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Grün und schlau

Tief verwurzelt in der europäischen Kultur ist die Vorstellung einer dreigeteilten Natur: Oben der Mensch, darunter die Tiere und ganz unten die Pflanzen. Doch scheinbar werden jegliche Gewächse stark unterschätzt. Immer häufiger greifen Forscher nun das Bild vom "pflanzlichen Gehirn" wieder auf.

Von Verena von Keitz und Michael Lange | 20.12.2009
    "Nein, den Hund nehmen sie mit, aber ich muss mich um die Pflanzen kümmern. Und du weißt ja, wie meine Mutter ist ... Finde ich auch – das sind nur Pflanzen!"
    "Wir gingen bisher doch im wesentlichen davon aus: der Mensch ist die Krone der Schöpfung zunächst einmal, und dann gibt es unterhalb des Menschen einige interessante Tiergruppen, die auch sehr viel leisten können. Aber die Pflanze ist so ein an den Standort gebundenes mehr oder weniger stupides Wesen, ... sonst nicht viel mehr."

    Grün und schlau – Forscher fahnden nach einem pflanzlichen Nervensystem

    von Verena von Keitz und Michael Lange.

    Ein großes Labor im Gartenbau-Institut der Universität Florenz. Platz genug für etwa zwanzig Wissenschaftler. Aber es sind nur vier da. Dass hier Forschung an Pflanzen betrieben wird, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Nur in der hinteren Ecke drängt sich ein wenig Grünzeug.

    Stefano Mancuso präsentiert seine Lieblingspflanze: Eine Topfblume mit pinkfarbenen Blüten.

    Die Blume reagiert auf Geräusche. Mancuso schnippt mit dem Finger – und die Pflanze dreht ihren Blütenkopf zu ihm hin.
    Mancuso hat das noch namenlose Plastikgewächs am Tag zuvor aus Bologna mitgebracht. Jetzt steht es auf einem Tisch neben ein paar anderen beweglichen Pflanzen. Echten Pflanzen.

    "Dies ist eine empfindliche Pflanze – eine Mimose. Sie ist allseits bekannt, weil sie ihre Blätter zusammenfaltet, sobald jemand die Pflanze berührt. Das ist eine der wenigen schnellen Bewegungen im Pflanzenreich. Wir suchen nach zellbiologischen Grundlagen, die diese schnellen Bewegungen möglich machen."

    Die Mimose gilt wie die fleischfressende Venusfliegenfalle als das Lehrbuchbeispiel für Pflanzenbewegungen. Auch Rankpflanzen führen kreisende Suchbewegungen aus - bis sie eine passende Stütze gefunden haben. Das heißt: Pflanzen sind in der Lage, ihre Umgebung wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Sie besitzen Sinneszellen, die ihnen Informationen über ihre Umwelt liefern. Und irgendwie können die Informationen über das Wahrgenommene durch die Pflanze weitergeleitet werden.

    "Stellen Sie sich vor, Sie seien eine Pflanze. Dann müssen Sie ja jede Änderung Ihrer Umwelt mitbekommen, gerade weil Sie im Gegensatz zu Tieren nicht weglaufen können. Und deshalb brauchen Pflanzen ganz besonders feine Sinne, um zu erfassen was um sie herum passiert."

    Wie Pflanzen Signale verarbeiten und weiterleiten, ist trotz jahrzehntelanger Forschung immer noch weitgehend unbekannt. Eine Art Nervensystem haben Pflanzenforscher bislang nicht entdeckt. Für Stefano Mancuso besteht dennoch kein Zweifel: Pflanzen benutzen ein ähnliches Prinzip wie die Tiere - nämlich elektrische Signale. Allerdings rasen diese nicht durch den Körper, wie bei Mäusen und Menschen. Alles geschieht wie in Zeitlupe.

    "Das Hauptproblem bei Pflanzen ist: Sie sind langsamer als Tiere. Sie reagieren langsamer auf ihre Umwelt. Und wir Menschen sind besessen von Geschwindigkeit: Uns interessiert, was schnell ist. Langsame Prozesse nehmen wir gar nicht wahr. Dabei können Pflanzen alles, was Tiere können, nur eben viel langsamer."

