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Großbritannien
"Cameron ist ein Gefangener"

David Cameron ist bei seinem Nein zu einem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker geblieben. Davon war der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees schon am Mittag im DLF ausgegangen. Er sagte, der Premierminister verteidige die Europapolitik anderer. Mit einem "Brexit" - einem EU-Austritt Großbritanniens - sei zu rechnen.

Anthony Glees im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 27.06.2014
    David Cameron zwischen den Flaggen Großbritanniens und der EU.
    Vielleicht wird David Cameron jetzt ein britischer de Gaulle werden. (dpa/EPA/Julien Warnand)
    Dirk-Oliver Heckmann: Bisher galt ja immer, der Präsident der EU-Kommission und mit ihm das gesamte europäische Spitzenpersonal wird im großen Konsens zwischen den Regierungschefs bestimmt – nach dem Motto: Bekommst Du den Posten, bekomme ich den anderen. Das hat sich aber gründlich geändert, seit nämlich das Europäische Parlament bei der Personalie kräftig mitmischt. Der britische Premier David Cameron hat sich auch heute noch einmal eindeutig gegen Jean-Claude Juncker, den siegreichen Spitzenkandidaten der europäischen Christdemokraten, ausgesprochen. Obwohl er weiß, dass er unterliegen wird, will er auf eine formelle Abstimmung bestehen. Nachdem die Staats- und Regierungschefs gestern der Opfer des Ersten Weltkrieges gedachten, unterzeichneten sie heute Vormittag aber erst mal Assoziierungsabkommen, unter anderem mit der Ukraine.
    Der strikte Kurs von David Cameron, bisher hat er damit bei den Wählern zuhause punkten können. Aber das Blatt scheint, sich langsam zu wenden.
    Telefonisch zugeschaltet ist uns jetzt Anthony Glees, Politikwissenschaftler an der Universität Buckingham. Schönen guten Tag, Herr Glees!
    Anthony Glees: Guten Tag!
    Heckmann: David Cameron steht ziemlich alleine da in seiner Ablehnung von Jean-Claude Juncker. Nur Ungarns Regierungschef Viktor Orban steht an seiner Seite. Hat sich Cameron also verspekuliert?
    Glees: Man könnte das mit Jein beantworten. Was wahr ist, ist, dass Cameron europapolitisch sehr schwach ist. Was auch wahr ist, dass seine Europapolitik immer mehr von den Euroskeptikern – das sind die Leute, die eigentlich aus der Europäischen Union heraustreten wollen, die 100 Tory-Hinterbänkler der UKIP, die als Gewinner der Europawahl mit 28 Prozent herausgekommen sind, und natürlich auch die Leute im Europäischen Parlament, die Tories, die von Daniel Hannan geleitet sind, ein Mann, von dem eigentlich kein Mensch gehört hat, aber der sehr, sehr wichtig ist -, alle diese Leute machen die Europapolitik, die Cameron jetzt verteidigt. Aber daraus soll man nicht schließen, dass die Schwäche, die man in der Europapolitik sieht, einfach sich übersetzen lässt in eine Schwäche in der britischen Politik. Genau das Gegenteil! Und man soll auch nicht schließen, dass Juncker damit der richtige Mann ist, und das, was Cameron sagt, Blödsinn sei. Ich glaube mit Cameron, dass Juncker wohl nicht die richtige Figur ist.
    Heckmann: Weshalb ist er auch aus ihrer Sicht nicht der richtige Mann?
    Glees: Aus meiner Sicht ist er nicht richtig, weil er gerade das verkörpert, was die EU nicht nur in Großbritannien, sondern überall in der Europäischen Union an Missstimmigkeiten zubereitet hat. Die Europawahlen - ich weiß: In Deutschland ist das eine andere Geschichte, aber wenn wir mal nach Frankreich blicken: Die englische Krankheit - und es ist eine englische Krankheit, nicht eine britische Krankheit -, die englische Krankheit hat auch Frankreich angesteckt und wird auch andere Länder, wie wir sehen, mit dem, was Orban auch sagt, anstecken. Also es wäre viel besser, einen reinen Tisch zu haben mit jemand, Mann oder Frau, von der nächsten, neueren, jüngeren Generation, und ich glaube, die anderen Chefs, Regierungschefs in der Europäischen Union hätten das auch getan, wenn sie sich nicht von Cameron erpresst gefühlt hätten. Aber wie gesagt: Das, was ihm in Europa schwächer gibt, macht ihn stärker in Großbritannien. Aber er ist noch der Gefangene von diesen Leuten in Großbritannien, und das kann letzten Endes bedeuten, wenn Juncker jetzt gewählt wird, dass der Austritt Großbritanniens näher, erheblich näher rücken wird.
    Heckmann: Auf diesen Punkt kommen wir gleich sicherlich noch mal. Aber zunächst mal noch zu der Schwäche von Camerons Europapolitik, wie Sie es gerade formuliert haben. Hat Cameron möglicherweise die Signale aus Berlin und aus Rom falsch verstanden? Da wurde ja ursprünglich auch Skepsis gegenüber Juncker ausgedrückt.
