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Grüner Ministerpräsident
Warum Winfried Kretschmann so beliebt ist

Baden-Württembergs Ministerpräsident ist laut Umfragen der beliebteste Politiker Deutschlands. Dabei kommt Winfried Kretschmann häufig langsam daher - und ist parteiintern vielen Grünen zu bürgerlich. Warum kommt er so gut an?

Von Uschi Götz und Brigitte Henkel-Waidhofer | 22.12.2019
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen)
Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (picture alliance/ dpa/ Christoph Schmidt)
Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist laut einer Ende September veröffentlichten Umfrage des ZDF-Politbarometers der beliebteste Politiker Deutschlands, vor Bundeskanzlerin Angela Merkel und vor dem Bundesparteivorsitzenden der Grünen, Robert Habeck. Als Kretschmann nach der Sommerpause bekannt gab, er werde für eine dritte Amtszeit kandidieren, schossen die Umfragewerte der Grünen in Baden-Württemberg nach oben. Bei der Sonntagsfrage für das Land kam die Partei auf 38 Prozent.
Wer ist Winfried Kretschmann? Was hat er, was andere Politiker nicht haben?
"Dass, was viele anfangs dachten: behäbig und langsam und so ungewohnt im Vergleich zu anderen Politikerinnen und Politikern, das ist sein Markenzeichen geworden. Da ist er wirklich anders als die anderen."
Frank Brettschneider ist Professor für Kommunikationswissenschaft und lehrt an der Universität Hohenheim. Er beobachtet und analysiert Kretschmanns' Politikstil schon seit vielen Jahren. Kretschmann habe nie eine Karriere in der Politik geplant, das sei das Entscheidende. "Man hat bei ihm nie den Eindruck gehabt, er drängt zu dem Amt, er will das unbedingt werden, und das Ich steht im Mittelpunkt. Sondern bei Kretschmann ist eigentlich immer das Gefühl, es geht um mehr als um das Ich."
Stephan Grünewald ist Psychologe und Autor. In seinem jüngsten Buch 'Wie tickt Deutschland?' hat er den Seelenzustand der Deutschen analysiert. Auch die Politikerseelen kennt Grünewald, den die "FAZ" als Psychologen der Nation bezeichnet. Über Kretschmann sagt er: "Die Menschen haben ganz feine Antennen dafür, ob etwas gespielt, gekünstelt ist oder wirklich dem Menschen entspringt. Und von daher erlebe ich ihn als jemanden, der sich so gibt, wie er lebt und leibt."
Wie lebt und arbeitet Deutschlands beliebtester Politiker? Fünf Tage in seiner Nähe geben einen Einblick.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und seine Ehefrau Gerlinde lachen beim Politischen Aschermittwoch der Grünen in Baden-Württemberg in der Stadthalle Biberach.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und seine Ehefrau Gerlinde beim Politischen Aschermittwoch der Grünen in Baden-Württemberg (dpa/ picture-alliance/ Felix Kästle)
Seit fast neun Jahren Ministerpräsident
Kurz nach neun Uhr. Der stellvertretender Regierungssprecher, Arne Braun, ist auf dem Weg ins Büro des Ministerpräsidenten. Seit halb acht hat er sich durch Pressespiegel gelesen, in der sogenannten Presselage stellt er gleich Auszüge daraus vor.
"Hallo! So, guten Morgen, heute an einem Dienstag. Ich mache die Lage unten beim Chef."
Gemeint ist natürlich beim Ministerpräsidenten. Zu hören ist die Presselage in den Büros des Staatsministeriums. Ist der Chef nicht im Hause, bekommt er die Lage telefonisch. Heute ist er da und wird wie fast immer still zuhören.
"Der VfB hat gewonnen und Gomez hat ein reguläres Tor geschossen."
Braun beginnt oder endet fast immer mit einer guten Nachricht. Winfried Kretschmann sitzt am Besprechungstischs seines Büros und hört zu. Auf dem Tisch brennen auf einem Adventskranz zwei Kerzen. Weniger aufgeräumt ist sein Schreibtisch gegenüber: Mappen, Zeitungen, Bücher liegen verstreut herum.
Seit fast neun Jahren ist er Ministerpräsident im wirtschaftsstarken Baden-Württemberg. Der 71-Jährige schätzt die politische Philosophin Hannah Arendt. Vor der Landtagswahl 2011 rief er für sich und seine Partei die erstaunlich flache Maxime aus: "Wir bleiben auf dem Teppich, auch wenn der gerade fliegt."
Der Teppich fliegt schon lange: Der Grüne wird inzwischen in Stadt und Land, parteien-, branchen- oder altersgruppenübergreifend respektiert.