    "Ah, hallo Mama! … Natürlich geht’s deinen Pflanzen gut …Nein. Keine Läuse … ich weiß, aber das letzte Mal war’s auch super heiß … Mama! Es war nur der Hibiskus!"

    Pflanzliche Reaktionen mit denen der Tiere zu vergleichen, sie gewissermaßen auf eine Stufe mit Tieren zu stellen, ist ein gewagter Schritt. Tief verwurzelt in der europäischen Kultur ist die Vorstellung einer dreigeteilten Natur: Oben der Mensch. Darunter die Tiere. Und ganz unten die Pflanzen. Einer der wenigen Gelehrten, die schon im 19. Jahrhundert die geheimen Sinnesleistungen von Pflanzen zur Kenntnis nahm, war Charles Darwin, der Begründer der Evolutionslehre. Besonders stach ihm dabei die Pflanzenwurzel ins Auge. In seinem Buch "Das Bewegungsvermögen der Pflanzen" aus dem Jahre 1880 schreibt er:

    "Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass die Wurzelspitze – ausgestattet [...] mit der Kraft, die Bewegungen angrenzender Bereiche zu lenken - wie ein Gehirn eines niederen Tieres arbeitet; das Gehirn sitzt am vorderen Ende des Körpers, es empfängt Eindrücke von den Sinnesorganen und steuert verschiedene Bewegungen."

    Der empfindsamste Teil einer Pflanze ist unter der Erde verborgen: Die Wurzel mit ihren vielen feinen Verzweigungen und Ausläufern. Sie sichert die Lebensgrundlage einer Pflanze - nicht nur, weil sie Wasser und Nährstoffe aus dem umliegenden Boden aufnimmt. Die Enden der feinen Ausläufer, die Wurzelspitzen, können die Beschaffenheit der Umgebung genau analysieren.

    "Eine einzelne Wurzelspitze misst in jeder Millisekunde die Schwerkraft, das Licht, das Vorhandensein von Nährstoffen, aber auch von Giften wie Schwermetallen. Mindestens 15 chemische und physikalische Größen kann sie erfassen. Das ist eine ganze Menge. So gesehen nehmen Pflanzen sogar mehr wahr als Tiere."

    Obwohl Charles Darwin die Einzelheiten noch gar nicht verstand, scheute er sich nicht, den Vergleich zum Gehirn der Tiere zu ziehen. In den letzten Jahren nun greifen einige Forscher das Bild vom "pflanzlichen Gehirn" wieder auf.

    Frantisek Baluska ist Zellbiologe an der Universität Bonn. Für ihn ist die Pflanzenwurzel ein eigenes Universum – mit eigener Schaltzentrale. Seine These: Die Wurzel enthält Schichten, die speziell der Weiterleitung von Informationen dienen. Unter dem Lasermikroskop hatte Frantisek Baluska eine vielversprechende Gewebestruktur gefunden. Sowohl die Aktivität dieser Zellschichten als auch deren Feinstruktur erinnerten ihn sofort an das tierische Nervensystem. Seine Vermutung: Hier werden Informationen aus den vielen Wurzelhärchen zusammengeführt und verarbeitet.

    "Was wir entdeckt haben, ist: Diese Zellbereiche haben ähnliche Merkmale wie die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen im Gehirn. Obwohl diese Zellschicht nicht wächst, ist sie hoch aktiv. Zum Beispiel wandern kleine Vesikel-Bläschen, die dem Stofftransport im Gewebe von Pflanzen dienen, extrem schnell hin und her. Viel schneller als in den Wachstumszonen der Wurzel. Ein solches Hin- und Her von Vesikeln gibt es auch an den Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen im Gehirn von Mensch und Tier."

