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Großbritannien
Stolz, souverän und bald ohne Lockdown

Befreit von den Fesseln der EU hat Boris Johnson die Briten auf eine eigene Corona-Achterbahnfahrt geschickt. Mit den meisten Toten in Europa, dem erfolgreichsten europäischen Impfprogramm und wieder den meisten Infektionen. Dennoch hebt er den Lockdown auf – stolz auf die Souveränität seines Landes.

Von Christine Heuer | 02.07.2021
Ein vom britischen Parlament veröffentlichtes Foto zeigt den britischen Premierminister Boris Johnson bei den wöchentlichen Fragen des Premierministers (PMQs) im Unterhaus.
Premierminister Boris Johnson verweist unermüdlich auf den Erfolg des britischen Impfprogramms (AFP / Jessica Taylor)
Jedes Jahr im Juni feiern Briten den "One Britain – One Nation Day", den "Ein Britannien – Eine Nation-Tag". Jedes Jahr wird dafür eigens ein Kinderlied komponiert. Jedes Jahr führt eine Schulklasse es auf. Und das war es dann. Aber dieses Jahr hat die konservative Regierung in London die Kampagne gleichsam gekapert. Der Bildungsminister verfügte, 2021 solle das Lied in allen Schulen des Landes gesungen werden.
Nicht wenige im Königreich fühlten sich bei so viel kindlichem Patriotismus an nordkoreanische Verhältnisse erinnert. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon hielt das Ganze zuerst für eine Parodie. Doch wenn es um die Nation geht, versteht die Regierung in London keinen Spaß. Sogar in der Pandemie pocht Boris Johnson auf die neue britische Souveränität. Befreit von den Fesseln der EU hat er sein Land auf eine ganz eigene Corona-Achterbahnfahrt geschickt. Mit den meisten Toten in Europa, dem erfolgreichsten europäischen Impfprogramm. Und nun wieder mit den höchsten Infektionszahlen.

Spott und unangenehme Fragen

Auf LBC verspottet Radiomoderator James O’Brien Boris Johnson fast jeden Tag. Hier ätzt er darüber, dass England Indien wegen eines geplanten Besuchs des Premiers in Neu-Delhi viel zu spät auf die Rote Einreiseliste setzte:
"Großbritannien hat die fünfthöchste Corona-Rate in der Welt. Und diese lästigen Ausländer sagen, dass wir nicht in ihre Länder fliegen können, um in den örtlichen Nachtclubs gegenseitig unsere Gesichter abzulecken. Das sind keine guten Nachrichten. Und all das nur, weil Boris Johnson nach Indien fliegen und einen neuen potemkinschen Handelsvertrag vorzeigen wollte."
Eine Entscheidung, unter der längst auch die EU-Staaten leiden, in denen sich die Delta-Variante ebenfalls ausbreitet. Die deutsche Bundeskanzlerin ist "not amused". Bei ihrer Kurzvisite auf Johnsons Landsitz Chequers könnte Angela Merkel dem britischen Premierminister unangenehme Fragen stellen. Zum Beispiel, was er zu tun gedenkt, damit die Delta-Welle in seinem Land den Kontinent in diesem Sommer nicht als Tsunami überrollt. Johnson würde wahrscheinlich mit seinem erfolgreichen Impfprogramm antworten. So wie er es eigentlich immer macht.
Britischer Premierminister Boris Johnson
England und die Delta Variante
In Großbritannien, das schon aus dem Gröbsten raus war, explodieren die Corona-Zahlen wieder. Schuld daran sei Premierminister Boris Johnson, der sich weigerte, Indien auf die rote Liste seiner Einreisebeschränkungen zu setzen, kommentiert Christine Heuer. Die Zeche zahle nun die Bevölkerung.
Er wird gefragt, warum sein Gesundheitsminister zurückgetreten ist, und er sagt: Das Impfen läuft gut. Er wird gefragt, ob er Matt Hancock in Wahrheit gefeuert hat. Und seine Antwort ist: Das Impfen läuft gut. Er wurde gefragt, was nach Dienstag kommt. Und seine Antwort war: Das Impfen läuft gut. Und schließlich fragte ihn jemand, was die Hauptstadt von Peru ist. Und seine Antwort war: Das Impfen läuft gut.

Der Lockdown soll bald aufgehoben werden

Tatsächlich hat das britische Impfprogramm die Infektionszahl von der Zahl sterbender oder klinisch behandelter Covid-Patienten entkoppelt. Zuletzt wurden fast 30.000 Neuinfizierte gemeldet, aber die Todesfälle liegen noch im niedrigen zweistelligen Bereich, die Krankenhäuser sind nicht überlastet. Das oberste Ziel aller Pandemiebekämpfung haben die Briten also erreicht. Und damit soll es nun auch gut sein, finden sie in Downing Street.
Auch wenn im Königreich längst nicht alle und in der nahen EU noch weniger Menschen geimpft sind: In gut zwei Wochen läutet den Engländern die Freiheitsglocke. Dann wird der Lockdown komplett aufgehoben, wohl inklusive Masken- und Abstandspflicht. Auch Zehntausende Fans in Fußballstadien sind dann kein Aufreger mehr. Jeder kann zu Massenveranstaltungen gehen, vermutlich ohne Coronatest.
Der stets rational agierenden deutschen Bundeskanzlerin muss all das ein Graus sein. Man wäre gerne Mäuschen bei ihrem Gespräch mit Boris Johnson. Offiziell geht es in der Unterredung um aktuelle politische Themen und die Bewältigung der Corona-Pandemie. Vielleicht pfeift Johnson Merkel auch das Kinderlied "Ein Britannien, eine Nation" vor. Moderator James O’Brien hat die patriotische Botschaft seiner Regierung vorsichtshalber bereits verinnerlicht. In Erwartung, dass sie alle Radiostationen anweist, dieses Lied jeden Morgen zu Beginn jedes Programms zu spielen, "fange ich schon mal damit an. Von nun an beginne ich jede meiner Sendungen damit."

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