. Methan ist in Form eines Pilzes in große Höhen geschossen. Bei Atomexplosionen gehen diese Pilze bis in etwa 30 Kilometer Höhe, hier waren es 200 Kilometer."

Wie Kundt glaubt auch der Geologe Vladimir Epifanov vom Sibirischen Forschungsinstitut für Geologie, Geophysik und Minerale in Novosibirsk an eine Methanexplosion. Er schreibt, dass die lokale Erdbebenwarte schon Tage vor dem Ereignis Beben registriert habe. Das soll das Erdgas gewesen sein, das über die Förderschlote des uralten Vulkans hoch drängte. Seine These: Zunächst strömte der Methanstrahl unbemerkt aus dem Boden, dann erreichte er die Ionosphäre und eine elektrische Entladung entzündete ihn. Wie bei einer Zündschnur fraß sich das Feuer die Gasspur entlang zurück. In fünf Kilometern Höhe reichte der Sauerstoff für eine Explosion. Die schlug – immer dem Gas folgend – bis auf den Boden durch und verschloss mit ihrer Wucht die Öffnung wieder.

"Der Grund, warum ich an das Erdgas glaube, ist, dass es in Zusammenhang mit Tunguska die vier hellen Nächte gab, wo man um Mitternacht noch Zeitung lesen konnte durch gestreutes Sonnenlicht. Um das zu bewirken, braucht man Streuer in einer Höhe von über 500 Kilometer, wo normalerweise überhaupt keine Wolken sind."

Und die unverbrannten Bäume am Epizentrum? Kundt meint, sie erklären zu können: Sie standen genau über den Gasaustritten, sagt er. Wo das Erdgas in die Luft schoss, gewann es urplötzlich an Raum, es dekomprimierte. Dadurch entstand ein starker Unterdruck, der die Bäume gefrieren ließ – und sie so vor den Flammen schützte.

12. Februar 1947. Im sibirischen Sikhote-Alin-Gebirge rast ein 100 Tonnen schwerer Eisenmeteorit als Feuerkugel über den Himmel, zerplatzt und regnet in tausend Stücken auf die Erde. 120 Krater entstehen. Der Sikhote-Alin-Meteorit zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Für Tunguska dagegen interessieren sich von nun an vor allem Schriftsteller und Anhänger diverser Ufo-Theorien.

Tunguska und Sikhote-Alin: Im Abstand von knapp 40 Jahren zwei große Einschläge in Sibirien – ein Zufall. Doch wie oft kann sich so etwas realistischerweise wiederholen? Wenn man einer russischen Forscherin glaubt, immer wieder. In Tunguska hatte sie in 250 Millionen Jahre alten Sandsteinen geschockte Quarze gefunden, die gemeinhin als Indizien für einen Einschlag gelten. Also, so schließt sie, gab es vor 250 Millionen Jahren schon einmal einen Asteroideneinschlag. 1908 dann hätte ein zweiter Asteroid genau dieselbe Stelle getroffen.

"Für mich ist das ein bisschen viel Zufall, da müssten die Aliens da draußen schon sehr gut zielen können. Ich glaube, es wäre sehr viel wahrscheinlicher, wenn es diesen von der Forscherin angenommenen 250 Millionen Jahre alten Einschlag gar nicht gibt, sondern wenn diese ganzen Ereignisse in Sibirien in irgendeiner Form zusammenhängen."

Zwar glaubt Jason Phipps-Morgan nicht an die Interpretation seiner russischen Kollegin, aber die 250 Millionen Jahre alten geschockten Quarze, die sie gefunden hatte, ließen ihn aufhorchen. Woher kamen sie? Wenn sie nicht bei einem Asteroiden-Einschlag entstanden waren, wie dann? 250 Millionen Jahre vor heute, das war auch die Zeit, als in Sibirien der größte Vulkanausbruch der Erdgeschichte lief. Könnte es einen Prozess geben, energiereicher als alles, was wir kennen, ein Prozess, der mit diesem Vulkanausbruch in Verbindung steht - und geschockte Quarze erzeugt? Inzwischen hat der Geophysiker von der Cornell University in Ithaka New York einen Vorschlag: Er nennt ihn Verne-Shot, nach seinem Lieblingsautor Jules Verne.

"Ich habe die Hypothese von den Verne-Shots entwickelt. Sie beschreibt ein besonderes vulkanisches Phänomen, das dann auftritt, wenn unter einem uralten, starren Kontinentkern wie Sibirien ein Mantel-Plume aufsteigt. Ein solcher Plume bleibt manchmal in der Erdkruste stecken und beginnt durch seine Hitze das Gestein zu schmelzen. Ein kohlendioxidreiches Magma entsteht. Die Schmelze kann das gelöste Gas nicht halten. Der Druck steigt ins Unermessliche, bis die alte, starke Kontinentkruste mit einem richtig großen Knall bricht. Das Entscheidende dabei: Es entsteht eine schmale Röhre, fast wie ein Strohhalm, durch die das Gas entweicht. Kaum ist es fort, fällt die Röhre wieder in sich zusammen. Dabei prallen die Gesteine mit Geschwindigkeiten schneller als der Schall aufeinander. Die Kräfte, die frei werden, reichen aus, um geschockte Quarze entstehen zu lassen, etwas, das wir sonst nur von Asteroideneinschlägen kennen."