    Sollte es hier tatsächlich Parallelen geben zwischen Pflanze und Tier? Beim Tier funktioniert die Reizweiterleitung so: Ein Reiz von außen erreicht eine Sinneszelle. Die übersetzt ihn in elektrischen Strom. Der fließt entlang der Zellhülle weiter bis ans Ende des langen Nervenausläufers. Dort geht es nicht weiter, denn die Nervenzellen sind durch einen Spalt getrennt. Um auf die nächste Zelle überzusetzen, muss das elektrische Signal kurzzeitig in ein chemisches umgewandelt werden. Kleine Bläschen, gefüllt mit Botenstoffen, schnüren sich vom Ende der einen Nervenzelle ab. Die Bläschen wandern durch den Spalt auf die andere Seite – wie Boote, die einen Fluss überqueren - und liefern ihre Fracht in der angrenzenden Nervenzelle ab. Dort wird das chemische Signal der Botenstoffe wieder übersetzt in ein elektrisches Signal, das weiter durch die Nervenbahnen rast.

    Diese Art der schnellen Signalübertragung durch ein Nervensystem ist typisch für Tiere. Pflanzen haben keine Nerven. Doch der besondere Aufbau der Wurzelschichten, der schnelle Transport von Bläschen aus der einen Zelle zur anderen und die messbaren elektrischen Signale sind für Frantisek Baluska deutliche Hinweise: Pflanzen verarbeiten Reize nach einem ähnlichen Muster wie Tiere.

    "Tatsächlich gibt es ein sensorisches Zentrum an der äußeren Wurzelspitze, und es gibt eine Bewegungs-Zone, an der sich die Wurzel krümmen kann. Und zwischen diesen beiden Zonen findet eine Kommunikation statt. Die Wahrnehmung und das Wachstum müssen koordiniert werden. Und das erinnert in der Tat an die Bewegungssteuerung in Tieren."

    Eine These, die unter Forschern durchaus umstritten ist.

    "Hallo! Wer will, kann eine Nachricht hinterlassen"

    Schon lange untersuchen Pflanzenforscher elektrische Phänomene in ihren Versuchsobjekten. Dennoch bleiben die meisten bei der Interpretation ihrer Daten zurückhaltend. Dabei waren es Botaniker, die als erste elektrische Ströme in einzelnen Zellen messen konnten. Die Technik wurde schnell von Tierphysiologen übernommen – und ermöglichte überhaupt erst die gründliche Erforschung von Nervensystem und Gehirn. Elektrische Phänomene in Pflanzen stehen noch immer im Schatten dieser Entwicklung – obwohl es inzwischen etliche Forschergruppen gibt, die sich mit dem Thema auseinandersetzen.

    "Seit Darwin oder den Zeitgenossen, wo man sich beschäftigt hat mit Pflanzen, sieht man, dass Pflanzen in der Lage sind, ihre Umgebung wahrzunehmen, also das ist wirklich nichts Neues."

    Auch der Biophysiker Gerhard Thiel von der Technischen Universität Darmstadt vermisst elektrische Vorgänge in Pflanzen. Er beschränkt sich allerdings auf die Ströme und Ladungstransporte in einzelnen Zellen.

    "Sicher sind viele Dinge etwas langsamer. Aber jeder Blumentopfbesitzer weiß, dass sich die Pflanze zum Licht hin wendet, die Blätter bei manchen Pflanzen abends sich senken und wieder hochstellen. Ich denke, jeder Bauer weiß, dass Pflanzen nicht einfach ein Ding sind, die auf dem Acker stehen. Die Beobachtung zeigt, dass sich die Pflanzen einfach an ihre Umgebung anpassen können."

    Die Frage ist: Auf welche Weise verarbeiten Pflanzen die Reize der Außenwelt? Auch Gerhard Thiel hält nicht für ausgeschlossen, dass elektrische Ströme dabei eine Rolle spielen. Doch er zieht keine Parallelen zum Tierreich. Er will zunächst wissen: Welche geladenen Teilchen-Ionen fließen in die Zelle hinein - und welche heraus? Wie kontrolliert die Zelle den Verkehr dieser Ionen durch die Zellhülle?

    "Wir haben hier erstmal ein Mikroskop, ein inverses Mikroskop, das heißt, wir gucken von unten."
    Hightech-Vergrößerungsgerät steht in einem Metallkasten - einem Faraday-Käfig zur elektrischen Abschirmung. Gerhard Thiel schaut durch das Okular.

