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Grundsatzrede
"Juncker hat heute der EU einen Bärendienst erwiesen"

Jean-Claude Juncker hat in seiner Rede im EU-Parlament einige Reformvorschläge gemacht. Doch er habe keine Lehren aus den vergangenen Krisen der EU gezogen, sagt Gilbert Casasus, Professor für Europastudien an der Universität Fribourg. Die gesamte Philosophie seiner Rede sei total fragwürdig.

Gilbert Casasus im Gespräch mit Jörg Münchenberger | 13.09.2017
    Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker spricht am 13.09.2017 im Europaparlament in Straßburg.
    Jean-Claude Juncker während seiner Grundsatzrede im EU-Parlament (dpa-Bildfunk / AP / Jean Francois Badias)
    Jörg Münchenberg: Wie ist diese Rede nun einzuordnen? War sie visionär oder einfach nur von großer Selbstüberschätzung gekennzeichnet? Das habe ich kurz vor der Sendung Gilbert Casasus gefragt. Er ist Professor für Europastudien an der Schweizer Universität Fribourg.
    Gilbert Casasus: Ich werde Sie überraschen. Ich habe den Eindruck, Jean-Claude Juncker hat heute der EU einen Bärendienst erwiesen. Gut gedacht, aber falsch getroffen. Er hat einige Reformvorschläge vorgeschlagen, die durchaus sinnvoll sind, aber die ganze Philosophie, die gesamte Philosophie seiner Rede ist total fragwürdig. Ich habe den Eindruck, er hat nicht die Lehren gezogen aus den vielen Krisen, mit denen die Europäische Union seit 2005, das heißt seit der Ablehnung des Verfassungsvertrages durch Holland und Frankreich, konfrontiert war. Der Bürger sagt ganz eindeutig, der EU-Bürger sagt, wir müssen ein demokratisches Europa haben, wir können nicht immer ohne Weiteres erweitern. Es gibt, wir nennen das in unserem Jargon die Dialektik zwischen Erweiterung und Vertiefung der EU. Und heute sind neue Reformvorschläge auf dem Tisch. Vielleicht ist es ein bisschen, würde ich sagen, vorzeitig, über einen harten Kern zu reden. Das war ja auch eine deutsche Forderung von Schäuble, damals im Jahre 1994. Aber andererseits: Man hat den Eindruck, dass die Länder, die wirklich die EU vorantreiben möchten, zusammenarbeiten sollten und nicht immer nur auf neue Beitritte rechnen, was sich im Endeffekt als sehr negativ und kontraproduktiv erweisen würde.
    Macrons Vorschläge als Gegenpol
    Münchenberg: Würden Sie denn sagen, das war dann sozusagen anmaßend, dieser Auftritt? Hätte Juncker viel bescheidener auftreten müssen?
    Casasus: Es geht nicht um Bescheidenheit; es geht um Vermögen vor allem der Politikanalyse. Vor einigen Tagen, auch an einem Ort, der sehr symbolträchtig ist, da wo im 5. Jahrhundert vor Jesus Christus die ersten Wurzeln der Demokratie geschlagen worden sind, in Athen, hat der französische Präsident Macron eine Rede gehalten, die ganz andere Vorschläge machte. Und ich würde sagen, diese Vorschläge von Macron sind ein Gegenpol zu den Vorschlägen heute von Juncker, auch wenn einige Vorschläge - und da kann ich mich nur wiederholen -, zum Beispiel die Direktwahl eines EU-Präsidenten, sicherlich nicht zu verwerfen sind.
    Münchenberg: Nun hat ja aber der Kommissionspräsident sich vorher mit den Mitgliedsstaaten abgesprochen, mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel, aber auch dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat er auch telefoniert vor dieser Rede. Auf der anderen Seite hat er heute deutlich gemacht, er will auch die Rolle der Kommission gegenüber den Mitgliedsstaaten wieder stärken. Denn in den letzten Jahren waren es ja vor allem die Mitgliedsstaaten, die da den Ton angegeben haben. Würden Sie sagen, das war auch schon so ein bisschen eine kleine Kampfansage in Richtung Berlin zum Beispiel?