"Ergänzungen? Keine. Dann wünsche ich einen guten Tag."
Die Presselage ist durch. Der Opposition im Landtag und auch manchmal dem Koalitionspartner CDU sind die Journalisten der Landespressekonferenz mit Blick auf Kretschmann häufig zu unkritisch.
Kühne Worte
Der Ministerpräsident hingegen ist nicht immer zufrieden damit, was über ihn geschrieben wird. Manch einen Journalisten lädt er deshalb auch schon einmal zum persönlichen Gespräch ein.
"Ich würde mal sagen, das ist grundsätzlich gut, mein Verhältnis zu Journalisten. Und ich streite mich eben auch manchmal gerne mit ihnen. Und ich finde, darauf können sie sich auch einlassen und sollten das auch mehr tun. Und man muss nicht immer gleich damit kommen, wenn ich etwas kritisiere, dass ich dann an der Pressefreiheit rumbossle. Natürlich, ich stehe ja auch ständig unter Kritik. Ich muss schon sagen, seit acht Jahren lese ich den Pressespiegel, da habe ich schon manchmal den Eindruck, ich bestehe eigentlich nur aus Fehlern, aus Defiziten, mache nie wirklich was ganz richtig, das kann ja nicht sein."
"Meine Leut'", sagt Kretschmann oft, wenn er von seinem Team spricht. Meine Beamten, wenn er sein Staatsministerium und dessen Zuarbeit lobt. Die Zuarbeit ist umfangreicher als bei allen seinen Vorgängern, ist von Mitarbeitern zu erfahren, die schon seit über zehn Jahren im Ministerium arbeiten.
Seine Leut' möchten ihn eben auf jede Eventualität vorbereiten. Und er möchte vorbereitet sein.
Das hat auch mit einem einzigen Satz zu tun. "Weniger Autos wären natürlich besser als mehr", das sagte er der "Bild"-Zeitung vor acht Jahren, kurz bevor er Regierungschef wurde im Autoland Baden-Württemberg. Er sagte noch mehr, nämlich dass neue Mobilitätskonzepte her müssten. Aber hängen geblieben ist dieser eine Satz. Der damalige Daimler-Chef stand am nächsten Tag bei ihm vor der Tür. Seit diesem prägenden Erlebnis will Kretschmann behutsamer sein mit kühnen Worten.
Winfried Kretschmann posiert auf dem Fahrersitz eines Autos.
Winfried Kretschmann - grüner Ministerpräsident im Autoland Baden-Württemberg (picture alliance / dpa / Felix Kästle)
Kein Mann für Talkshows
Wo er auftritt und wem er ein Interview gibt, das entscheiden seine Leut': "Es gibt Formate, die nicht zu Kretschmann passen. Also beispielsweise diese Fernsehtalkformate, zwei, drei Ausnahmen funktionieren gut. Aber er muss jetzt nicht bei Plasberg sitzen oder bei Anne Will. Erstens ist der Aufwand immens hoch und zweitens passt das nicht zu ihm. Also muss man gucken, was richtig gut ist für ihn."
Die meisten Talkshows passen nicht, weil Kretschmann sich oft lang und manchmal auch umständlich erklärt. Wird er in seinen Ausführen unterbrochen, kann das für sein Gegenüber unangenehm werden.
"Man muss den Kretschmann nicht verändern. Der ist so, wie er ist. Und mit ihm als Person kann man sehr gut arbeiten, weil er eine unglaubliche Tiefe hat. Weil er in Themen drin ist, weil er Generalist ist, weil er diesen Kompass hat. Lustigerweise orientieren wir uns an diesem Kompass auch immer wieder neu. Das unterscheidet ihn von vielen anderen."
Glaubwürdigkeit auch bei jungen Wählerinnen und Wählern
Kretschmanns Kompass wird nicht zuletzt auch von seiner tiefen Gläubigkeit bestimmt. Doch viele weitere Facetten kommen hinzu und sprechen sowohl ältere als auch jüngere Menschen an. Kommunikationswissenschaftler Brettschneider zählt auf:
"Das betonen von Heimat, von Dialekt, dieses Verwurzelte auch in der Region. Und nicht das Herauskehren einer städtischen Attitüde, sondern die regionale Verwurzelung. Das wird bei ihm deutlich. Und dann sind das eher die älteren Wählerinnen und Wähler, er hat aber auch den Zugang zu dem urbanen, zu den Jugendlichen, das kriegt er hin. Überwiegend auch über Themen, weil er die Themen adressiert. Und wie auch schon vor 30 Jahren adressiert hat, die Fridays for Future heute adressieren. Da hat er eine große Glaubwürdigkeit."