    "Die Zellen liegen hier oben in dem Becher drin, ... und unter dem Mikroskop sehen wir, wie wir mit der Glaselektrode an die Zelle rankommen."

    Mit kleinen Rädchen an der Seite des Gerätes bewegt er ein hauchdünnes Glasröhrchen – feiner als eine Nadel - auf ein kleines Blattstück im Becher zu.

    "Wir kommen an die Zelle ran, ganz nahe, und saugen sie durch einen kleinen Unterdruck, hier mit so einem kleinen Schlauch und mit diesem Unterdruck machen wir eine feste elektronische Verbindung zwischen dem Glas der Mikroelektrode und der Membran der Zelle. Wir können die geladenen Teilchen messen, die hier durch so einen Ionenkanal transportiert werden. Und da das sehr viele sind, durch so einen Ionenkanal fließen ungefähr zehn hoch acht Ionen pro Sekunde, das ist ein messbarer Strom im Bereich von Pico-Amper."
    In jeder lebenden Zelle, ganz gleich ob pflanzlich oder tierisch, wandern geladene Teilchen durch die Zellhülle und erzeugen dadurch messbaren elektrischen Strom.

    "Das Problem ist, elektrische Phänomene - nur weil sie so aussehen bei Pflanzen wie bei Tieren - auch in derselben Weise sofort zu interpretieren. Wobei ich jetzt nicht ausschließen möchte, dass elektrische Signale auch bei Pflanzen Informationsweiterleitungen produzieren können. Nur da sehe ich noch einiges an Bedarf an Überzeugungsarbeit, die geleistet werden muss."

    Genau das haben der Bonner Zellbiologen Frantisek Baluska und Stefano Mancuso in Florenz vor. Sie haben sich zusammengetan, um den Beweis anzutreten, dass elektrische Signale für die Informationsweiterleitung in Pflanzen eine entscheidende Rolle spielen – so wie man es vom tierischen Nervensystem kennt.

    "In Bonn haben wir die einzigartige Natur dieser Wurzelzone entdeckt. Und nun sind wir in der Lage, gemeinsam mit der Gruppe in Florenz zu zeigen, dass auch die elektrische Aktivität in der Wurzel an die Vorgänge im Gehirn erinnert. Die Sache fängt gerade erst an – und vielleicht ist es übertrieben von Gehirn zu reden. Deshalb sagen wir lieber: Kommandozentrale."

    Der Bonner Botaniker Dieter Volkmann hat die Forschung der sogenannten Pflanzenneurobiologie von Anfang an verfolgt - und sieht in der letzten Zeit Fortschritte.

    "Der Zusammenhang zwischen den elektrischen Signalen und den dafür notwendigen Strukturen, der ist bislang nicht bekannt gewesen. Und der scheint jetzt durch die Entdeckungen von Frantisek Baluska und Stefano Mancuso akut zu werden: Dass man elektrische Signale verknüpfen kann mit Strukturen, die wiederum denen von nervösen Systemen entsprechen."
    Im elektrophysiologischen Labor in Florenz züchtet Stefano Mancuso derzeit Maiskeimlinge. Stromimpulse, wie sie bei Tieren durch die Nervenbahnen rasen, werden Aktionspotenziale genannt. Jetzt fahndet Mancuso auch in den Wurzeln seiner Maispflänzchen nach solchen Stromimpulsen - die er als Aktionspotenziale einstuft.

    "Wir sind in der Lage, sehr schwache Signale in den Pflanzenzellen zu messen. Solche Aktionspotenziale benutzen die Nervenzellen unseres Gehirns, wenn sie miteinander kommunizieren. Das heißt nicht, dass Pflanzen ein Gehirn haben. Aber es ist eben eine ähnliche Art von Signalen, die wir in unserem Gehirn benutzen."