Ein Verne-Shot wäre ein enorm energiereicher Mechanismus, sehr viel energiereicher als alle Vulkanausbrüche, die die Menschheit jemals beobachtet hat. Und der Verne-Shot von Tunguska vor 250 Millionen Jahren wäre Teil des Flutbasaltausbruchs, bei dem aus langen Spalten in Sibirien genügend Lava strömte, um den gesamten Planeten mit einer 30 Zentimeter dicken Schicht zu überziehen. Und die Ereignisse von 1908? Sie wären nicht mehr als ein Bäuerchen, bei dem vulkanische Gase die alte Schwächezone nutzten. Nun hofft Jason Phipps-Morgan, mit Hilfe der Schockquarze von Tunguska seine Verne-Shot-Hypothese zu beweisen. Das hätte Bedeutung für die gesamte Geologie, schließlich könnte sie ein altes Problem lösen:

"Ich möchte herausfinden, ob die Verne-Shots erklären, warum mehrfach in der Erdgeschichte der Ausbruch von Flutbasalten gleichzeitig mit Einschlagssignalen und Massenaussterben auftritt. Ich schlage vor, dass sich sehr selten bei einem Flutbasaltausbruch in vielen Kilometern Tiefe so viel Kohlendioxid sammelt, dass es mit einer gewaltigen Explosion die Erdkruste durchbricht – und dass deshalb Einschlagssignale gleichzeitig mit Massenaussterben und Flutbasalten auftreten."

Wann immer in der Erdgeschichte Flutbasalte und Einschlagsindizien gleichzeitig zu finden sind, geriet das Leben in eine Krise, und zahllose Arten verschwanden. Unter anderem soll das vor 250 Millionen Jahren passiert sein, als über Tunguska die Lava sprudelte, vor 200 Millionen Jahren wieder und natürlich bei dem berühmten Verschwinden der Saurier vor 65 Millionen Jahren. Und immer sollen Asteroiden in bereits laufende Flutbasaltausbrüche gestürzt sein.

"Vor 250 Millionen Jahren brachen die sibirischen Flutbasalte über einen kurzen Zeitraum aus. Wie wahrscheinlich ist es, dass genau dann ein Asteroid einschlägt? Wie wahrscheinlich ist es, dass sich das im Lauf der Erdgeschichte wiederholt? Für mich spielen die Verne-Shots bei den Massenaussterben die zentrale Rolle. Sie sind Teil der Flutbasaltausbrüche, die das System Erde aus den Angeln heben, setzen selbst in kürzester Zeit ungeheure Mengen an Kohlendioxid und anderen Gasen frei – und weil sie sehr viel energiereicher sind als jede normale Eruption, täuschen sie auch die Einschlagsindizien vor."

Die Verne-Shots könnten einiges klären – falls es sie gibt:

"Die Verne-Shots sind bislang nur eine Hypothese, die ich nachweisen möchte. In Tunguska ginge das sehr gut, weil die 250 Millionen Jahre alten Sandsteine dort an ein paar Stellen an der Oberfläche liegen. Aber leider ist es schwer, Proben aus Russland zu bekommen, und es ist fast noch schwieriger, an Fördergelder zu kommen für eine Expedition, bei der es um etwas geht, das normalerweise weniger mit Wissenschaft verknüpft ist als mit Aliens und Pyramiden."

Auch die Wissenschaftler aus Bologna kämpfen mit der Finanzierung einer Expedition, mit der sie ihre Theorie vom Lake Tscheko als Einschlagskrater beweisen wollen. Dazu müssten sie 100 Meter tief in den Boden bohren:

"Eigentlich wollten wir in diesem Juli wieder hin, aber uns fehlt das Geld. Weil wieder alles Gerät mit einem einzigen Helikopter herangeschleppt werden soll und wir uns für die Arbeit in dem schwierigen Sumpfgebiet eine industrielle Bohrplattform leihen müssten, dürfte es sehr teuer werden. Wir versuchen derzeit, Sponsoren für Juli 2009 zu finden. Wenn wir einen ersten großen Finanzier haben, werden wir den Rest schon zusammenbekommen."

Zum 100. Jahrestag am 30. Juni werden wohl mehr UFO-Anhänger und Verschwörungstheoretiker an die Steinige Tunguska pilgern als sonst. Vielleicht kommen auch die Japaner wieder. Sie hatten schon einmal eine Sommernacht lang auf einen großen Samurai gewartet, in der Hoffnung, dass er mit einem Kugelblitz auf die Erde zurückkehrt. Nicht weit vom Ort des Geschehens entfernt, in Krasnojarsk, werden zur gleichen Zeit Wissenschaftler ihre jüngsten Erkenntnisse austauschen. Sie werden über Einschlagskrater debattieren, über Erdgasexplosionen und über Verne-Shots. Und man kann davon ausgehen, dass sie auch in diesem Jahr keine Lösung präsentieren werden.

Tunguska ist ein Rätsel – heute genau wie vor 100 Jahren. Wüsste man nicht genau, dass etwas passiert ist, man könnte Tunguska für eine Schimäre halten.