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Grünen-Geschäftsführer
"Das Thema Klimaschutz ist zu groß für eine Partei alleine"

Der Bundesgeschäftsführer der Grünen, Michael Kellner, sieht im Ausgang der Europawahl eine Bestätigung für die Politik seiner Partei. Das Thema Klimaschutz habe endlich die Bedeutung bekommen, die es verdiene, sagte Kellner im Dlf. Auch die anderen Parteien sollten die Lehren dieser Wahl verstehen.

Michael Kellner im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 27.05.2019
Der politische Bundesgeschäftsführer der Grünen, Michael Kellner
Grünen-Geschäftsführer Kellner: "Klima gegen soziale Gerechtigkeit ist ganz altes Denken" (picture alliance/dpa/Sven Simon)
Ann-Kathrin Büüsker: Erstmals zweitstärkste Partei bei einer bundesweiten Wahl. Die Grünen erlangten gestern 20,7 Prozent der Stimmen. Der Jubel war groß. Über dieses Ergebnis möchte ich jetzt mit Michael Kellner sprechen, politischer Bundesgeschäftsführer der Grünen. Einen schönen guten Morgen!
Michael Kellner: Einen wunderschönen guten Morgen!
Büüsker: Herr Kellner, in den vergangenen Wochen gab es dank der YouTube-Szene noch mal Aufwind für das Klimaschutz-Thema und eine klare Wahlempfehlung für Ihre Partei. Wie dankbar sind Sie dafür?
Kellner: Ich bin hoch dankbar über dieses Ergebnis. Ich konnte es immer noch nicht glauben. Ich bin heute Morgen aufgestanden und habe noch mal schnell im Internet geschaut, ob ich nicht wirklich nur geträumt habe. Und es ist Wahnsinn. Wir haben Kampagnen gemacht, auch 2017. Da wollten wir auch über Klimaschutz reden. Es ist nicht gelungen, das zu einem Thema zu machen, obwohl wir es versucht haben, und ich glaube, wir haben jetzt eine Repolitisierung der Gesellschaft und der Jugend gesehen, und es hat sich ausgezahlt, dass wir auch in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder an diesem Klimaschutz-Thema gearbeitet haben. In dieser Wahl hat dieses Thema die Bedeutung bekommen, die es verdient.
"Klimaschutz zu groß für eine Partei alleine"
Büüsker: Was ja sehr auffällig war gestern Abend ist, dass eigentlich alle Parteien plötzlich das Thema Klimaschutz angesprochen haben und zukünftig mehr auf dieses Thema setzen wollen. Wie groß ist Ihre Sorge, dass die anderen Parteien Ihnen da die Kompetenz abknöpfen?
Kellner: Da habe ich überhaupt keine Sorge. Als Klimaschützer kann ich Ihnen nur sagen, ich würde mich freuen, ich würde mich wirklich so freuen, wenn die anderen Parteien die Lehre dieser Wahl verstehen und insbesondere die Große Koalition endlich Ernst machen würde mit dem Klimaschutz, weil es ist ein riesiges Thema. Das ist als Thema zu groß für eine Generation, für eine Partei alleine, um dieses Klima zu retten, die Klimakrise zu bekämpfen. Deswegen braucht es da volle Energie und dafür gibt dieses Wahlergebnis einen großen Rückenwind. Das finde ich ganz entscheidend, ganz wichtig, und mein Wunsch, meine Hoffnung wäre, dass die Parteien der Großen Koalition dazu stehen und zweitens auch verstehen, dass wir in Europas Zusammenhalt investieren müssen und endlich diese Bundesregierung aufhören muss mit der Blockadepolitik auf europäischer Ebene.
Büüsker: Sie sagen Rückenwind. Man könnte es auch Vorschusslorbeeren nennen. Wie groß ist die Gefahr, am enormen moralischen Anspruch, den Hoffnungen gerade auch der Jugend zu scheitern?