    Mancuso misst viele Aktionspotenziale in einem Blatt und versucht so, Zusammenhänge zu erkennen. Die meisten Kollegen halten das für unergiebig. Oft lassen sich die gewonnenen Ergebnisse nicht wiederholen. In der Wissenschaft heißt das: Die Resultate sind nicht reproduzierbar. Gerhard Thiel von der Technischen Universität Darmstadt und die Mehrheit der Pflanzenphysiologen wollen deshalb lieber den Ladungsfluss auf der Ebene einzelner Zellen verstehen. Diese Mechanismen lassen sich durch neue Methoden gut erforschen, und die Ergebnisse sind reproduzierbar. Erkenntnisse über den möglichen Informationsfluss innerhalb einer Pflanze lassen sich so natürlich nicht gewinnen. Das spricht wiederum für den Ansatz von Stefano Mancuso.

    "Der Hauptteil unserer Arbeit besteht darin, die Beziehung zwischen verschiedenen Signalen auszumachen. Also: In welcher Beziehung steht ein Aktionspotenzial zu einem anderen. Und indem wir uns dieses Wechselspiel anschauen, bekommen wir eine Vorstellung, wozu die Pflanzen in der Lage sind. Dabei beginnen wir gerade erst zu verstehen, wie komplex die Verbindungen der Zellen untereinander sind. Vor allem in der Wurzelzone, wo wir eine sehr hohe elektrische Aktivität sehen."

    "Elektrische Vorgänge sind eine grundlegende Eigenschaft des Lebens. Ohne Elektrik geht gar nichts. Sehen Sie? So. Das wäre jetzt so eine Elektrode, mit der können Sie einstechen."

    Nur wenige deutsche Pflanzenforscher beschäftigen sich mit dem Fluss elektrischer Signale durch Pflanzen, Hubert Felle von der Universität Gießen ist einer von ihnen.

    "Hinter dem Schirm sehen Sie ein Blatt eingespannt. Und was hier jetzt passiert, ist Folgendes: Hier versucht man in das Blatt einzudringen, ohne die Zellen zu verletzen."

    Auch Hubert Felle will herausfinden, wie elektrische Signale durch die Pflanze geleitet werden – über weite Strecken.

    "Ich will jetzt wissen: Existiert hier eine systemische Verbindung von einem Blatt zu anderen? Systemisch heißt: keine Reaktion im selben Blatt, sondern im Nebenblatt zum Beispiel, oder am nächsten Ast. Das heißt: Ich gebe an einem Blatt einen Reiz, und am anderen Blatt muss dann eine Reaktion erfolgen. Und das haben wir versucht, und das haben wir gefunden."

    Hubert Felle klemmt den Zweig einer Saubohne in die Messapparatur. Die saftig grünen Blätter der Pflanze befestigt er mit Klebeband. Mit einer Rasierklinge ritzt er dann eines der Blätter an. Auf ein anderes richtet er die Messelektrode und stellt fest: Das unverletzte Blatt zeigt einige Minuten später eine elektrische Reaktion.

    "Die Verletzung des Blattes an einer Stelle haben wir an einer anderen Stelle mit den Elektroden gemessen."

    Felle schließt daraus: Das elektrische Signal ist vom angeritzten Blatt zum unverletzten Blatt weitergeleitet worden. Dafür braucht die Pflanze Energie. Die Vermutung liegt nahe, dass ein Blatt auf diese Weise ein anderes informieren kann - zum Beispiel über den Angriff von Schädlingen.

    "Die Pflanze kann nicht wegrennen. Sie hat keine Muskeln, sie hat keine Beine. Sie ist darauf angewiesen, dass sie irgendetwas macht gegen einen Angreifer. Nun, sie kann dem Angreifer die Chose vermasseln. Das macht sie, indem sie innerhalb kurzer Zeit, nach einer halben Stunde oder einer Stunde, Stoffe produziert, die dem Angreifer nicht schmecken oder die ihn sogar vergiften."