    Glees: Wissen Sie, es wird von David Cameron gesagt, dass er kein guter Zuhörer ist. Er hat immer geglaubt, dass Frau Merkel seine beste Freundin eigentlich in der Welt sei und dass sie nie ihn irgendwie genieren würde und kompromittieren würde, dass das deutsch-britische Verhältnis so stark ist, dass es Unstimmigkeiten in der Europapolitik überrumpeln würde. Da hat er falsch kalkuliert, weil er nicht richtig zugehört hat, und er hat auch natürlich andere Probleme, nicht nur das UKIP-Problem in Großbritannien. Sein Pressechef seit vielen Jahren, Coulson, ist am Dienstag verurteilt worden, für schweres kriminelles Vorgehen verurteilt worden, und Camerons Position ist eine krisenhafte Position. Auch mit Syrien, da kam er auch nicht durch. Für ihn ist die Wahl von Juncker eine Rettung, innenpolitisch, und das hätte Frau Merkel auch besser merken müssen.
    Heckmann: David Cameron besteht ja auf einer Abstimmung heute auf dem Gipfel, und er kann sich ja ausrechnen, dass er da unterliegen wird bei dieser Abstimmung.
    Glees: Genau.
    Heckmann: Weshalb fügt er sich selbst diese Niederlage zu? Denken Sie wirklich, dass er aus dieser Niederlage einen Erfolg machen kann?
    Glees: Ja, auf alle Fälle. Für David Cameron ist wichtig, dass er Premierminister bleibt, und ich glaube, persönlich will Cameron, dass Großbritannien in der Europäischen Union bleiben soll. Die alte Ehe ist aus, das haben Sie schon mehrmals gesagt. Die alte Ehe für Großbritannien ist aus. Vielleicht wird David Cameron jetzt ein britischer de Gaulle werden. Vielleicht werden wir einen leeren Sitz in Brüssel von Großbritannien sehen, wenn Juncker gewählt wird. Aber innenpolitisch wird Cameron eher dadurch gestärkt.
    Die schlimme Seite dazu ist, dass Großbritannien dann dem "Brexit", dem Austritt aus der Europäischen Union nähertritt, obwohl alle vernünftigen Leute wissen, dass wirtschaftlich und politisch in einer Welt, die immer gefährlicher wird, es überhaupt keinen Sinn hat.
    Heckmann: In der Personalfrage wird sich Cameron nicht durchsetzen können. Dafür wird er umso heftiger für einen Rückbau der Europäischen Union werben und diesen auch einfordern. Wenn diese Reformen nicht kommen sollten, nicht ausreichend aus seiner Sicht, ist es dann denkbar, dass Cameron ein Nein empfiehlt bei der kommenden Volksabstimmung?
    Glees: Ich glaube, das ist sehr wahrscheinlich jetzt, mit einer Wahrscheinlichkeit, die an Sicherheit grenzen wird, denn Cameron ist ein Gefangener. Er ist Gefangener von UKIP, Gefangener von den 100 Tories aus seinen Hinterbänken. Und wenn Cameron nicht ein Nein sagen wird, dann werden die Tories einen anderen finden, der für sie dieses Nein sagen wird, und das versteht Cameron ziemlich gut. Aber wissen Sie, eine Europäische Union ohne Großbritannien, das könnte vielleicht gehen. Aber eine Europäische Union mit Großbritannien, das ist doch viel, viel besser und viel, viel wünschenswerter für alle, auch für die Briten.
    Heckmann: Wir gehen davon aus, dass es zu diesem Referendum natürlich kommt. Das ist ja angekündigt und auch versprochen. Sie gehen davon aus, dass Cameron für ein Nein plädieren wird, wenn das sich jetzt so entwickelt, wie wir das alle erwarten können. Wie ist denn die Stimmung in Großbritannien heute? Würden die Briten dann tatsächlich für einen Ausstieg stimmen?
    Glees: Es ist möglich. Die Meinungsumfragen beweisen, dass immer noch eine knappe Mehrheit, zehn Prozent, für ein Verbleiben, allerdings ein Verbleiben in einer reformierten Europäischen Union da ist. Aber wissen Sie, sie haben die Medien, besonders den "Telegraph", die Murdoch-Presse, die tagtäglich gegen die Europäische Union kämpfen. Man hat das, man hat ein kühles Verhalten vom BBC, und wir lesen die ganze Zeit in den Zeitungen von der Krise in der Euro-Zone. Für viele Briten ist auch die Einwanderungsfrage eine europäische Frage, obwohl die Einwanderer, die die Probleme in Großbritannien machen, kommen gar nicht aus der Europäischen Union. Und wenn man diese Sachen zum Beispiel mit dem Verhalten des englischen Fußball-Teams beim World Cup vergleicht, kann man schon mit einem "Brexit" rechnen, ja.
    Heckmann: Okay! Herzlichen Dank für das Gespräch - der Politikwissenschaftler Anthony Glees war das. Schönen Dank und schönen Tag.
    Glees: Gerne! – Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.