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Großbritannien
"Der Anfang vom Ende von Mays politischer Karriere"

Das Abschneiden der Tories bei der Unterhaus-Wahl geht nach Einschätzung des Journalisten Jeremy Cliffe auf die Person Theresa May zurück. Sie habe im Wahlkampf unsicher und roboterhaft gewirkt, sagte er im Dlf. Er hält weitere Neuwahlen für möglich.

Jeremy Cliffe im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 08.06.2017
    Premierministerin Theresa May und ihr Ehemann Philip am Morgen nach der Unterhauswahl in London.
    Premierministerin Theresa May und ihr Ehemann Philip am Morgen nach der Unterhauswahl in London. (AFP/Ben Stansall)
    Tobias Armbrüster: Am Telefon begrüße ich Jeremy Cliffe. Er ist seit wenigen Wochen Berliner Büroleiter der britischen politischen Wochenzeitschrift "The Economist". Schönen guten Abend, Herr Cliffe.
    Jeremy Cliffe: Guten Abend.
    Armbrüster: Herr Cliffe, wie überraschend ist das alles?
    Cliffe: Erstaunlich überraschend. Man muss betonen, dass das nur eine Prognose ist, aber man kann auch erwähnen, dass diese Prognosen normalerweise sehr zuverlässig sind. 2015 haben sie die Tories ein wenig unterschätzt, aber das war beeindruckend richtig und zuverlässig damals und es ist wahrscheinlich, dass diese Prognose das wahre Bild ziemlich gut wiederspiegelt. Und auch wenn die Tories noch einmal ein bisschen unterschätzt worden sind, ist das eine totale Katastrophe für Theresa May, und meiner Meinung nach ist es wahrscheinlich oder fast bestimmt der Anfang des Endes von ihrer politischen Karriere. Auch wenn sie ein paar mehr Sitze bekommt, als diese Prognose sagt, und vielleicht eine kleine Mehrheit gewinnt, wird sie wahrscheinlich nicht sehr lange ihren Job behalten. Diese Entscheidung, die Neuwahlen anzukündigen, war immer sehr umstritten, auch in der eigenen Partei, und man ging einfach davon aus, dass sie eine riesige Mehrheit bekommen würde und dass es sich deswegen lohnen würde. Offenbar, wenn die Wahlforscher sich nicht vollkommen verrechnet haben, wird sie so eine Mehrheit nicht gewinnen und in dem Sinne ist es bestimmt ein Desaster für sie.
    "Sie wirkte roboterhaft"
    Armbrüster: Kann man denn sagen, welche Fehler sie gemacht hat bei der Ausrufung dieser Neuwahl?
    Cliffe: Es ist wahrscheinlich zu früh, um ganz klar zu sein. Das ist ein sehr überraschendes Ergebnis. Jeremy Corbyn, ihr Herausforderer, stammt vom ganz linken Flügel der Labour-Partei. Er war bis vor zwei Jahren, als er überraschend Labour-Vorsitzender wurde, fast vollkommen unbekannt. Seine Beliebtheitswerte bis zum Anfang dieses Wahlkampfs waren schrecklich. Was er genau richtig gemacht hat und was Theresa May falsch gemacht hat, ist noch nicht ganz klar. Aber ich würde sagen, dass sie keinen guten, keinen beeindruckenden Wahlkampf geführt hat. Sie wirkte immer nervös, hatte nicht den Eindruck gegeben, dass sie von sich selbst überzeugt war, war auch roboterhaft. Man hat angefangen, sie den "Maybot", den May-Roboter zu nennen, und ich glaube, das zeigt, dass sie keinen guten Eindruck in diesem Wahlkampf abgegeben hat. Aber fast keiner hätte gedacht, dass das zu so einem Ergebnis führen könnte.
    "Sehe nicht, wie diese Verhandlungen jetzt beginnen können"
    Armbrüster: Herr Cliffe, wir können zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, wie eine künftige oder die künftige britische Regierung aussehen wird. Dazu ist es tatsächlich noch zu früh. Aber wenn es tatsächlich bleiben sollte bei einer deutlich geschwächten Konservativen Partei, möglicherweise einer Konservativen Partei, die sich einen Koalitionspartner suchen müsste, was würde das denn heißen für Europa und konkret für die Verhandlungen Großbritanniens mit der Europäischen Union in Sachen Brexit?
    Cliffe: Ja, diese Verhandlungen müssen innerhalb von nur wenigen Tagen anfangen, und wer eigentlich Premierminister oder Premierministerin sein wird und die Macht haben wird, diese Verhandlungen fortzusetzen, ist überhaupt nicht klar. Die einzige Koalitionsmöglichkeit für Theresa May, wenn sie wirklich keine Mehrheit bekommt, wäre mit den Liberaldemokraten, wie es damals David Cameron gemacht hat. Aber sie haben diese Möglichkeit ausgeschlossen. Es ist durchaus möglich, dass, wenn diese Prognose stimmt, es weitere Neuwahlen geben wird, und das wird noch ein paar Monate dauern. Im Moment, wenn diese Prognose stimmt, sehe ich nicht, wie diese Verhandlungen jetzt beginnen können, und das ist vor allem für Großbritannien schlecht, weil wir nur zwei Jahre für diese Verhandlungen haben laut des Artikels 50 vom Lissabon-Vertrag. Es kommt auch darauf an, ob die anderen Regierungschefs Europas bereit sind, vielleicht ein bisschen mehr Zeit zu erlauben, oder diesen Prozess zu verlängern, aber es ist immer noch sehr früh und schwer zu sagen.
    Armbrüster: … sagt hier bei uns live im Deutschlandfunk Jeremy Cliffe, der Berliner Büroleiter der politischen britischen Wochenzeitschrift "The Economist". Vielen Dank, Herr Cliffe, für Ihre Einschätzungen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.