    Bisher ist es den Forschern nicht gelungen nachzuweisen, ob es tatsächlich die elektrischen Signale sind, die eine Abwehrreaktion in Pflanzenblättern auslösen; so wie es die Stromimpulse - also die Aktionspotenziale - im tierischen Nervensystem tun. Die Ergebnisse von Hubert Felle deuten aber in diese Richtung. Anders als Stefano Mancuso und Frantisek Baluska ist Felle bei der Interpretation seiner Ergebnisse allerdings sehr vorsichtig. Der Gießener Elektrophysiologe verweist auf einen entscheidenden Unterschied zwischen den Nervenimpulsen bei Tieren und den elektrischen Signalen, die durch pflanzliches Gewebe wandern.

    "Nun ist es so, dass die Aktionspotentiale bei Pflanzen, wenn wir es im Vergleich zu Tieren sehen, allgemein sehr viel träger sind, sehr viel langsamer. Sie können zwar verglichen werden mit tierischen Aktionspotentialen, aber es ist doch nicht dasselbe."
    Sticht eine Wespe einen Menschen in den Fuß, weiß sein Gehirn innerhalb einer hundertstel Sekunde Bescheid. Ein Signal in einer großen Sonnenblume würde für eine solche Strecke drei Minuten brauchen. Pflanzensignale, wie Hubert Felle sie gemessen hat, wandern mit einer Geschwindigkeit von einem halben oder einem Zentimeter pro Sekunde von Blatt zu Blatt. Beim Menschen rasen Nervensignale mit hundert Metern pro Sekunde durch den Körper – das ist 10.000 Mal schneller.

    "Ich möchte nur so sagen, dass die Pflanze eigentlich aufgrund ihrer Lebensstrategie keine schnellen elektrischen Signale braucht und keine schnellen Informationen. Da ist es völlig unerheblich, ob das Signal in einer Sekunde oder in einer Minute dahin kommt."

    Auf welchem Weg genau die Aktionspotenziale und damit der elektrische Strom von Zelle zu Zelle oder gar von einem Blatt zu einem anderen gelangt, konnte bisher noch nicht nachvollzogen werden. Forscher messen Aktionspotenziale an verschiedenen Stellen und schließen daraus, dass sie durch das pflanzliche Gewebe gewandert sind. Es könnte sich aber auch um mehrere Einzelsignale gehandelt haben. Auch aus diesem Grund zweifelt der Darmstädter Biophysiker Gerhard Thiel daran, dass jedes in einer Pflanze gemessene Aktionspotenzial Informationen weiterleitet.

    "Wir sehen jetzt irgendeinen Schnipsel im elektrischen Signal und wir nennen das Aktionspotenzial. Dann ist die erste Idee immer: Das sieht ja aus wie bei den Nerven. Wenn man mal kritisch hinschaut, sieht man: Es gibt bei Einzellern Aktionspotenziale. Die haben niemanden, mit dem sie kommunizieren. Die können vielleicht mit sich selber reden, aber das glaub ich nicht, dass das Aktionspotenzial eine Frage der Einzell-Kommunikation ist. Das bedeutet, wenn wir ne Einzelzelle haben, die schon Aktionspotenziale macht, dann kann man die Vorstellung haben, dass Aktionspotenziale bei Pflanzen und bei niederen Organismen eher eine Form der einfachen Regulation des osmotischen Haushalts sind, als irgendetwas mit Signalweiterleitung zu tun haben."

    "Ich hab die Pflanzen erstmal auf den Balkon gestellt. Nein, die Viecher sind immer noch an den Blättern. Aber angeblich gehen sie doch draußen von selber weg. Bist du wahnsinnig? Meine Mutter bringt mich um, wenn ich mit der Chemiekeule an ihre Lieblinge geh!"

    Elektrische Signale, wie sie Hubert Felle und Stefano Mancuso gemessen haben, könnten ein Teil der pflanzlichen Immunabwehr sein, mit der sich Pflanzen gegen Schädlinge wehren. Sie wären in der Lage, die Nachricht vom Schädlingsbefall innerhalb von Minuten durch die ganze Pflanze zu transportieren. Und die Pflanze reagiert dann, indem sie die noch unbefallenen Blätter schützt. Eine solche Schutzwirkung hat der Aachener Pflanzenphysiologe Uwe Conrath in mehreren Experimenten eindeutig zeigen können.