Kellner: Wir haben jetzt gestern Abend wirklich gefeiert und waren erst mal erleichtert und froh, und jetzt werden wir einfach weiterarbeiten. Wir werden weiter dafür kämpfen, dass wir jetzt gestärkt diese Inhalte auch umsetzen, dass wir vorankommen. Wir werden weiterhin das in den Parlamenten und auf der Straße tun.
Dossier: Europawahlen
Alle Beiträge zur Europawahl in unserem Dossier (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
Grüne wollen Verantwortung übernehmen
Büüsker: Umsetzen ist ein gutes Stichwort. Ist das bisher nicht auch ein bisschen der Vorteil der Grünen, dass sie eigentlich auf bundespolitischer Ebene nie Verantwortung übernehmen mussten in den vergangenen Jahren und deshalb viel fordern können, es aber letztlich praktisch nicht umsetzen müssen?
Kellner: Wissen Sie, ich war ja bei den gescheiterten Jamaika-Sondierungen dabei. Da ist es uns auch erst mal nicht gelungen, was uns auch im Wahlkampf nicht gelungen ist, damals hart über Klimaschutz zu reden und zu ringen. Und es war klar, dass wir da auf eine große, große Blockadegruppe bei der FDP und bei der Union gestoßen sind - am Ende ist die FDP davongehoppelt. Es war ja nicht so, dass wir Grünen uns der Verantwortung verweigert hätten. Im Gegenteil! Wir haben wirklich schwierige Gespräche geführt und waren bereit, weil uns auch diese Frage von Klimaschutz, Umweltschutz, sozialer Gerechtigkeit so umtreibt. Und dass die FDP davongelaufen ist, dafür kann ich nichts.
Klimaschutz und Wohlstand - kein Widerspruch
Büüsker: Sie zeigen jetzt auf die anderen, aber Politik ist ja immer ein Ringen um Kompromisse. Gerade bei der Klimapolitik geht es ja auch darum, Kompromisse zu finden, wo auch Arbeitsplätze erhalten werden. Jetzt bei aller Euphorie für das Thema Klimaschutz, brauchen die Grünen nicht auch mal Konzepte für soziale Fragen in dieser Hinsicht?
Kellner: Wir haben schon vor 20 Jahren angefangen zu überlegen, wie in den Braunkohlerevieren, beispielsweise in der Lausitz, eine zukunftsfähige Politik aussehen kann. Das Gegenteil ist meines Erachtens richtig. Das ist ganz lange verschlafen worden. Da haben wir wirklich Ideenkonzepte vorgelegt und ich würde mich sehr freuen, wenn sie umgesetzt werden würden. Wie gesagt, da werden wir nicht nachlassen. Das Entscheidende ist doch, dass unser Wohlstand davon abhängt, dass wir mit Klimaschutz vorankommen und dass dieses Denken, man könnte Klima gegen Wohlstand stellen und Klima gegen soziale Gerechtigkeit, wirklich ein ganz altes Denken ist, was uns nicht weiterbringt.
Grüner Aufschwung auch im Osten
Büüsker: Sie sagen, es gibt schon Konzepte, haben jetzt explizit die Lausitz angesprochen. Nun gucken wir auf die Ergebnisse der Europawahl. Die AfD ist im Osten stärkste Kraft geworden, in Sachsen, aber auch in Brandenburg. Die sozialen Antworten, die Sie geben, damit scheinen Sie in Ostdeutschland nicht so richtig durchzudringen.
Kellner: Ich komme ja selber aus Ostdeutschland und wir haben auch einen anderen Osten gesehen. Ich freue mich wahnsinnig und das ist für uns ein riesiger Erfolg. Wir sind beispielsweise auch stärkste Partei in Leipzig geworden oder zweitstärkste Kraft in Dresden.
Büüsker: Leipzig ist aber immer ein bisschen anders.
Kellner: Wir haben auch in Ostdeutschland für uns wirklich starke Ergebnisse und da sehen wir auch einen Rückenwind für die anstehenden Landtagswahlen. Und ja, wir werden in Ostdeutschland weiter dafür kämpfen müssen, aber es gibt auch - und das ist jetzt für mich das Traurige an diesem Ergebnis - einen anderen Osten. Nicht der ganze Osten ist blau oder AfD. Dafür sind wir eine Stimme und das wollen wir auch in den anstehenden Wahlkämpfen sein.