    Casasus: Nein, nicht in Richtung Berlin; vielmehr in Richtung Paris. Böse Zungen werden in Paris sagen, die Bundesregierung hat die Rede ins Ohr von Juncker geflüstert. Soweit würde ich nicht gehen. Die Kommission ist immerhin nicht ein direkt gewähltes Gremium. Wer kennt wohl die Kommissare, also einige? Ich bin als Professor für Europastudien absolut nicht in der Lage, die Namen aller 27 oder 28 Kommissare Ihnen zu geben. Das heißt, es gibt zwischen dem Bürger, zwischen dem EU-Bürger und der Kommission einen Graben und der Graben vertieft sich am laufenden Band. Und gerade heute sagt man, die Kommission soll noch mehr Kompetenzen haben. Das ist der falsche Weg, das tut mir leid. Was wichtig ist heute ist, dass die Kompetenzen der EU dem Bürger klar werden und dass der EU-Bürger auch in der Lage sein kann, ein größeres Mitbestimmungsrecht im Rahmen der EU-Politik zu haben. Was Jean-Claude Juncker vorgeschlagen hat, geht meiner Meinung nach genau in die entgegengesetzte Richtung.
    Dubliner Übereinkommen nicht zeitgemäß
    Münchenberg: Herr Casasus, Sie haben gesagt, da hat ja vielleicht Berlin dem Juncker was ins Ohr geflüstert. Auf der anderen Seite Ausweitung des Schengen-Raums, obwohl die Flüchtlingskrise nicht gelöst ist, milliardenschwere Hilfen für Osteuropa, obwohl die in der Flüchtlingspolitik mauern, Ausweitung der Eurozone, obwohl die Mitgliedsstaaten wirtschaftlich weiter auseinanderdriften. Das sind doch alles Themen, die können auch letztlich Angela Merkel nicht gefallen.
    Casasus: Bei vielen Beispielen haben Sie recht. Aber gerade beim Schengen-Abkommen, Schengen und Dublin, ich bin absolut ein großer Anhänger der Personenfreizügigkeit. Ich finde es fantastisch, dass wir von Paris nach Athen, von Vilnius nach Berlin fahren können und so weiter. Das ist super. Nur wir wissen, dass dieses Abkommen heute, gerade Dublin, nicht mehr der Zeit entspricht. Auch hier müssen mehrere Anstrengungen unternommen werden. Wir müssen eine Reform dieser Politik führen, damit auch jede Länder Flüchtlinge aufnehmen. Es ist nicht mehr akzeptabel, dass gerade Deutschland am meisten Flüchtlinge aufgenommen hat und dass andere Länder - da würde ich auch dazu Frankreich mitrechnen, aber selbstverständlich Polen und Ungarn - nicht bereit sind, eine Quote zu respektieren, die von allen Ländern bestimmt worden ist. Einmal muss man auch einigen Ländern nicht nur eine gelbe Karte zeigen, sondern auch eine rote.
    Demokratische Kontrollmechanismen statt Superkommissar
    Münchenberg: Sie haben Emmanuel Macron angesprochen, haben gesagt, das war eher eine Kampfansage in Richtung Paris. In der Tat hat Juncker ja gesagt, zum Beispiel will er kein eigenes Europarlament, er will auch kein eigenes Budget. Das sind ja alles Sachen, die Macron gefordert hat. Auf der anderen Seite sagt Juncker auch, wir haben ja ein Europäisches Parlament. Hat er dann nicht auch in diesem Punkt recht?
