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Großbritannien
Wie der Brexit spaltet

Je länger sich der Brexit hinzieht, desto aggressiver geht es auch auf den Straßen zu. Am Wochenende demonstrierten eine Million Menschen gegen den EU-Austritt. Befürworter des Ausstiegs heizten am Rande die Stimmung an. Und die Abgeordneten konnten das Parlament nur unter Polizeischutz verlassen.

Von Christine Heuer | 21.10.2019
Protestierende gegen den Brexit nehmen an einer Kundgebung in der Innenstadt von London teil.
Protestierende gegen den Brexit nehmen an einer Kundgebung in der Innenstadt von London teil (dpa / Sputnik / Justin Griffiths-Williams)
Eine Million Menschen rufen den Schlachtruf, mit dem sie seit Jahren für ein zweites Referendum demonstrieren: Das Volk soll entscheiden über den Brexit! Jetzt! Über ihren Köpfen wehen blaue Europa-Flaggen mit gelben Sternen. Die Stimmung ist fröhlich und hoffnungstrunken.
Mit "Save us, Johnson!"-Rufen ziehen am Rande der wogenden Menge Gruppen von Brexiteers entlang. Die Demonstranten gehen ihnen auf die Nerven. Das Volk hat doch schon entschieden. 2016 hat es für den EU-Austritt gestimmt. Und der, bitte schön, soll jetzt endlich kommen. Parliament Square ist seit Langem das Schlachtfeld, auf dem sich Briten für und gegen den EU-Austritt Scharmützel liefern. Am "Super Saturday" ist die Stimmung besonders aufgeheizt.
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"Wir sitzen doch alle im selben Boot"
Gelegentlich kommen die politischen Kontrahenten doch miteinander ins Gespräch. Aber oft erweist es sich rasch als fruchtlos.
"Wir sitzen doch alle im selben Boot, wir wollen alle eine gute Zukunft. Aber sie töten unsere Babies. Die brauchen auch eine Zukunft!"
97 Prozent der Gesundheitsausgaben, davon ist dieser Mann überzeugt, flössen in Abtreibungen. Schuld daran: Die Europa-Freunde da drüben auf dem Versammlungsplatz, die Verräter. Eine freundliche Dame im roten Regen-Cape drückt eleganter aus, was sie an den Demonstranten stört:
"Die Mehrheit der Menschen hier und heute sind traurigerweise mehr europäisch als sie britisch sind."
Jeder hat seine Wahrheit
Ein paar Meter weiter versucht, eine ältere Dame einen älteren Herrn vom Sinn der EU-Mitgliedschaft zu überzeugen. Die Sache geht schief. Als er ihr das mitgebrachte Pro-Europa-Schild aus der Hand winden will, greift ein Polizist ein.
"Packen Sie nicht nach dem Schild. Hören Sie, hören Sie! - greifen Sie nicht anderer Leuten Schildern, ok?"
Und alle, alle sind sie davon überzeugt, die Mehrheit der Bürger auf ihrer Seite zu haben.
"Diese Leute hier – die sind nur ein Bruchteil. Die meisten Leute, die ich kenne, die ursprünglich für die EU gestimmt haben, sind jetzt für den Brexit. Die sagen, wenn es eine neue Abstimmung gibt, würden wir für den Austritt stimmen."
"Das Land hat sich verändert, es hat sich bewegt. Es ist jetzt ein Remain-Land. Und sie müssen auf uns hören da drinnen."
"Das Parlament ist ein einziger Sauhaufen"
Da drinnen: Damit meint sie das Unterhaus, 100 Meter weiter die Straße runter. Und wirklich stimmen die Abgeordneten in dieser Minute dafür, den Brexit zu verschieben, bis Boris Johnsons New Deal juristisch wasserfest ist. Eine Million Demonstranten im Freudentaumel: Die Brexiteers am Rande der Demo sind Kummer gewöhnt. Immer wieder ist ihr Brexit verschoben worden. Nun hoffen sie, dass es nur ein letztes Aufbäumen vor dem Durchbruch ist. Boris Johnson ist ihr Held. Aber vom Parlament halten sie herzlich wenig.
"Das Parlament ist ein einziger Sauhaufen. Sie stimmen einfach nicht so ab, wie ihre Wähler es wollen. Ein absoluter Sauhaufen."
Was es heißen kann, wenn Bürger erst einmal so über Politiker denken, das erfahren prominente Tories beim Verlassen des Parlamentsgebäudes am eigenen Leib. Dutzende wütende Menschen beschimpfen sie lautstark. Man kann die Herren in den dunklen Anzügen kaum mehr sehen, so viele Polizisten in neongrünen Westen umringen sie zu ihrem Schutz. Eine Ministerin, die diesen Schutz auch benötigt, gibt anschließend zu Protokoll, sie habe Angst gehabt.