Büüsker: Schauen wir vielleicht gemeinsam auf die europäische Ebene, denn es waren ja Europawahlen. Ska Keller, Spitzenkandidatin der Grünen, hat gestern betont, dass die Grünen auch deshalb gewählt worden seien, weil sie den Zusammenhalt im Europäischen Parlament stärken wollen. Das Parlament ist nun nach dieser Wahl enorm zersplittert. Wie kann da Zusammenhalt überhaupt gelingen?
Kellner: Erstens: Es muss darum gehen, dass die proeuropäischen Kräfte gemeinsam eine EU-Kommission voranbringen, die, wie Ska Keller das sagte, einen Klimaschutz voranbringen, die soziale Gerechtigkeit voranbringen, die in Europa investiert. Dafür muss man jetzt in den nächsten Tagen Gespräche führen, dass eben nicht das im Hinterzimmer der Regierungschefs ausgedealt wird, sondern über das Parlament, wer die nächste Kommission anführen wird. Da ist für uns natürlich das Freudige, dass wir die größte Grünen-Fraktion, die wir jemals hatten im Europaparlament, haben werden.
Wahl des Kommissionspräsidenten
Büüsker: Sie halten am Konzept des Spitzenkandidaten fest?
Kellner: Ja. Wir wollen, dass eine Person Kommissionspräsident/-präsidentin wird, die vorher Spitzenkandidat oder Spitzenkandidatin war.
Büüsker: Heißt, die Grünen würden auch Manfred Weber in das Amt wählen?
Kellner: Wir haben drei klare Ansprüche an diese EU-Kommission. Das sind Inhalte, Inhalte, Inhalte. Uns geht es darum, wie können wir erreichen, dass die Europäische Union - da muss man fairerweise sagen, die Europäische Union, das Europäische Parlament macht vielleicht nicht genug, aber hat deutlich mehr auf die Reihe bekommen als der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung, beim Thema Klimaschutz. Dass es zweitens damit vorangeht, dass Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleibt in der Europäischen Union, dass man auch Leuten wie Orbán oder Salvini klar entgegentritt, wenn sie gegen unsere Grundwerte in Europa verstoßen. Und drittens, dass wir in den sozialen Zusammenhalt in ganz Europa investieren, beispielsweise für eine gemeinsame Unternehmensbesteuerung, die ja auch immer noch blockiert wird durch die deutsche Bundesregierung, und darüber auch investieren in Europa.
Büüsker: Sozialer Zusammenhalt entsteht nur durch mehr Besteuerung?
Kellner: Sozialer Zusammenhalt entsteht zum Beispiel, dass wir ruinösen Unternehmenswettbewerb in ganz Europa, wo sich alle versuchen zu unterbieten, so verhindern, dass auch Unternehmen ihren fairen Beitrag zur Finanzierung unseres Gemeinwohls leisten. Es kann ja nicht sein, dass große Konzerne kaum Steuern zahlen - aber der Buchhändler um die Ecke wohl. Das ist eine Gerechtigkeitslücke - und das merken Menschen auch. Und ja, wir sehen auch, wenn ich mir anschaue, wie hoch die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa ist, wenn ich mir anschaue, wieviel Geld wir für den "Green New Deal", für Investitionen in Klimaschutz brauchen, dann brauchen wir auch eine faire Steuerpolitik in Europa. Ja, das ist ein wichtiger Punkt.
Büüsker: Das klingt jetzt aber eher, als wäre die SPD Ihr bevorzugter Koalitionspartner.
Kellner: Wenn Sie mich fragen würden, welcher Partei ich näher stehe und was ich mir am liebsten wünschen würde, dann ist die SPD sicherlich näher. Aber es geht auch darum, eine Mehrheit zu bilden und dafür zu kämpfen, wie erreicht man möglichst viele Inhalte, die man umsetzen kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.