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Großer Philosoph der Aufklärung

Die Romantiker auf der Suche nach einem Leben nach natürlichen Vorgaben; die Mitglieder des Bürgertums, die nach Rechtstaat und Demokratie verlangten; und später dann die Sozialisten - alle priesen Jean-Jacques Rousseau als ihren Meister. Als Universalgelehrter griff er in seinen Schriften die unterschiedlichsten Themen und Tendenzen auf und wurde darüber zu einer zentralen Figur des 18. Jahrhunderts. Rousseau starb am 2. Juli 1778.

Von Kersten Knipp | 02.07.2008
    Haben die Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, unsere Zeit sittlicher zu machen? So lautete die Preisfrage, die die Akademie von Dijon im Jahr 1749 stellte. "Nein, haben sie nicht" lautete die Antwort eines bis dahin nicht sonderlich bekannten Philosophen, und dieses Nein war so entschieden, dass es ihn zu einem berühmten Mann machte. Zu der Berühmtheit mag freilich auch des Autors Entschluss beigetragen haben, sich fortan, der Logik seiner Argumente entsprechend, nach Art der Handwerker zu kleiden und nach den Vorgaben der Natur zu leben. So gebar das 18. Jahrhundert seinen ersten ökologisch bewegten Kulturpessimisten.

    " Die Wissenschaften, die Literatur und die Künste breiten Blumenkränze aus über die Ketten, an denen die Menschen liegen. "

    Die Kultur verdirbt die Menschen, sie zwingt ihnen Gesetze auf, denen sie nicht entsprechen. Mit dieser These wurde der 1712 in Genf geborene Rousseau zu einem der entschiedensten, aber auch ausgesprochen einseitigen Propagandisten des "wahren", angeblich unverstellten Menschen, der sich noch nicht durch die Einrichtungen der Kultur habe verderben lassen. Dem angeblich korrumpierten Intellekt stellt er das Vertrauen in die Gefühle entgegen, den unbestechlichen Sinn, von dem zumindest er selbst sich leiten lassen wollte. Schon seit Kindertagen, notierte Rousseau später in seinen "Bekenntnissen", hatte er zu den Büchern einen eher sinnlichen als intellektuellen Zugang.

    " Ich hatte nichts begriffen, ich hatte alles gefühlt. "

    Rousseaus entschiedener Ton ließ ihn zum Vorläufer all jener ökologisch-kapitalismuskritischen Bewegungen werden, die am überzüchteten Menschen der Hochmoderne etwas auszusetzen hatten. Auch die Reformpädagogen späterer Zeiten erachteten ihn als zentrale Referenzfigur - und das, obwohl er zwischen Wort und Tat große Lücken klaffen ließ. So wurde ihm 1746 ein Sohn geboren, den er, wie auch vier weitere Kinder, in ein Waisenhaus gab. Die Kunst der Pädagogik, die er den eigenen Kindern vorenthielt, beschrieb er stattdessen in seinem 1762 erschienenen Werk "Émile oder über die Erziehung", dem Urtext aller Reformpädagogik. Man muss das Kind Kind sein lassen und ihm nicht vorzeitig schon die Ideale der Älteren beibringen wollen, schrieb Rousseau. Ohnehin verstehen die Älteren von den Jüngeren nicht allzu viel.

    " Man kennt die Kindheit nicht. Mit den falschen Vorstellungen, die man von ihr hat, verirrt man sich umso mehr, je weiter man geht. Keiner von uns ist so ein großer Philosoph, dass er sich an die Stelle eines Kindes versetzen könnte. "

    Der "Émile" wurde verboten, ebenso wie der kurz zuvor veröffentlichte "Contrat social", zu Deutsch "Vom Gesellschaftsvertrag". Das Parlament der Stadt Paris, in der Rousseau inzwischen lebte, erließ einen Haftbefehl gegen ihn, dem er sich durch Flucht nach Genf entzog. Die Drohungen zeigten, wie exakt Rousseau einem in der Luft liegenden allgemeinen Empfinden Ausdruck verliehen hatte.

    " Ein jeder muss sich Mühe geben, seinesgleichen für sein Schicksal zu interessieren und entweder wirklich oder nur dem Anschein nach sie ihren Gewinn darin finden zu lassen, für den seinen zu arbeiten. Das macht ihn spitzbübisch und hinterlistig gegenüber den einen, hart und herrisch gegenüber den anderen. "

    Noch sollten bis zur großen Revolution von 1789 über 30 Jahre vergehen; aber in Rousseaus Schriften kündigte der Umsturz sich bereits an.

    " Der Despot behält nur so lange die Herrschaft, solange er der Stärkste ist; sobald man ihn vertreiben kann, hat er kein Recht, wegen Gewaltanwendung zu klagen. Gewalt allein hielt ihn an der Macht, Gewalt allein stürzt ihn auch wieder. So vergeht alles gemäß der natürlichen Ordnung. "

    Solche Worte machten Eindruck in Europa - und stießen die Entwicklung jener sozialrevolutionären Bewegungen des 19. Jahrhunderts an.

    Den Umsturz der französischen Herrschaftsmechanismen erlebte Rousseau nicht mehr. Er starb am 2. Juli 1778. Nach der Revolution wurden seine Gebeine ins Pariser Pantheon gebracht. Dort ruht er seitdem, als nationale Ikone des aufbegehrenden Frankreichs.