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Grüne Antworten für Europa

Der Parteitag der Grünen in Kiel brachte vor allem einen Konsens. Was Merkel und Co auf europäischer Ebene nicht klar sagen können oder wollen, reklamiert die Partei für sich klar und deutlich - und legt dabei eine ordentliche Portion Wirtschaftsrealismus an den Tag.

Von Catrin Stövesand und Stefan Maas | 27.11.2011
    "Also, Ihr braucht keine Angst zu haben. Wir machen jetzt hier nicht so etwas wie eine Einzugsorgie, sondern er scheint wirklich noch nicht Bescheid zu wissen. Es wär´ schön, wenn ihm jemand Bescheid sagt ..."

    Die Grünen sind ihrer Zeitplanung voraus. Weit schneller als gedacht haben sie sich am Samstagmittag durch die verschiedenen Anträge gearbeitet. So schnell, dass einer der Hauptredner unfreiwillig zu spät kommt. Winfried Kretschmann, der erste grüne Ministerpräsident, der große Wahlsieger dieses Jahres. Er ist mal gerade rausgegangen. Aus der Halle in Kiel, wo die Grünen an diesem Wochenende ihren Parteitag gehalten haben. Als er schließlich ans Rednerpult eilt, wird der Vorzeigeregierungschef begeistert empfangen.

    "So, liebe Leute, wir waren zu früh. Der Winfried Kretschmann, der wurde bei, wahrscheinlich Ausstellerrundgängen und wichtigen Gesprächen ... haben ihn jetzt aber hier, ist auf dem Weg hierher, Leute, Winfried Kretschmann, unser erster Ministerpräsident, unser erster grüner Ministerpräsident kommt jetzt und wir freuen uns ..."

    Kretschmann winkt in die Menge. Grauer Anzug, blauweiß gestreiftes Hemd. Der Ministerpräsident steht zurzeit wie kein zweiter für den Spagat, den die Grünen versuchen zu meistern. Denn, sagt er, es geht nicht nur ums Regieren:

    "In Baden-Württemberg führen wir nun zum ersten Mal eine Regierung, haben damit eine besondere Verantwortung übernommen. Und ich glaube, das ist ein großer Erfolg für eine Partei und das Ergebnis nicht nur harter Arbeit, sondern dass wir uns treu geblieben sind in unseren Grundanliegen und in unsern Grundwerten."

    Das ist nicht immer ganz einfach für die Partei und ihre Wähler, denn das Projekt, das den Grünen in Baden-Württemberg Rückenwind bei der Wahl verschafft hat, sorgt nun seit Monaten für Gegenwind. Stuttgart 21. Und auch an diesem Samstagmittag lässt es die Partei nicht los. Es ist der letzte Tag vor der Volksabstimmung. Kretschmann streift das Thema nur kurz. Auch wenn es eigentlich im Programm heißt: Rede zur Volksabstimmung über Stuttgart 21. Aber es scheint alles gesagt. Und so wird seine Ansprache kein flammender Appell, kein Aufruf zum Endspurt. Es klingt fast so, als wolle der grüne Ministerpräsident seine Partei vorsorglich schon einmal trösten:

    "Der Konflikt um Stuttgart 21 war schon ein Erfolg, egal, wie es morgen ausgehen wird, weil er die Republik verändert hat. Und weil wir damit einen neuen Schritt in die Bürgergesellschaft tun. Und weil es in Zukunft so sein wird, dass wir die Bürgerschaft an solchen Projekten beteiligen werden und zwar auf Augenhöhe. Und dass wir in einen Prozess gehen werden, der heißt - mehr direkte Demokratie."

    Und auch um die geht es bei dieser Bundesdelegiertenkonferenz. Einen Arbeitsparteitag hatte die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth ausgerufen - und die inhaltliche Vorbereitung auf die nächsten Wahlen, angefangen mit der Landtagswahl im kommenden Jahr in Schleswig-Holstein:

    "2012 – Das Staffelholz wird weitergereicht. Das erfolgreiche von 2011 an euch nach Schleswig-Holstein. Und da werden wir 'nordisch by nature' neue politische Horizonte eröffnen und die politischen Bankrotteure im Land hinter die Deiche schicken, liebe Freundinnen und Freunde. Und ihr kriegt alle Unterstützung der ganzen Partei dafür."

