Dienstag, 23. April 2024

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Günter de Bruyn
Eine Liebe in Preußen

Auch wenn Günter de Bruyn inzwischen keine Romane mehr schreibt - um das Verhältnis des Einzelnen zur Macht geht es in seinen Texten weiterhin. In seinem jüngst erschienenen Buch „Die Somnambule oder Des Staatskanzlers Tod“ interessiert er sich neben der Beziehung zwischen dem preußischen Reformer Karl August von Hardenberg und Friedrike Hähnel auch für den Mesmerismus und die Machtverhältnisse in Preußen.

Von Michael Opitz | 10.03.2016
    Als sich der preußische Staatskanzler Karl August von Hardenberg 1816 in die 42 Jahre jüngere Friederike Hähnel, die Tochter eines Uhrmachermeisters verliebte, lagen die politischen Großtaten des Reformers bereits hinter ihm. Der krönende Abschluss wäre eine Verfassung für Preußen gewesen, doch von der wollte Friedrich Wilhelm III., der ihr zunächst durchaus aufgeschlossen gegenüberstand, nichts mehr wissen. Hardenberg, dieser rüstige ältere Herr und äußerst kluge Kopf, besaß eine Schwäche für das weibliche Geschlecht und ganz besonders entzückten ihn die jungen Frauen. So war seine dritte Frau Charlotte bei der Trauung mit Hardenberg wenn auch nicht 42, so doch immerhin 22 Jahre jünger als ihr Gemahl.
    "Hardenberg, der in seinem langen und erfolgreichen Politikerleben neben seinen drei Ehen auch immer wieder bei anderen Frauen Glück gesucht und gefunden hatte, war auch als schwerhöriger älterer Herr noch sehr ansehnlich. Er war schlank und groß, imponierte durch eine umfassende Bildung und wurde seiner liebenswürdigen Umgangsformen wegen von Leuten jeglichen Stands geschätzt. [...] Da seine geistige Regsamkeit auch immer die Fortschritte der Wissenschaften registriert hatte, war ihm in jüngeren Jahren sicher auch nicht entgangen, dass Franz Anton Mesmers neuartige Heilmethode bei ihrem ersten Bekanntwerden um 1780 sowohl gerühmt als auch geschmäht wurde."
    Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Magnetisiertem und dem Magnetiseur
    Während von Friederike Hähnel beinahe nichts bekannt ist – weder ihre Haarfarbe noch ihre Größe sind überliefert –, weiß man über den Mesmerismus, der auch als "romantische Medizin" bezeichnet wird, sehr viel mehr. Unter den aufgeklärten Gelehrten der damaligen Zeit gab es zahlreiche Anhänger des Magnetismus, zu denen auch Heinrich von Kleist gehörte, der sich besonders für das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Magnetisiertem und dem Magnetiseur interessierte. Und der in Bayreuth lebende Dichter Jean Paul, der überzeugt davon war, selbst magnetische Fähigkeiten zu besitzen, hielt Berlin für das Zentrum dieser neuen Wissenschaft.
    "Dem Mesmerismus lag die Vorstellung einer unsichtbaren Kraft zugrunde, die die Natur durchpulst, die menschlichen Körperfunktionen steuert und auf das magnetische Prinzip von Anziehung und Abstoßung reagiert. Diese geheimnisvollen, oft Fluidum genannten Lebensströme, die sich nach der Theorie Mesmers bei gesunden Menschen in ruhigem Fließen befinden, können, wenn sie ins Stocken oder in Unordnung geraten, Krankheiten erzeugen, die mit Magnetkraft zu heilen sind. Die mit solchen Kräften begabten Ärzte, die man Magnetiseure nannte, glaubten die Lebensströme durch Handauflegen oder durch Luftstriche, die über den erkrankten Körperteilen ausgeführt wurden, wieder zu m Fließen bringen zu können, und tatsächlich wurde so mancher Kranke auf diese Weise geheilt. [...] Die mit solchen Methoden manchmal erzielten Heilerfolge wurden bei einigen Patienten, den sogenannten Somnambulen, von Zuständen eines Wachschlafs begleitet, der ihnen bei ausgeschaltetem Bewusstsein angeblich auch die Fähigkeit zum Hellsehen verlieh."

