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Grubenunglück in der Türkei
"Regierung muss privatisierte Betriebe stärker kontrollieren"

Das Herunterspielen des Grubenunglücks in Soma könnte Ministerpräsident Erdogans Präsidentschaftskandidatur gefährden und weitere Proteste nach sich ziehen, sagte der Politikwissenschaftler Hüseyin Bagci im DLF. Die Regierung zahle nun den Preis dafür, dass sie bei der Privatisierungswelle profitorientiert gedacht habe, statt die Situation der Arbeiter zu verbessern.

Hüseyin Bagci im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 16.05.2014
    Gräber für die verunglückten Bergleute in Soma
    Die Gräber für die verunglückten Bergleute sind ausgehoben. (dpa / Tolga Bozoglu)
    Christoph Heinemann: Nach der Katastrophe in einem türkischen Kohlebergwerk mit mehr als 280 Toten wächst der Zorn auf die Regierung. Entrüstung löste ein Berater von Ministerpräsident Erdogan aus, er soll am Ort der Katastrophe in Soma auf einen Demonstranten eingetreten haben. Dutzende Bergleute sind offenbar noch unter Tage eingeschlossen. Der Ministerpräsident heizte die Empörung an mit der Bemerkung, Unglücke solcher Art passierten nun einmal. Darüber hat mein Kollege Dirk-Oliver Heckmann mit Hüseyin Bagci gesprochen. Er ist Politikwissenschaftler an der Middle East Technical University in Ankara. Erste Frage: Hat Erdogan das Gespür für die Menschen verloren?
    Hüseyin Bagci: Ich denke, ja. Nur seine Rede ist natürlich in der Türkei so interpretiert worden, dass er es ganz natürlich sieht, dass die Leute sterben, und er hat ein Beispiel gegeben vom 19. Jahrhundert, was natürlich mit den Realitäten von heute einfach nichts zu tun hat. Deswegen werden besonders seine Berater, die seine Rede geschrieben haben, nun sehr stark kritisiert und ich denke, diese Worte haben dem Ministerpräsidenten der Türkei so viel Schaden gebracht wie nie zuvor.
    Dirk-Oliver Heckmann: Viele Türken behaupten ja, Wachstum gehe der Regierung Erdogan über alles, sogar über Menschenleben. Der Hintergrund ist natürlich, dass Betriebe wie diese Zeche in Soma privatisiert worden sind und dass angeblich die Arbeitsschutzstandards gesenkt worden sind. Trifft diese Kritik zu?
    Bagci: Die Tatsache bleibt, dass die Privatisierungswellen in der Türkei nicht so erfolgreich gewesen sind, wie man das sich erhofft hat, und in der Tat, dass man mehr profitorientiert gedacht hat, als die Situation der Arbeiter zu verbessern. Da gibt es eine Kritik. Aber das ist natürlich auch eine politische Verantwortung, dass der Staat oder die Regierung alle diese privatisierten Betriebe noch stärker kontrollieren sollte. Es gab da auch sehr viele Kritik schon davor. Aber wie immer es ist, die Regierung hat auf dieser Sache nicht so große Acht gegeben, und jetzt bezahlen sie natürlich den Preis dafür.
    Heckmann: Weshalb hat die Regierung darauf nicht geachtet?
    Bagci: Das ist zu erklären, dass man das mit der guten Intention gemacht hat, und man hat gedacht, wenn man das privatisiert, dann würde es ausreichen. Aber so ist es nicht. Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser. Das sollte die Aufgabe des Staates sein, und da kann man natürlich die Kritik wohl machen, dass die Regierung oder die staatlichen Stellen in dieser Sache fehlgeschlagen haben.
    Heckmann: Der Arbeitsschutz in der Türkei ist schlecht, auch deshalb, weil die Gewerkschaften schwach sind in Ihrem Land. Weshalb ist das so?
    Bagci: Erst mal: Die Türkei hat alle Gewerkschaftsregeln von der Europäischen Union. Die Türkei hat ein sehr fortschrittliches Dokument, was die Arbeiterrechte angeht. Das Problem ist, in der Tat, dass die Gewerkschaften in den 1960er- und 1970er-Jahren in der Türkei sehr stark waren, aber nicht in den letzten 20 Jahren, und da könnte man auch sagen, dass diese gewerkschaftliche Kontrolle, was die Lage der Arbeiter im Allgemeinen in der Türkei angeht, nicht kontrolliert oder zur Sprache gebracht worden ist, wie es früher war. Und bei dem Kampf zwischen der Regierung und den Arbeitsgewerkschaften hat man natürlich auch in den letzten 15 Jahren vor allem gesehen, dass sie immer wieder an Bedeutung verloren haben. Das ist richtig. Viele Gewerkschaftsführer haben auch später in die Politik einfach gehen müssen, und dadurch wurde auch diese Bewegung noch schwäche. Und es kam natürlich zugute für die Regierung, dass die Gewerkschaften immer machtloser wurden. Aber gewerkschaftlich gesehen ist das natürlich nicht gut. Wer sollte die Rechte der Arbeiter schützen, wenn nicht die Gewerkschaften.
    Heckmann: Herr Bagci, vor einem Jahr gab es ja bereits Massenproteste gegen Erdogan. Jetzt diese neuen Proteste. Die Regierung versucht, sie im Keim zu ersticken. Mal jenseits der Frage, ob das eine zielführende Reaktion ist, wie fest sitzt denn Erdogan derzeit im Sattel? Ihm wird ja nachgesagt, Präsident werden zu wollen. Kann er das jetzt zu den Akten legen?
    Bagci: Was voriges Jahr sich herausgestellt hat, war eine sehr natürliche Reaktion der türkischen Bevölkerung, die ihre demokratischen Rechte nicht abgeben wollte. Deswegen: Es war eine andere legitime Sache, diese Proteste. Dieses Mal ist es etwas anderes, noch konkreter, aber wo die Regierung automatisch verantwortlich gesehen wird, weil sie die Verhältnisse in den Betrieben, auch die Lage der Arbeiter nicht genug verbessert haben.
    Deswegen ist es eine politische Verantwortung. Es sind zwar zwei unterschiedliche Ereignisse, aber am Ende kommt es natürlich zu demselben Schluss, dass diese Regierung nicht mehr imstande scheint, die Gesellschaft irgendwie zu beschwichtigen oder glücklich zu machen. Deswegen wird es sehr schwierig sein für den Ministerpräsidenten, wenn er sich als Kandidat für die Wahlen stellt, dass er doch vielleicht nicht in der ersten Runde gewählt werden kann. Ich gehe davon aus, dass wir bis zu der Nominierung der Kandidaten doch einige andere Entwicklungen zu erwarten haben, dass es nicht so automatisch ist, wie man das vor einer Woche oder vor drei Wochen angenommen hatte.
    Ich gehe davon aus, dass diese Lage die Kandidatenaufstellung der AKP noch schwieriger machen wird, und auch natürlich für den Ministerpräsidenten, dass er vielleicht doch nicht kandidieren wird. Wenn er kandidieren wird, dann werden wird höchst wahrscheinlich weitere gesellschaftliche Proteste bekommen, und es wird nicht sehr einfach sein, als Präsident fünf Jahre lang zu regieren.
    Heckmann: Das wird interessant zu beobachten sein, Herr Bagci. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
    Bagci: Ich danke Ihnen auch.
    Heinemann: Hüseyin Bagci, Politikwissenschaftler an der Middle East Technical University in Ankara. Die Fragen stellte mein Kollege Dirk-Oliver Heckmann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.