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Groß und lesbisch

Mit einem abgetrennten Frauenkopf in einer bunten Plastiktüte irrt ein drogenabhängiger Pianist durch Krakau. Der Kopf landet in einem Beichtstuhl, der Musiker wird später in Berlin niedergeschlagen. Er verliert sein Gedächtnis und taucht als Klavierspieler ohne Vergangenheit in der Boulevardpresse auf.

Von Patrick van Odijk | 28.11.2007
    Ein verbittertes Ehepaar am Bodensee meint auf dem Foto ihren verschollenen Sohn wieder zu erkennen. Er war 17 Jahre zuvor nicht vom Klavierunterricht nach Hause gekommen. Das ist eine gelungene Eröffnung für einen Krimi und von Ulrich Ritzel sind wir gewohnt, dass seine Geschichten einen wahren Kern haben.

    "Wahr an der Geschichte ist, dass jemand aufgegriffen wird, der eine umfassende Amnesie erlitten hat, das gibt es, auch dass so eine Amnesie nur vorgetäuscht ist. Das Milieu, die Leute, die sich an der Kleinstadt am See einfinden, die gibt es auch in einer ziemlichen Häufung am Bodensee. "

    Genau gesagt in der Gegend von Friedrichshafen. In dem fiktiven Örtchen Aeschenbronn werden jetzt 17 Jahre nach dem Verschwinden des Klavierschülers böse Erinnerungen wach. Und dazu tauchen Drogenhändler und Neonazis auf und fordern die Provinzpolizisten heraus. Und außerdem die Kommissarin Tamar Wegenast die tatsächlich mit allem zu tun. Mit dem Frauenkopf in Krakau, dem Klavierspieler und den Neonazis. Mit den Drogenhändlern, Albanern und dubiosen Polizeidirektoren. Dieses harte Aufeinandertreffen der unterschiedlichsten Figuren und ihrer Verstrickungen - auch das kennt man von Ulrich Ritzel.

    "Überlegen sie sich irgendeine Geschichte aus ihrem Leben. Wer da alles mitmischt, reinpfuscht, am Rand auftaucht und doch nicht nur eine Randfigur ist. Das Leben hat die fatale Wirkung auszuufern. Es ist ganz selten ein Kammerspiel. "

    Ulrich Ritzel war 35 Jahre lang Lokaljournalist in vielen Städten, darunter auch in Friedrichshafen. Er war engagiert und investigativ. Weil er die Zwänge des modernen Tagesjournalismus nicht mehr aushielt, kündigte er und begann Kriminalromane zu schreiben. Seinen Anspruch hat er beibehalten.

    "Wenn sie wissen wollen wie es in einer Gesellschaft zugeht, müssen sie unter die Oberfläche schauen, sie müssen das tun was der Held in einem Kriminalroman auch tut: Er hebt den Teppich hoch, unter den die Dinge gekehrt sind und er frisst das Gras ab, das drüber wachsen soll, sozusagen das Kamel des allgemeinen Wohlbefindens. "

    Ulrich Ritzel hat viel erlebt, recherchiert und nachgedacht. Das alles fließt in seine Romane. Als vor neun Jahren sein erster Krimi, "Der Schatten des Schwans", erscheint, wird er von den Krimifans und von den Feuilletons hochgelobt. Es ist nicht nur der literarische Stil, seine Figuren und die Authentizität seiner Milieus, die alle so beeindrucken. Es ist vor allem das Engagement, mit der Ritzel über die seiner Meinung nach ziemlich unheile Welt der Bundesrepublik schreibt.