    "Wenn eine Pflanze befallen wird auf einem Blatt. Dann entwickelt sie innerhalb von einigen Tagen eine erhöhte Resistenz auch in den nicht befallenen Blättern. Das ist für mich, was ich unter Immunsystem – bitte in Anführungsstrichen – der Pflanze verstehe."

    Bis vor etwa zehn Jahren war der Begriff Immunsystem unter Pflanzenforschern tabu. Das Immunsystem bei Tieren erkennt Krankheitserreger und ergreift zielgerichtete Maßnahmen, um sie abzuwehren. Diese Fähigkeit traute man Pflanzen lange Zeit nicht zu. Doch auch Pflanzen erkennen einzelne Erreger und wehren sie gezielt ab. Das Team von Uwe Conrath konnte sogar zeigen: Pflanzen besitzen ein Immungedächtnis.

    "Also wenn man beispielsweise eine Gurkenpflanze auf einem Blatt infiziert mit einem Pilz, und man wartet dann einige Tage und infiziert die Pflanze noch einmal, dann wird man sehen, dass die Pflanze überhaupt keine Schadsymptome zeigt."

    Wie die Nachricht vom Schädlingsbefall allerdings die einzelnen Blätter erreicht, weiß auch Uwe Conrath nicht. Es könnten elektrische Signale sein, aber auch chemische Substanzen, die mit dem Wasserstrom von Zelle zu Zelle und schließlich von Blatt zu Blatt gelangen. Trotz zahlreicher Einzelergebnisse bleiben viele Fragen offen.

    "Wir sind hier auf einem Weinberg in Montalcino in der Toskana, und den beschallen wir 24 Stunden am Tag mit Musik. Denn wir wollen den Einfluss von Musik und Tönen auf Pflanzen untersuchen."

    Der Pflanzenforscher Stefano Mancuso steht vor einem mannshohen Rebstock. Die Trauben sind schon fast reif. In einer Woche beginnt die Ernte.

    "Vor vier, fünf Jahren kam der Winzer zu uns, um zu herauszufinden, was in den Pflanzen, in den Weintrauben passiert, wenn Musik erklingt."

    50 Lautsprecher berieseln den Weinberg mit Mozart-Melodien in einer Endlosschleife. Das beschallte Versuchsfeld ist etwa so groß wie fünf Fußballfelder. Der Winzer Giancarlo Cignozzi ist überzeugt: Die Musik wehrt Krankheiten und Schädlinge ab und lässt seine Sangiovese-Trauben besser gedeihen. Stefano Mancuso glaubt aber nicht, dass sich die Schönheit der Musik direkt auf den Wein auswirkt.

    "Pflanzen können gar keinen Musikgeschmack haben. Aber sie sind in der Lage, Vibrationen wahrzunehmen. Und Musik, insbesondere tiefe Töne, sind ja physikalische Schwingungen. Im Labor untersuchen wir diese Fähigkeit von Pflanzen, an einzelnen Zellen und bei bestimmten Frequenzen. Für das Experiment im Weinberg hat ein Toningenieur für uns Mozart-Stücke ausgewählt, mit einem besonders großen Anteil tiefer Frequenzen."

    Auch wegen solcher Experimente, die gerne im Teil "Vermischtes" von Zeitungen auftauchen, wird Stefano Mancuso von manchen seiner Kollegen nicht ernst genommen. Einige Zeitungsleser vermuten ihn in der Esoterik-Ecke.

    "Viele Leute schreiben mir, dass sie mit ihren Pflanzen sprechen und die Pflanzen dann besser wachsen. Aber normalerweise ist es ja so: Wer mit Pflanzen redet, kümmert sich auch besser um sie, düngt und gießt regelmäßig, also ist es nicht das Sprechen. Mit Pflanzen zu sprechen ist Zeitverschwendung, sie sind gar nicht in der Lage zu hören. Ganz sicher."

    Dass Pflanzen die menschliche Sprache nicht verstehen, heiße aber nicht, dass sie dumm seien wie Bohnenstroh. Mancuso spricht sogar von intelligenten Pflanzen.