Dienstags tagt auch die Ministerrunde, in der klassizistischen Villa Reitzenstein, hoch über dem Stuttgarter Talkessel. Kretschmann hätte gerne normale Büros in der Stadt bezogen. Inzwischen sind ihm eine kleine Mansarde in der Villa und vor allem der Park zur zweiten Heimat geworden.
Der Medienforscher Frank Brettschneider, aufgenommen am 25.01.2016 in Räumlichkeiten der Universität Stuttgart Hohenheim
Der Medienforscher Frank Brettschneider (Marijan Murat/dpa)
Kretschmann rät zur "Kretschmannisierung der Klimapolitik"
Gleich beginnt die Kabinettssitzung, Journalisten dürfen an den Sitzungen nicht teilnehmen.
"Herzlich willkommen, liebe Kolleginnen und Kollegen zur Regierungspressekonferenz."
Auch das gehört zu jedem Dienstag: Punkt 12 Uhr beginnt im Bürgerzentrum des Landtags die Regierungspressekonferenz. Ministerpräsident Kretschmann ist nahezu bei allen Terminen dabei.
Eine halbe Stunde lang werden erst einmal aktuelle Fragen gestellt. Hölzchen-und-Stöcken-Runde" nennt Kretschmann dieses Ritual. Heute wird er mit einem Artikel aus der "Zeit" konfrontiert. Die Klimapolitik aller Parteien sei völlig unzureichend. Diesen Vorwurf erhebt in einem Gastbeitrag Felix Ekardt. Ekardt ist Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig und Professor an der Uni Rostock.
Es scheine, dass selbst die Grünen in einer Art von Kretschmannisierung ihre Ökoforderungen zunehmend so ausrichteten, dass sie niemanden in seinem Lebenswandel störten, schreibt der Wissenschaftler. Kretschmann äußert sich zu diesem Vorwurf selbstbewusst:
"Kretschmannisierung wäre gut bei der Klimapolitik, das kann ich allen nur raten. Das hieße zum Beispiel einen Einstiegspreis von 40 Euro, das wäre Kretschmannisierung. Gut wär es, das soll er mal den anderen empfehlen, dass sie meiner Kenntnis, meinem Engagement, meiner Erfahrung in dieser Frage folgen."
Ziel: Sich nicht verbiegen lassen
Kretschmann spielt auf den CO2-Preis an, bei dem sich Bundestag und Bundesrat gerade auf einen Einstiegspreis von 25 Euro geeinigt haben. Ob er in diesem Jahr weniger geflogen sei, wird Kretschmann als nächstes gefragt.
"Das hat sich sicher nicht reduziert. Ich fliege ja nicht zum Vergnügen! Ich muss eben meine Berlin-Flüge machen, anders kann ich das Amt ja nicht sinnvoll ausüben. Und die Flüge werden kompensiert."
Im Zug fuhr Kretschmann zu seinem ersten Auslandsbesuch 2011 nach Paris. Der damalige deutsche Botschafter in Frankreich lehnte es als nicht standesgemäß ab, ihn am Gare de l'Est abzuholen. Damals betrat Kretschmann zum ersten Mal in seinem Leben ein Fünf-Sterne-Plus-Hotel.
Jetzt sitzt er wieder im Zug und wieder geht es nach Paris. Heute ist er als Botschafter für Baden-Württemberg unterwegs. Es geht um die Wissenschafts- und Forschungslandschaft zuhause, in Paris will er sich zudem über Frankreichs Initiativen im Bereich der Künstlichen Intelligenz informieren. Auf der mehrstündigen Fahrt ist Zeit darüber nachzudenken, was sich seit dem Amtsantritt verändert hat - oder auch nicht.
"Das habe ich mir von vorneherein vorgenommen, verbiegen lasse ich mich nicht. Und das würde ich eigentlich schon auch für mich in Anspruch nehmen, dass ich mich in dem Amt nicht habe wirklich verbiegen lassen, sondern der, der ich bin, ich geblieben bin."
Psychologe Grünewald: Kretschmann verspricht Konstanz
Nur sein Aussehen hat sich verändert und das ist seinen erwachsenen Kindern zu verdanken. Sie rieten ihm zu einer neuen Frisur, der Ringo-Starr-Bubikopf schien zu bieder. Seitdem ist der Bürstenhaarschnitt sein Markenzeichen. 300 Krawatten hängen mittlerweile im heimatlichen Kleiderschrank in Laiz bei Sigmaringen auf der schwäbischen Alb. Die meisten davon sind grün.