    Casasus: Nein, nicht unbedingt. Aufgrund der Tatsache: Frankreich hat seit Francois Mitterrand - Francois Mitterrand ist aus dem Amt gegangen 1995 als der europäischste Präsident der Geschichte Frankreichs. Und dieser europäischste Präsident Frankreichs weiß ganz genau, dass man nur Europa vorantreiben kann, wenn irgendwie die politischen Kompetenzen klar definiert werden, dass mehr Sozialpolitik insistiert wird und dass vielleicht einige Länder sich zusammenschließen, um irgendwie voranzugehen. Und gerade beim Euro: Man hat den Euro, dass der Euro anonym verwaltet wird, von einer Zentralbank, wo die meisten Europäer gar nicht den Namen des Präsidenten kennen, der gar nicht so schlecht ist, aber der noch dazu von Goldman-Sachs kommt, also von der Bank, die die Wirtschaftskrise 2008 verursacht hat. Es ist wichtig, dass wir auch demokratische Kontrollmechanismen in Europa haben, gerade in den Politikfeldern, wo Europa sich als Vorzeigemodell definieren kann, und dazu gehört an erster Stelle der Euro. Noch dazu, wenn er sagt, man muss irgendwie so einen super Wirtschaftskommissar haben im Vergleich zur Person, die sich um die Außenpolitik kümmert. Nichts gegen Frau Mogherini, die macht ihren Job sehr gut. Aber wir wissen ganz genau, gerade wenn wir heute die Schauplätze der internationalen Politik in Betracht ziehen, dass Europa als EU außenpolitisch keine Machtposition einnimmt. Dieses Modell eines Superkommissars in der Wirtschafts- und Währungspolitik einzuführen, ist der falsche Weg.
    Kompromisse in die richtige Richtung
    Münchenberg: Herr Casasus, noch eine letzte Frage mit dem Blick in die Zukunft. Diese Debatte über die Zukunft der EU, des Euro, des Euroraums geht ja jetzt erst los. Sie sagen, da hat sich Juncker heute eher gegen Frankreich positioniert. Was glauben Sie, wie geht diese Debatte, welchen Verlauf wird sie jetzt nehmen in den nächsten Monaten?
    Casasus: Ich bin eher optimistisch. Ich glaube, dass nach den deutschen Wahlen Macron und höchst wahrscheinlich Frau Merkel sich zusammen treffen werden und dann müssen beide Kompromisse machen. Europa ist irgendwie der Schauplatz von Kompromissen, aber von Kompromissen, die immer in die richtige Richtung blicken. Selbstverständlich: Ich will weder ein französisches Europa, noch ein deutsches Europa, noch ein Kommissionseuropa, und in diesem Sinne halte ich es für sehr wichtig, dass die Länder, die irgendwie Europa vorantreiben wollen, die Länder, die verstanden haben, dass wir nicht mehr in der Krise, in der EU-Krise weiterleben können, wie wir es in den zehn, zwölf letzten Jahren getan haben, dass irgendwie auch innovative Ideen kommen können. Darunter der eine oder andere Vorschlag von Juncker vielleicht. Aber wie das heute im Europaparlament vorgestellt worden ist, das halte ich für den falschen Weg. Außerdem: Wir haben ein Europaparlament, das viel zu groß ist, wo man die Europaabgeordneten seines eigenen Wahlkreises sehr oft nicht kennt. Auch hier sind Fragen der politischen Legitimität im Vordergrund und ich nehme an, es wäre hier und da ganz, ganz wichtig, dass wir über die Zukunft eines politischen Europas nachdenken und keine Angst haben, das institutionelle Dossier wieder zu öffnen, weil dieser Lissabon-Vertrag, der mag gut gewesen sein, um irgendwie damals aus dem Nizza-Vertrag rauszukommen. Heute ist meiner Meinung nach dieser Lissabon-Vertrag nicht mehr der heutigen Lage der Europäischen Union gewachsen.
    Münchenberg: … sagt der Politikwissenschaftler Gilbert Casasus von der Schweizer Universität Fribourg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.