    "Es gibt Millionen von Definitionen für Intelligenz, aber eine allgemein anerkannte besagt: Intelligenz ist die Fähigkeit, Probleme zu lösen und sich an Veränderungen anzupassen. Damit sind Pflanzen ganz klar intelligent: Sie lösen Probleme - natürlich pflanzenrelevante Probleme, sie brauchen ja nicht den Zauberwürfel zu lösen, sondern müssen Nahrung finden, sich fortpflanzen, im Grunde die gleichen Probleme bewältigen wie alle lebenden Organismen."

    Nicht alle Forscher akzeptieren diese Definition von Intelligenz. Im Grunde sagt sie: Ein Fisch ist intelligent, weil er schwimmen kann. Aber ganz gleich, ob man es Intelligenz oder Überlebensstrategie nennt: Pflanzen können auf veränderte Umweltbedingungen reagieren und sich anpassen. Und Stefano Mancuso bleibt dabei: Sie nutzen bei der Verarbeitung von Reizen aus ihrer Umwelt ähnliche Prinzipien wie Tiere. Also auch die Informationsübermittlung mit elektrischen Signalen. Vor fünf Jahren hat er gemeinsam mit Frantisek Baluska und anderen Kollegen die Gesellschaft für Pflanzenneurobiologie gegründet. Seitdem gibt es immer wieder Kritik von den Fachkollegen.

    "Bei dem Streit um die Pflanzenneurobiologie geht es eigentlich nur um den Begriff. Ich glaube, in Zukunft wird der Begriff akzeptiert werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es zum Beispiel unmöglich von Pflanzenphysiologie zu reden. Physiologie gab es nur bei Menschen und Tieren. Später in den 50er und 60er-Jahren war der Begriff Pflanzenhormone ein Tabu. Heute werden diese Begriffe ganz selbstverständlich in der Wissenschaft gebraucht. Es ist eben einfacher, über etwas zu sprechen, das man aus einem anderen Zusammenhang schon kennt, als sich ein neues Wort einfallen zu lassen."

    Gerhard Thiel dagegen von der technischen Universität Darmstadt hält den Begriff der pflanzlichen Neurobiologie für überflüssig.

    "Pflanzen haben keine Neuronen, dementsprechend gibt es keine pflanzliche Neurobiologie. Meine Meinung dazu ist, ... das ist sicherlich ein schöner PR-Begriff gewesen, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber die Rechtfertigung zur Nutzung dieses Begriffes, die sehe ich nicht."

    Ganz gleich, wie die Namens-Diskussion ausgehen wird. Die Frage bleibt, ob elektrische Signale eine "weitreichende" Bedeutung für Pflanzen haben. Leiten sie wirklich Informationen durch die Wurzel und von einem Blatt zum anderen? Uwe Conrath von der RWTH sieht das Thema gelassen. Es ist eines der Rätsel der Natur, die bisher nicht gelöst sind. Jedes Jahr in der Erstsemester-Vorlesung präsentiert er Ergebnisse über elektrische Signale in Pflanzen, um Neugier bei seinen Studenten zu wecken – und um sie zu Diskussionen anzuregen.

    "Es ist unumstritten, dass es in Pflanzen elektrische Signale gibt. Ich glaube, da würde auch kein seriöser Pflanzenforscher ein Fragezeichen dahinter machen. Sicherlich gibt es solche Signale in Pflanzen, und wenn es sie gibt, dann haben sie auch eine Funktion. Ob das allerdings so weit geht, wie bei den Säugern, da ist noch ein großes Fragezeichen dahinter zu machen, und das wird die Zukunft zeigen."

    "Keine Ahnung! Sie war echt sauer wegen der Geranien. Das nächste Mal pass ich lieber auf den Hund auf – der ist nicht so anspruchsvoll!"

    Sie hörten: Grün und schlau – Forscher fahnden nach einem pflanzlichen Nervensystem.

    Eine Sendung von Verena von Keitz und Michael Lange

    Es sprachen:

    Produktion: Axel Scheibchen
    Redaktion: Christiane Knoll