    "Schreiben ist für mich die Möglichkeit, das aufzuräumen, was in meinem Kopf rumort und das festzuhalten, was mir in meinem Leben begegnet. "

    Ritzel verwebte Kriegserinnerungen als Kind mit einem Justizskandal um einen Naziarzt der mit Psychopharmaka in der Bundesrepublik Karriere machte. Er enttarnte schwäbische Amigogeschäfte und beschrieb die Vertreibung verfemter Sinti aus einem Dorf der schwäbischen Alb. Er thematisierte die RAF-Zeit und zeigte die Bedrohung durch neue rechte Gespenster. Er entlarvte Kleinstadtmief, Provinzdenken und die Grotesken der Bürokratie. Er zeigte die skrupellose Machtbesessenheit von Politik und Wirtschaft.

    "Wenn sie nach meinem Thema fragen, ist das Thema die Bundesrepublik unserer Zeit, mit den Leuten die auf die eine oder andere Weise von Zeitströmen, von politischen Strömungen betroffen sind, die sich auf irgendeine Weise durch dieses Leben schlagen. "

    "Ein Kriminalroman", sagt Ritzel, "ist immer auch ein politischer Roman." Dennoch sei er kein Weltverbesserer.

    "Um Gottes Willen nein, die Welt wird gerade auf mich gewartet haben, um verbessert zu werden, also da bin ich völlig frei von Illusionen. Die Welt ist auf ihr Gleis gesetzt und wohin das führt wissen wir nicht. Die Ansicht, dass wir als Autor da etwas verändern oder bewirken können, das ist lächerlich. "

    Zu Recht gehört Ulrich Ritzel heute zu den besten deutschen Krimiautoren. Seine
    ersten vier Romane setzten Maßstäbe. Neben seinen guten Plots ist seine Sprache literarischer als die der meisten Kriminalromanautoren und er ist ein guter Beobachter und Erzähler.

    Aber in seinem neuen Roman "Forellenquintett" gelingt ihm Vieles nicht, was ihn sonst auszeichnet. Nur noch ein paar seiner Figuren und das Milieu und Ambiente am Bodensee wirken authentisch. Viel zu vage bleiben die Motive und Triebfedern wichtiger Figuren beispielsweise der Drogenmafia und der neuen rechten Szene. Die Verstrickung unterschiedlichster Personen und Schicksale zu einem packenden und schlüssigem Kriminalfall, das gelang Ulrich Ritzel früher leicht und überzeugend. Beim Forellenquintett wirkt vieles konstruiert und gewollt.

    Das größte Manko ist aber der fehlende Hauptkommissar Berndorf. Was für eine beeindruckende Hauptfigur. Ein schwäbischer Maigret, ein Zweifler und dennoch hartnäckiger Ermittler. Ein Schachspieler und Literaturfreund, der gegen seine Melancholieanfälle Montaigne, Lichtenberg und Johann Peter Hebels Kalendergeschichten liest. Vier Romane lang hat er die Ermittlungen geleitet. Als Leser folgte man ihm gespannt um der Geschichte auf den Grund zu gehen.

    "Ich habe mit und über Berndorff vier Romane geschrieben. Das sind schätzungsweise etwas über 1500 Seiten und danach hat er es eigentlich verdient, dass ich ihn in Ruhe lasse und ich habe es verdient, dass ich mich mal für etwas anderes interessiere. "

    Berndorfs Nachfolgerin Tamar Wegenast ist vor allem groß und lesbisch. Obwohl wir auch noch mehr über sie erfahren, bleibt sie farblos, antriebslos, harmlos. Der Krimi braucht sie nicht. Man kann verstehen, dass Ritzel nach vier Romanen und fast 1500 Seiten mit seiner Hauptfigur Berndorff mal etwas anderes ausprobieren wollte.

    Aber "Never change an Winning Team" sagt man im Sport und darauf verlassen sich auch die Meisten seiner Krimikollegen. Für uns Leser und Ritzelfans wäre es schön, wenn Hauptkommissar Berndorf wiederkäme.

    "Dass sich unsere Wege getrennt haben, das war notwendig, um wieder neugierig aufeinander zu werden. Mal gucken, mal gucken, ich hab da grad was ihn Arbeit, mal schauen ob es da auch einen Job für ihn gibt. "