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Grossbritannien vor der Wahl
Meinungsforscher tappen im Dunkeln

In 100 Tagen wird in Großbritannien gewählt. Ob David Cameron Premierminister bleibt ist unklar - so wie fast alles andere auch. Selten war eine Unterhauswahl so offen - was vor allem daran liegt, dass sich die politische Landschaft auf der Insel grundlegend gewandelt hat.

Von Jochen Spengler | 27.01.2015
    David Cameron zwischen den Flaggen Großbritanniens und der EU.
    David Camerons Amtsbonus sei nicht besonders hoch, so ein Wahlforscher. (dpa/EPA/Julien Warnand)
    Ob BBC, ITV, Channel 4 oder Sky – am 7. Mai dürften sich die britischen Fernsehanstalten wie gewohnt mit Hochrechnungen und Analysen übertreffen.
    Und doch dürfte es sehr viel spannender werden als vor fünf Jahren, weil es so knapp und unvorhersehbar werden könnte, wie seit Jahrzehnten nicht:
    "Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung."
    "Ich glaub nicht, dass es jemand allein schafft, es wird wohl wieder eine Koalition geben."
    "Wer - keine Ahnung."
    Doch nicht nur die Normalbürger, auch die britischen Meinungsforscher sind unschlüssig. Das Bekenntnis des Yougov-Chefs Peter Kellner gestern vor der versammelten Auslandspresse war schon entwaffnend hilflos; er mache das jetzt seit 45 Jahren "und ich war noch nie so unsicher. Ich habe schon mal falsch gelegen, aber ich war mir noch nie so wenig gewiss drei Monate vor einer Wahl wie jetzt."
    Keine absolute Mehrheit für die Großen
    Peter Kellner sieht die regierenden Tories von Premier David Cameron leicht vor der oppositionellen Labour-Partei. Beide Großen aber würden klar die früher übliche absolute Mehrheit verfehlen, die bei 326 Sitzen erreicht wäre. Wie es scheint, muss sich Großbritannien trotz seines Mehrheitswahlrechts an ungewohnt unklare Machtverhältnisse, Koalitionen oder Minderheitsregierungen gewöhnen.
    "Diese Wahl wird sehr spannend und knapp. Und ich glaube, die Chance, dass wir ein Parlament ohne klare Mehrheit bekommen, liegt bei 80 Prozent. Wenn nicht etwas Unerwartetes geschieht, gibt es nur eine sehr geringe Chance für eine absolute Mehrheit."
    Denn Camerons Amtsbonus sei nicht besonders hoch, der Vorsprung seiner Tories nicht entscheidend. Allerdings werde es der von vielen als linkisch empfundene Ed Miliband mit seiner Labour-Partei auch nicht zur absoluten Mehrheit schaffen, jedenfalls solange eine eherne Regel der Vergangenheit gültig bleibe:
    "Du kannst Wahlen gewinnen, auch wenn Deine Popularitätswerte schlecht sind. Und Du kannst Wahlen gewinnen, wenn Dir wenig Wirtschaftskompetenz zugebilligt wird. Aber Du kannst nicht gewinnen, wenn es an beidem mangelt. Und momentan liegt Labour bei beiden Kriterien zurück."
    Ed Miliband beim Parteitag der Labour-Party.
    Labour-Chef Ed Miliband hofft bei einer Fernsehdebatte mit Premierminister David Cameron punkten zu können. (AFP/Leon NEal)
    Während David Cameron deshalb versucht, mit dem Wirtschaftsaufschwung zu punkten, hofft Ed Miliband auf eine Fernsehdebatte mit Cameron, in der er als Außenseiter nur gewinnen könne. Doch der Premier ist unwillig und hat seine Teilnahme davon abhängig gemacht, dass neben den kleineren Liberalen und der rechtspopulistischen UKIP auch die Grünen eingeladen werden. Inzwischen haben die Fernsehsender eingelenkt und zwei Debatten mit sogar sieben Parteichefs vorgeschlagen –notfalls ohne Cameron. Der juxt:
    "Ich freue mich, dass die Anstalten noch mal nachgedacht haben und jetzt sogar mit mehr kleineren Parteien daherkommen, als ich im Kopf hatte … Aber wir machen Fortschritte und ich bin sicher, sie wissen, was sie tun."
    Endgültig zugesagt hat Cameron noch nicht, so dass auch nicht klar ist, ob das dritte geplante TV-Duell, allein zwischen ihm und Miliband, stattfinden wird.
    "Also diese sieben Zwerge in einer Fernseh- Runde", meint Peter Kellner, "das wird schwer genießbar sein und wenig Einfluss haben. Aber wenn es in der dritten Debatte zum Schlagabtausch allein zwischen Cameron und Miliband kommen sollte, kann das schon entscheidend sein."
    Zersplittertes Parteiengebilde
    Noch aber ist völlig offen, ob nach der Wahl eine Minderheitsregierung oder eine Koalition steht, da aus dem stabilen britischen Zwei- oder Dreiparteiensystem heute ein zersplittertes Gebilde von sieben und mehr Parteien geworden ist. Kellner traut der EU-feindlichen UKIP vielleicht fünf und den Grünen gerade ein Mandat zu, so dass beide nicht zum Zünglein an der Waage taugen.
    Doch auch die Liberaldemokraten würden nur noch auf rund 30 Mandate kommen; das reiche nicht, um wie bislang mit den Konservativen eine Regierung zu bilden.
    Vielleicht aber komme es zu einem Bündnis aus Labour, LibDems und den vielleicht 23 Abgeordneten der Schottischen Nationalpartei. Wenn überhaupt, dann vermutlich nur kurz, meint Peter Kellner – bis zu möglichen Neuwahlen spätestens im kommenden Jahr.