Die Optik hat sich verändert, doch er selbst ist sich treu geblieben. Diese Authenzität sei spürbar, vor allem junge Menschen hätten dafür Antennen. Davon ist der Psychologe Grünewald überzeugt:
Stephan Grünewald sieht auf einem Stuhl der ZDF-Talkshow Markus Lanz.
Der Psychologe Stephan Grünewald sieht die Stärke von Kretschmann in diesem Konstanz-Versprechen (imago)
"Die Grundangst von Kindern und Jugendlichen ist nicht mehr die Angst, einen Hungerwinter zu überleben, dass der nächste Krieg vor der Tür steht, sondern die Grundangst ist, meine Familie, das was mir Halt und Sicherheit gibt, kann auseinanderbrechen. Von daher erleben wir bei jungen Leuten eine verstärkte Sehnsucht nach Unverbrüchlichkeit, nach Treue, nach Konstanz. Und all das verspricht und repräsentiert Kretschmann."
Nicht so für Vertreter der Umweltbewegung Fridays for Future. Drei Treffen verliefen sehr unterschiedlich. Vor allem beim ersten Gespräch fühlten sich die jungen Menschen zugetextet. Kretschmann gibt offen zu, dass er sich zum ersten Mal in seinem Leben einer Bewegung gegenübersieht, die vor allem wissenschaftlich und weniger politisch argumentiere.
Kommunikationswissenschaftler Brettschneider hält das für kein Manko: Bald ist Kretschmann an diesem Tag am Ziel. Kurz vor dem Aussteigen sagt er:
"Ich habe ja erfreulicherweise, auch durch viele gute Menschen um mich herum, sehr kluge Menschen eigentlich, keinen wirklich schweren Fehler gemacht, in der ganzen Zeit. Aber das kann man jederzeit machen."
Kretschmann lässt es zu, dass ihn die Aura des Stars umweht. Etwa, wenn er in Säle und Hallen einläuft mit einem Vogelschwarm von Mitarbeitern hinter sich. Und manch einem seiner langjährigen Weggefährten gilt er inzwischen als zu bürgerlich, zu angepasst.
Einsatz für jesidische Flüchtlinge
Heute wird er am Bahnhof empfangen, schüttelt Hände und hat sich längst an Fünf-Sterne-Plus-Hotels gewöhnt. Auf der Rückreise hält er in Baden-Baden an. Dort findet die diesjährige Bambi-Preisverleihung statt, die Vergabe eines Fernseh- und Medienpreises. Eine Auszeichnung in der Kategorie Mut bekommt in diesem Jahr die Jesidin und Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad. Im Rahmen eines Sonderkontingents kam sie vor einigen Jahren nach Baden-Württemberg. Ihr Laudator ist Ministerpräsident Kretschmann:
"Wenn sie anklagt, erlebt sie ihre Geschichte immer wieder aufs Neue. Unerträgliche Grausamkeit und unerträglichen Schmerz. Trotzdem tut sie es immer wieder und beweist dadurch großen Mut. Einen Mut, mit dem sie auch andere Frauen ermutigt, Scham und kulturelle Zwänge zu überwinden und ihre Stimme gegen Gewalt und Terror zu erheben."
Nadia Murad und mit ihr viele andere Frauen und Kinder waren in Gefangenschaft sogenannter IS-Terroristen. Was sie erlebt haben, übersteigt das Vorstellbare. Kretschmann ließ sich von dem Schicksal der Frauen berühren und holte rund 1.000 Frauen und Kinder aus dem Nordirak nach Baden-Württemberg.

Fühlte Kretschmann sich an das Schicksal seiner Eltern erinnert, die im Zweiten Weltkrieg aus Ostpreußen flüchten mussten? Kretschmann schüttelt den Kopf. Fotos seien es gewesen, die ihm gezeigt wurden:
"Geköpfte Köpfe aneinander gereiht. Menschen, denen Kreuze in Rachen getrieben wurden. Ich konnte das Buch nicht zu Ende anschauen. Das war schier unerträglich, dass es so etwas gibt. Und da ist das entstanden. Das heißt, das geht weit über ein normales Flüchtlingsschicksal hinaus."
Die Einrichtung des Sonderkontingents gilt als bislang einmalige Rettungsaktion in der Geschichte eines deutschen Bundeslandes. In Berlin hielt man damals die Idee aus Stuttgart für wenig aussichtsreich. Kanada und mittlerweile auch andere Bundesländer haben sich dem Beispiel Baden-Württembergs angeschlossen.
Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit der der Jesidin Nadia Murad (Mitte) und der Menschenrechtsanwältin Amal Clooney
Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit der Jesidin Nadia Murad (Mitte) und der Menschenrechtsanwältin Amal Clooney, die Murad vertritt (picture alliance/ dpa/ Bernd Weißbrod)
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg
Interview: Kretschmann warnt vor "Rückfall in den Nationalismus"
Obergrenzen beim Flüchtlingszuzug würden zwar gebraucht, sagte der grüne baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann im DLF, "aber die kann nur Europa festlegen". Für eine nationale Grenze habe keiner eine Idee – auch die CSU nicht.
Heute fliegt Kretschmann nach Berlin. Ob im Dienstwagen, Zug oder Flieger, bei diesen Gelegenheiten nimmt er sich Auszeiten und entspannt.
Wieder einmal gilt seine Mission dem Klima. Im Bundesrat wirbt er am nächsten Tag darum, das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte Klimapaket noch einmal im Vermittlungsausschuss neu zu schnüren:
"Ich bin kein Mensch, der zur Panik neigt, aber das, was wir fast täglich hören, mit welcher Beschleunigung der Klimawandel vor sich geht, muss uns doch alle aufrütteln."
Die Länderkammer stoppt die Steuergesetze des Klimapakets vorerst. Mitte Dezember einigen sich Bund und Länder, demnach soll der CO2-Einstiegspreis ab 2021 bei 25 statt zehn Euro liegen. Richtig zufrieden ist Kretschmann nicht. Schließlich hatte er mindestens 40 Euro gefordert. Und doch sagt er, die Grünen können sich diesen Vermittlungserfolg auf die Fahnen schreiben. Damit meint er vor allem sich.
Enger Kontakt zur Bundesspitze
Im Kaminzimmer gibt er an diesem Tag sein letztes Interview. Rund eine Stunde, so viel Zeit bekommt Markus Decker vom Redaktionsnetzwerk Deutschland. Es geht natürlich um das Klimapaket, den CO2-Preis, die Automobilindustrie und auch um die Grünen:
- "Wir sind absolut regierungsfähig"
- Decker: "Sind Sie auch kanzlerfähig?"
- "Auch, selbstverständlich. Was soll an einem Habeck, einer Baerbock oder einem Özdemir schlechter sein, als an den Kandidaten, die sonst gehandelt werden. Das kann ich jetzt mal überhaupt nicht erkennen."
Robert Habeck, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, kommt zur Jahresauftakt-Klausur des Bundesvorstandes in Frankfurt / Oder.
Grünen-Chef Habeck: "Optimistische, leidenschaftliche Gestaltungssehnsucht"
Die Grünen hätten es in den letzten zwei Jahren geschafft, geschlossen und gestaltungswillig zu sein, sagte ihr Co-Parteichef Robert Habeck im Dlf. Das unterscheide sie von fast allen anderen Parteien im Moment.
Wieder zurück in Stuttgart fährt Kretschmanns Dienstwagen an einem sonnigen Winternachmittag beim Autozulieferer Mahle vor. Der Ministerpräsident steigt aus, ebenso Grünen-Parteichef Robert Habeck. Gemeinsam mit der Unternehmensspitze verschwinden die beiden schnell im Gebäude. Das Treffen findet ohne Presse statt, zeigt allerdings: Kretschmann pflegt mittlerweile den Austausch mit dem Führungsduo der Partei: Habeck und Baerbock.
"Die müssen einfach die baden-württembergische Wirtschaft kennenlernen. Kennenzulernen, was man in Baden-Württemberg mit der Muttermilch aufnimmt. Der Mittelstand, das gehört hier zum Land dazu, wie der Bodensee. Das ist in anderen Ländern nicht so stark entwickelt. Das sind oft Familienunternehmen, die denken nachhaltig und die sind viel grüner als mancher Grüne glaubt."
Das Zusammenrücken registriert auch Brettschneider von der Universität Hohenheim.
"Da kommt ihm eine sehr große Funktion zu. Unabhängig davon, dass er bei den Bundesgrünen lange Zeit tatsächlich unterschätzt war und teilweise auch verspottet wurde. So der Schrad aus dem Südwesten. Er passte nicht in die Flügelkämpfe, die es auf Bundesebene ja lange Zeit gegeben hat. Und das hat sich gewandelt. Da sind die Grünen auch auf Bundesebene pragmatischer geworden."
Uschi Götz ist Landeskorrespondentin des Deutschlandradio in Baden-Württemberg und Brigitte Henkel-Waidhofer Journalistin und Autorin zweier Biografien über Kretschmann.