    Ganz im Sinne des Parteitagsmottos: Antwort: Grün. Die Delegierten wollen auf aktuelle Fragen eingehen, grüne Konzepte für drängende Probleme beschließen. Und sie müssen sich neue Themen erarbeiten, mit denen sie in Zukunft punkten können, sagt der Chef des FORSA-Meinungsforschungsinstituts, Manfred Güllner.

    "Die Grünen haben im Grunde genommen außer bei ihren Kernthemen, und das ist die Ökologie, das ist nicht die Anti-Atomkraft, das ist die Ökologie im weiteren Sinne, eigentlich keine Kompetenzen. Man traut ihr nicht zu, dass sie etwa eine vernünftige ökonomische Kompetenz haben, man traut ihr nicht zu, dass sie in der Finanzpolitik irgendetwas machen können."

    Doch die Grünen wollen regieren, wollen Schwarz-Gelb bei der nächsten Bundestagswahl ablösen. Dazu brauchen sie Themen, aber nicht nur, sagt Claudia Roth:

    "Entscheidend kommt es darauf an, dass wir unsere Stärken in die Waagschale werfen. Und was sind unsere Stärken? Unsere Glaubwürdigkeit und unsere Geschlossenheit. Und da gehört auch Kreativität dazu. Ziemlich knallgrün und gar nicht spießig. Dass wir uns aufstellen als eine Partei, die viele Gesichter hat, authentische Frauen und Männer, die Inhalte personalisieren mit einem neuen Politikstil, wie wir ihn in Baden-Württemberg erleben, wie Kretsch immer sagt: hörbar machen und gehört werden. Das ist Partizipation, Teilhabe und Demokratie, wie sie leibt und wie sie leben soll."

    Dieses Thema beschäftigte die Grünen in Kiel auch partei-intern - in einem Experiment. Zum Auftakt, am Freitagabend, bietet die Partei ihren Delegierten die Möglichkeit, in Workshops Themen zu diskutieren, die auf dem Parteitag eine wichtige Rolle spielen sollen. Ein gelungenes Experiment, finden die meisten zum Schluss. Ein Werkzeug auch für zukünftige Treffen, denn diskutiert wurde durchaus kontrovers. Nicht nur über die Frage: Wie halten es die Grünen eigentlich selber mit der direkten Demokratie?

    "Was ich bei den Grünen immer wieder sehe, dass wir uns auf der einen Seite uns ganz klar für direkte Demokratie einsetzen, auf der anderen Seite aber genervt sind. Wir haben Angst, dass das Volk falsch entscheidet. Wir haben Angst davor, dass das Volk zu dumm ist, auf sein Geld aufzupassen, auf sein eigenes."

    "Direkte Demokratie wird nicht dazu führen, dass der Mensch edel hilfreich und gut wird. Es wird dazu führen, dass das gleiche Gezerre am Bürger herrscht von allen Interessenseiten wie auch an den Politikern am Parlament."

    "Wir wählen Parlamentarier. Wie demokratisch sind unsere Parlamentarier? Wie demokratisch, wenn zum Beispiel ein Fraktionszwang besteht, ist das Demokratie, den es eigentlich gar nicht geben sollte?"

    Bei dieser Diskussion muss auch die Partei selbst für sich die Frage beantworten: Wie basisdemokratisch sind die Grünen eigentlich noch? Sind die Strukturen zu intransparent geworden, zu verkrustet, die Macht alleine in den Händen einer kleinen Elite altgedienter Mitglieder? Findet die Basis mit ihren Anliegen noch Gehör bei der Führungsspitze?

    Fragen, die die Grünen spätestens seit September umtreiben.
    Zumindest in Berlin. Dort musste die Partei ihre schwerste Schlappe in diesem sonst so erfolgreichen Jahr verschmerzen. Vor ziemlich genau einem Jahr hatten die Berliner Grünen Renate Künast, die Fraktionsvorsitzende im Bundestag, mit geradezu sozialistischen Wahlergebnissen zu ihrer Spitzenkandidatin ausgerufen. Bei ihrer - von manchen sogenannten - "Krönungsmesse" standen die Parteifreunde bis auf die Straße. Wo wenn nicht in der Hauptstadt – könnte die Partei den Erfolg von Stuttgart wiederholen und die Regierungschefin stellen.

    "Ich bin bereit. Ich kandidiere für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin."

    Das ist damals der Anspruch, und die Umfragewerte geben anfangs Grund zur Hoffnung: Doch die Werte sinken kontinuierlich. Dann am Wahlabend das Ergebnis: 17,6 Prozent der Stimmen, so viel wie noch nie – aber: Der große Traum von der Grünen-Regierungschefin ist geplatzt. Und Renate Künast ist wieder weg. Zurück in der Bundespolitik.

