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"Großvater der jiddischen Literatur“

Als in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Westeuropa im Zuge der Assimilation der Juden das Jiddische nicht mehr häufig gesprochen wurde, erlebte die Sprache in Osteuropa eine Renaissance. Der Schriftsteller Scholem Alejchem wurde zu einem der größten Förderer der jiddischen Literatur, indem er unter anderem die "Jiddische Folksbibliothek" herausbrachte.

Von Eva Pfister | 02.03.2009
    Durch ein Musical ist Scholem Alejchem lange nach seinem Tod in Deutschland populär geworden. Seine Erzählung "Tewje, der Milchmann", wurde zur Vorlage von "Fiddler on the Roof", das in Deutschland 1968 unter dem Titel "Anatevka" auf die Bühne kam.

    Scholem Alejchem - der hebräische Gruß "Friede sei mit Euch" - ist das Pseudonym von Scholem Rabinówitsch, der am 2. März 1859 im Städtchen Perejaslav bei Kiew geboren wurde. Nach der religiösen Volksschule, dem "Cheder", besuchte er das russische Gymnasium und wurde Hauslehrer bei einem reichen Gutsbesitzer. Der Schülerin Olga widmete er seine erste jiddische Erzählung. Sie erschien 1883, im selben Jahr heirateten die beiden - gegen den Willen ihres Vaters.

    Die Mehrheit der Juden in Osteuropa lebte in bitterer Armut, und wie sie kläglich ums Überleben kämpfen, ist Alejchems großes Thema. Er lässt sie in brillanter Rollenprosa zu Wort kommen: die Witwe, die mit Gänsen handelt, den hungrigen Hauslehrer oder eben Tewje, der den reichen Sommergästen Milch und Käse verkauft und davon träumt, der Armut zu entkommen.

    "Ich will mich ja nicht beklagen, aber mit Deiner gütigen Hilfe, oh Herr, sind wir fast am Verhungern."

    Für Scholem Alejchem ging der Traum vom Reichtum in Erfüllung. Nach dem Tod seines Schwiegervaters erbte er dessen Vermögen und konnte so zum Förderer der jiddischen Literatur werden. 1888 gab er den ersten Band des Almanachs "Jiddische Folksbibliothek" heraus.

    "Als Scholem Alejchem anfing zu schreiben, gab es schon ein Bewusstsein, dass eine schöne Literatur auf Jiddisch möglich war."

    Die Niederländerin Marion Aptroot ist Professorin für jiddische Sprache und Kultur an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

    "Er hat selber einen Entwurf gemacht für eine jiddische Literaturgeschichte, in dem er Abramowitsch den Großvater der jiddischen Literatur genannt hat."

    Scholem Abramowitsch, der unter dem Pseudonym Mendele Mocher Sforim unerbittlich realistische Satiren schrieb, bildet zusammen mit Jitzchak Leibusch Peretz und Scholem Alejchem das Dreigestirn der goldenen Ära der jiddischen Literatur. Dass diese gerade in Osteuropa aufblühte, lag daran, dass die jiddische Sprache in Westeuropa durch die Assimilation der Juden beinahe ausgestorben war.

    Nach zwei Jahrbüchern war leider Schluss mit der "jiddischen Folksbibliothek", denn Scholem Alejchem verlor sein Vermögen an der Börse - fast so schnell wie sein Held Menachem Mendel, der Spekulant. Aber als Autor erzielte er 1894 mit den Tewje-Geschichten seinen Durchbruch. Dass er so beliebt wurde wie nach ihm nur der Literaturnobelpreisträger Isaac Bashevis Singer, lag vor allem an seinem versöhnlichen Humor.

    "Die Bezeichnung "Humorist" für Scholem Alejchem ist zutreffend, aber er ist jemand, der wie nur wenige die Ängste der Juden in Osteuropa, teilweise auch in Amerika, die konfrontiert werden mit einer sich sehr schnell ändernden Gesellschaft, mit Modernität, der diese Ängste verwortet."

    Nach den Pogromen von 1905, die Scholem Alejchem in Kiew miterleben musste, wanderte er nach Amerika aus. Dort konnte er aber wirtschaftlich nicht Fuß fassen. Er kehrte zurück und verdiente sein Geld mit anstrengenden Lesereisen durch ganz Osteuropa. Als er in Weißrussland 1908 zusammenbrach, erfuhr er im Krankenhaus von seiner Tuberkulose. Nur dank der Spenden seiner Bewunderer konnte er sich Kuren in der Schweiz und an der Riviera leisten. In einem fingierten Interview schrieb er nicht ohne Bitterkeit über seine Existenz:

    "Ein jüdischer Schriftsteller lebt rundherum ruhig und behütet. ... Er ist sicher vor den Gütern dieser Welt und des Jenseits. Er ist verschont von Brot und er ist verschont von guter Gesundheit."

    Nach Ausbruch des ersten Weltkriegs emigrierte die Familie endgültig in die USA. Am 13. Mai 1916 starb Scholem Alejchem. Dem Trauerzug folgten über hunderttausend Menschen, darunter viele Arbeiterinnen und Arbeiter der jüdischen Schneiderwerkstätten. Bis heute befolgen Anhänger des Autors die Anweisungen seines Testaments:

    "Kommt zusammen und lest eine meiner fröhlichsten Geschichten. Gedenkt meines Namens mit Lachen oder gar nicht!"