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Grundstein für eine neue Kulturpolitik

Nach Braunschweig zog der Schriftsteller Wilhelm Raabe im Sommer 1870 und blieb bis zu seinem Tod 1910 in der Stadt. Zum Andenken des Autors erfolgreicher Romane wie "Sperlinggasse" oder "Hungerpastor" wurde 1948 eine Wilhelm-Raabe-Gedächtnisstätte in seinem einstigen Wohnhaus eingerichtet. Vor einigen Jahren wurde es zum "Literaturzentrum im Raabe-Haus" erweitert.

Von Jochen Stöckmann | 08.09.2008
    In Braunschweig lebte und arbeitete der Schriftsteller Wilhelm Raabe fast vierzig Jahre, bis zu seinem Tod am 15. November 1911. Seither gab es Bemühungen, das Andenken an den großen Realisten zu pflegen: Zuerst suchte eine "Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes" den literarischen Nachruhm in äußerst konservatives Fahrwasser zu lenken.

    1940 dann reklamierte Propagandaminister Joseph Goebbels Raabe für das nationalsozialistische "Dritte Reich", übergab höchstpersönlich den Nachlass des Schriftstellers in die Obhut der Stadt. 1944 trafen Fliegerbomben das Haus in der Leonhardtstraße mit Raabes Wohnung. Das im Originalzustand belassene Arbeitszimmer blieb allerdings weitgehend unversehrt. Dort empfängt heute der Literaturwissenschaftler Andreas Böttcher die Besucher:

    "Es ist so, dass die Tochter von Wilhelm Raabe, Margarethe Raabe, den Nachlass verwaltet hat. Und die hat das vehement verfolgt, dass ihrem Vater ein Gedenken gesetzt wird. Und darauf hat die Stadt Braunschweig relativ schnell reagiert und hat dann 1948 die damalige Raabe-Gedenkstätte eingerichtet, das heutige Raabe-Haus."

    Braunschweigs sozialdemokratischer Oberbürgermeister Ernst Böhme, von den Nazis inhaftiert und nach Kriegsende von der Besatzungsmacht wieder eingesetzt, hatte 1945 in Raabes Werk den Grundstein für eine neue Kulturpolitik erkannt. Mit seiner Unterstützung konnte am 8. September 1948, dem 117. Geburtstag Raabes, die Gedächtnisstätte eröffnet werden. Zuvor war bereits ein Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgeschrieben worden, für die damalige Zeit wirtschaftlicher Not mit 10.000 Mark überraschend hoch dotiert. Aber als dann Anfang der neunziger Jahre kommunale Haushaltspolitiker für die Kultur nichts mehr übrig hatten, wurde der Preis "eingefroren", nicht mehr vergeben. Bis sich dann im Jahr 2000 das Deutschlandradio für einen neuen Wilhelm-Raabe-Literaturpreis in Braunschweig engagierte:

    "Der Raabe-Preis hatte diverse Preisträger: Hesse, erste Preisträgerin war Ricarda Huch. Den gibt es in veränderter Form, der wird jetzt vergeben von der Stadt Braunschweig und DeutschlandRadio."

    Die Liste der Preisträger seit den fünfziger Jahren hätte jenen Lokalpolitikern eine Lehre sein sollen, die 1997 die Schließung der Raabe-Gedächtnisstätte forderten - unter anderem mit dem Hinweis auf Raabe als geistigen Vorläufer der NS-Ideologie. Wäre es tatsächlich so gewesen, dann hätten wohl ein Hans Erich Nossack, Uwe Johnson oder Max Frisch einen Preis mit diesem Namen kaum angenommen.

    Aber immer noch gibt es das Klischee von der idyllischen Versponnenheit und weltfernen "Innerlichkeit" des Romanautoren Raabe, und die Schilderung seines Braunschweiger Alltags steht dem auch nicht unbedingt entgegen:

    "Sein Ablauf sah so aus: Er hat geschlafen bis morgens um elf, dann gab es irgendwann Mittag, dann hat er Besucher empfangen, hat geschrieben und abends ist er hinausgegangen in die Klubs, um Zeitung zu lesen. Und jeweils donnerstags dann nach Riddagshausen in den 'Grünen Jäger'."

    Raabe, der nach abgebrochenem Studium in Berlin und einigen Jahren in Stuttgart kaum mehr aus Braunschweig herauskam, meldete sich politisch zu Wort, prangerte mit Romanen oder Erzählungen wilhelminische Untertanenmentalität und preußische Großmannssucht an. Und schrieb schon 1866 an seine Mutter:

    "Ich glaube, meine mehr lyrische Periode glücklich hinter mir zu haben. So putze ich denn meine epische Rüstung und gedenke als deutscher Sitten-Schilderer noch einen guten Kampf zu kämpfen. Es ist viel Lüge in unserer Literatur, und ich werde auch für mein armes Teil nach Kräften das Meinige dazu tun, sie herauszubringen, obgleich ich recht gut weiß, dass meine Lebensbehaglichkeit dabei nicht gewinnen wird."

    Heute, 60 Jahre nach Gründung der Raabe-Gedächtnisstätte, organisiert Andreas Böttcher in der Braunschweiger Leonhardtstraße unter anderem Lesungen und Diskussionen mit zeitgenössischen Autoren - und macht auch mit Raabe-Preisträgern wie Wolf Haas, Jochen Missfeldt oder Rainald Goetz die Erfahrung:

    "Es gibt viel mehr zeitgenössische Schriftsteller, die sich mit Raabe auseinandersetzen, als man das glaubt. Andreas Meier, ich glaube auch Ralf Rothmann hat gesagt, dass er Raabe liest - einer der Preisträger. Es gibt schon den einen oder anderen Schriftsteller, den wir immer wieder auch entdecken, dem Raabe bekannt ist."