    Zwei Monate danach, Mitte November, ist sie noch einmal da – der Landesausschuss ist zusammengekommen, der kleine Parteitag, um zu diskutieren, was falsch gelaufen ist bei der Wahl, davor und danach. Während am selben Abend SPD und CDU im roten Rathaus die Eckpunkte ihrer künftigen Koalition vorstellen, ist bei den Grünen in einem Saal im Prenzlauer Berg Wundenlecken angesagt. Die Gesamtstrategie habe gefehlt, sagen viele. Es habe eine Spitzenkandidatin gegeben und ein Programm, aber zur Deckung habe man beides nicht bringen können.

    "Wir haben eine Spitzenkandidatin gewollt, wir haben sie uns gemeinsam ausgesucht. Und die Frage müssen wir uns jetzt alle stellen: Haben wir wirklich alle hinter ihr gestanden. Und haben wir tatsächlich auch gemeinsam mit ihr diesem Wahlkampf gemacht?"
    "Wir haben es nicht geschafft, mit unseren Konzepten, sie so auf den Punkt zu kriegen, sie so zu transportieren, sie so aufbereitet zu haben, dass wir dazu in der Lage sind, geschlossen mit diesem Raum tatsächlich auf die Straße zu gehen und zu sagen, dafür stehen wir. Das sind wir, dafür wollen wir gewählt werden, das haben wir noch nicht geschafft."

    Denn eigentlich geht es um ein viel grundsätzlicheres Thema: Sind die Berliner ihren urgrünen Werten treu geblieben? Über diese Frage hat sich der Landesverband tief zerstritten. Zu wirtschaftsfreundlich sei der Wahlkampf gewesen – zu sehr auf bürgerliche Wähler ausgerichtet – viel zu sehr und zu lange habe die Spitzenkandidatin mit der CDU geliebäugelt, findet der linke Parteiflügel.

    Und auch die Delegierten in Kiel müssen sich fragen. Wie halten wir es mit den Finanzen? Wie mit der Wirtschaft? Mit ihrem "Green New Deal", dem Wirtschaftsmodell, das die Grünen seit ein paar Jahren immer weiter entwickeln, wollen sie Antworten geben auf die Schulden- und Finanzkrise, wollen die soziale Schieflage überwinden, wie es im Antrag heißt – und sie wollen die soziale und ökologische Modernisierung Deutschlands. Dafür wiederum brauchen sie die Wirtschaft. Brauchen Unternehmer und Manager. Auch dort müsse man nach Partnern suchen, sagte Parteichef Czem Özdemir.

    "Partner, die wir suchen bei den Gewerkschaften. Partner, die wir aber auch ausdrücklich suchen bei der Wirtschaft. Nur mit ihnen zusammen werden wir den Umbau des Industrielandes Bundesrepublik Deutschland in eine nachhaltige Volkswirtschaft bewerkstelligen können."

    Doch zu wirtschaftsfreundlich dürfen die Grünen auch nicht sein, denn die Haushaltspolitik soll solide sein – und das bedeutet, für den Fraktionsvorsitzenden, Jürgen Trittin:

    "Eine solide und solidarische Finanzpolitik beruht auf einem Dreiklang. Auf Sparen, auf Subventionsabbau und auf Einnahmeverbesserungen. Und ich sage in aller Deutlichkeit: in dieser Reihenfolge."

    Das Dienstwagenprivileg soll abgeschmolzen werden. Es soll weniger Ausnahmen bei der Ökosteuer geben, Kerosin soll höher besteuert werden, die Lkw-Maut steigen. Das Ehegattensplitting ist für die Grünen nicht mehr zeitgemäß. Sie wollen eine höhere Erbschaftssteuer und eine zeitlich befristete Vermögensabgabe von 1,5 Prozent auf große Vermögen. Die soll in zehn Jahren rund 100 Milliarden Euro einbringen.

    Die Gewerbesteuer würde nach dem Willen der Partei zu einer kommunalen Wirtschaftssteuer ausgebaut, die auch Selbstständige, Freiberufler sowie land- und forstwirtschaftliche Betriebe zahlen. Die Finanztransaktionssteuer wollen die Grünen sowieso.

    Und die Erhöhung des Einkommensteuerspitzensatzes. Der lag noch zu Zeiten Helmut Kohls bei 53 Prozent, wurde unter Rot-Grün gesenkt – auf 42 Prozent. Das wollen die Grünen ändern, denn, das betonen sie immer wieder: Starke Schultern sollen mehr tragen als schwache. Doch wie viel ist mehr?

    Sollen es 49 Prozent sein, um damit unter der psychologisch wichtigen Grenze von 50 Prozent zu bleiben, wie es der Bundesvorstand fordert? Oder setzt sich die grüne Jugend durch mit ihrem Antrag?

    "Es ist jetzt wichtig, sich für 2013 gut aufzustellen, es ist wichtig, dass wir deutlich machen, wie viel Geld wir haben und wie viel nicht. Es ist wichtig, jetzt deutlich zu machen, dass wir keine weichgespülten Kompromisse ins Wahlprogramm schreiben. Darum lasst uns endlich mutig sein und endlich auch die SpitzenverdienerInnen mehr zur Kasse bitten, und den Weg zur echten Umverteilung gehen. Und zwar mit 53 Prozent."

    Zurück zu Helmut Kohl? Nicht nur deswegen ist diese Forderung für die Befürworter der 49 Prozent – wie den grünen Spitzenkandidaten in Schleswig-Holstein, Robert Habeck - keine Option.

    "Die Debatte, die wir jetzt hier führen, nervt, wenn sie zu einem Wer-bietet-mehr-Wettbewerb wird. Das ist ja nicht wie beim Schlachter, wo man sagt, ich pack noch mal ein bisschen was drauf, es ist kein Spiel oder Sport, sondern es sind durchgerechnete Konzepte. Und deswegen können wir nicht klatschen, wenn Kretschmann oder andere Leute sagen, der Mittelstand organisiert sich ökologisch, die Personengesellschaften sind das Rückgrat der Wirtschaft, und dann klatschen wir alle, aber wenn es dann dagegen geht, dann stimmen wir dem wieder zu. Das ist nicht logisch."

    Und auch Winfried Kretschmann selbst mahnt in seiner Rede die Parteifreunde zur Mäßigung. Denn Kretschmann regiert ein Land, das von einem starken Mittelstand profitiert. Ein Grund, warum er sich auch eine Spitze gegen den Bundesvorstand nicht verkneift:

    "Also bleibt da bitte auf dem Teppich, wenn wir in die Substanzsteuern gehen, wie die Vermögensabgabe, dann können wir nicht auch gleichzeitig beim Spitzensteuersatz hochschießen. Beides geht nicht."

    Am Ende ist alles ganz unspektakulär. Der Bundesvorstand bekommt seine 49 Prozent. Auch bei der von der Parteispitze geforderten Einstiegshöhe für den Spitzensteuersatz bleibt es: 80.000 Euro. Am verringerten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent halten die Delegierten fest. Und die Vermögensabgabe soll kommen, wenn die Grünen wieder regieren. Für zehn Jahre. Danach würde die Vermögenssteuer wieder eingeführt.

    Der Parteivorstand kann sich mit beinahe allen Anträgen durchsetzen. Die Abstimmungen erfolgen demokratisch, geordnet und – zumindest für die Grünen - wenig kontrovers.

    Bei den zwölf Demokratie-Workshops geht es etwas lebhafter zu. In dem Tagungsraum, in dem über direkte Demokratie diskutiert wird, steht eine provisorische grüne Trennwand. Dahinter geht es um ein ganz anderes Thema - um ein mögliches neues NPD-Verbotsverfahren.

    "Die große TeilnehmerInnenzahl zeigt es ja. Es gibt den Wunsch nach intensiver Debatte in dieser Frage. Und es zeigen ja auch diverse Anträge. Wir werden nicht alle Anträge vorstellen, sondern ..."

    Der Workshop sammelt und diskutiert Argumente für und gegen ein Verbotsverfahren. Die Frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Astrid Rothe-Beinlich, achtet sorgfältig darauf, dass der Geschlechterproporz in der Diskussion eingehalten wird.

    "Jetzt kommt wieder eine Pro-Position und zwar von einer Frau."
    "Schon wieder?"- "Pro, eben war ja kontra, ich hab's mir genau aufgeschrieben."

    Die Diskussion um ein NPD-Verbot und die Haltung zur rechtsextremistischen Mordserie gehören zu den aktuellen Themen, die der Parteitag aufgreift. Antwort: Grün – die Mordserie wird einhellig – mit ähnlichem Wortlaut wie zuvor im Bundestag – verurteilt. Der Vorsitzende Cem Özdemir:

    "Diese Gesellschaft steht zusammen, egal, welche Herkunft die Menschen haben. Rechtsterrorismus bei uns und anderswo hat keine Chance. Und wir werden keine Ruhe geben, bevor der gestoppt wird."

    Özdemir trägt wie viele der Konferenzteilnehmer einen Anstecker, der sozusagen das zweite Parteitagsmotto verkündet. Ein gelber Button, auf dem ein Hakenkreuz in einer roten Mülltonne versenkt wird – Nazis? Nein Danke – steht darauf. Da sind sich alle einig. Beim NPD-Verbotsverfahren scheiden sich dagegen die Geister.

    Letztlich votieren die Delegierten für ein weiteres Verbotsverfahren, Voraussetzung: Der Erfolg muss so gut wie garantiert sein. Damit dürfte das Thema auch innerhalb der Partei noch lange nicht vom Tisch sein. Aber das Delegiertenvotum gilt – demokratisch erarbeitet – im Demokratie-Workshop. Mehr Demokratie soll nach dem Willen der Grünen auch die Europäische Union künftig prägen.

    Im europapolitischen Teil ihres Arbeitsparteitages stimmen die Grünen für eine EU-Reform, die vor allem das Europäische Parlament stärken soll. Die Grünen wollen, dass die EU-Kommission zu einer Wirtschaftsregierung wird. Und diese soll der Kontrolle des Europäischen Parlaments unterstehen. Ziel ist eine EU, die mehr für und von den Bürgern geprägt ist.

    Bei dieser Vision erhalten die Grünen Schützenhilfe von Giorgos Papandreou, bis vor Kurzem griechischer Ministerpräsident. Auf der Delegiertenkonferenz wirbt der Sozialdemokrat nicht nur für Klimaschutz und grüne Technologie, sondern auch für mehr Demokratie.

    "Wir brauchen ein demokratischeres Europa. Denn die Entscheidungsprozesse haben sich verändert. Entscheidungen werden nur noch von ein paar Wenigen getroffen. Wir müssen unsere demokratischen Strukturen und Institutionen erneuern und wiederbeleben. Denn die Machtkonzentration hat sie ausgehöhlt.""

    Um den Debatten über ein mögliches Kerneuropa oder Abspaltungen zu begegnen, hat die selbst ernannte Europa-Partei eine weitere Reform-Idee: Die Grünen wollen die Verfassung ändern. Sie wollen darin die Zugehörigkeit Deutschlands zur Europäischen Union festschreiben. In diesem Zusammenhang warnt der Parteivorsitzende Cem Özdemir noch einmal nachdrücklich vor einer Abschottung – das gelte sowohl für die einzelnen Mitgliedsstaaten, als auch für die Europäische Gemeinschaft:

    "Für uns heißt Europa auch, dass man sich nicht nur nicht zurückzieht auf die nationale Scholle, weil wir uns das gar nicht leisten können angesichts der Globalisierung von allen Problemen. Frau Merkel erklärt immer, wohin das Schiff nicht soll. Aber wir wüssten schon auch mal gern, wohin das Schiff Europa mit Frau Merkel soll. Wenn Europa ein Kreuzfahrtschiff wäre, dann würden wir Europäer schon längst alle kotzend an der Reling hängen, weil Frau Merkel jede Woche das Ruder herumreißt in eine andere Richtung. Es wird Zeit, dass Europäer in Deutschland wieder Verantwortung übernehmen - und das ist die Europa-Partei Bündnis 90/Die Grünen. Herzlichen Dank."

    Antwort: Grün – Europa-Politik, Finanz- und Wirtschaftspolitik, neue Formen von Demokratie. Ritualisierte Formen von Demokratie fehlen auch bei diesem Grünen-Parteitag nicht. Viele Delegierte folgen dem Aufruf der Spitze und setzen sich am Sonntagnachmittag nicht in den Zug nach Hause. Sie fahren ins Wendland – protestieren gegen den Castor-Transport.

    Alte Themen, neue Themen. Ökologie und Wirtschaft. Direkte Demokratie und europäische Integration. Die Grünen versuchen zu verbinden, suchen ihre neuen großen Themen und die notwendigen kleineren, wie die Freiheit im Internet – bisher besetzt von den Piraten. Und sie fahren nach ihrem Arbeitsparteitag weitgehend zuversichtlich nach Hause – oder eben ins Wendland.

    "Ich glaube an uns und an die neue Phase Grün. Vielen Dank."