    Noch bevor sich Günter de Bruyn in seiner Erzählung dem Liebesbegehren des Staatskanzlers zu der aus Neubrandenburg kommenden Provinzschönheit zuwendet, entführt er seine Leser nach Wien. Dort begegnete Hardenberg 1815 dem Magnetiseur David Ferdinand Koreff, dem es gelungen war, die Frau von Wilhelm von Humboldt, Caroline, von ihrem Herzrasen zu kurieren. Seit diesem Erfolg war auch Humboldt Anhänger des Mesmerismus. Hardenberg, der sich Koreff als seinen Leibarzt wünschte, musste den Magnetiseur allerdings erst zum Professor der 1810 gegründeten Berliner Universität machen, bevor dieser in seine Dienste trat. Von der Wirkung des Mesmerismus sollte Hardenberg in der Berliner Praxis eines Kollegen von Koreff überzeugt werden. Die Vorführung war folgenreich. Hardenberg begann, sich für den Mesmerismus zu interessieren. Doch noch sehr viel mehr als das Heilverfahren faszinierte ihn die junge Patientin Friederike Hähnel, die er im magnetisierten Zustand erlebte, wobei er mitansehen musste, wie sie von Krämpfen geschüttelt wurde.
    "In dieser seltsamen Arztpraxis die von den Besuchern teils als schäbig, teils als unheimlich empfunden wurde, fand die erste Begegnung Hardenbergs mit seiner späteren Geliebten statt. Der alte Staatskanzler, der in seinem langen Leben drei Hochzeiten gefeiert, zwei Ehescheidungen überstanden und daneben auch andere Frauen beglückt hatte, ließ sich nun von Friederike Hähnel bezaubern, deren rätselhafte Krankheit sie auch bemitleidenswert werden ließ."
    "Die Nebenbuhlerin auch noch als Gesellschafterin akzeptieren"
    Die Geschichte, die zunächst fast eher belanglos anmutet – ein junger Arzt, der Mesmers Heilmethode anwendet, wird Leibarzt bei einem der angesehensten Männer Preußens, der sich wiederum in eine sehr viel jüngere Frau verliebt – entfaltet erst im Verlauf des Handlungsgeschehens ihre Brisanz. Denn der zwischen Hardenberg und Koreff geschlossene Kontrakt sowie das Verhältnis zwischen Hardenberg zu seiner Geliebten werden im öffentlichen wie im privaten Raum mit Skepsis wahrgenommen. Hardenberg machte Koreff zwar zum Professor, aber er musste ihn gegen den Willen der medizinischen Fakultät durchsetzen. Die Mediziner bekamen einen Kollegen, den sie nicht schätzten. Alleiniger Grund war, dass sich Hardenberg von diesem Mann die Heilung seiner Schwerhörigkeit versprach. Die Aussicht, wieder besser hören zu können, ließ ihn die Einhaltung preußischer Tugenden vergessen. Auch im Privaten nahm es der Staatskanzler mit der Tugend nicht so genau. Er machte Friederike Hähnel zu seiner Geliebten und seine Frau Charlotte musste mit ihr nicht nur den Mann teilen, sondern die Nebenbuhlerin auch noch als Gesellschafterin akzeptieren.
    "Dass sich die in kleinbürgerlich[en Verhältnissen] aufgewachsene Hähnel zu behaupten wusste, spricht für ihren starken Aufstiegswillen, der vermutlich auch ihrer Bindung an den Kanzler zugrunde lag. Da sie die Sprache der Diplomaten, das Französische, gut beherrschte und die vornehmen Umgangsformen schnell lernte, war sie nun auch dabei, wenn Besucher kamen, vor denen sie sich manchmal von Koreff magnetisieren ließ. Ihre Gegenwart wurde für den Staatskanzler bald unentbehrlich. Auch auf Dienstreisen und zu Aufenthalten in den Bädern, die mit zunehmendem Alter häufiger wurden, nahm sie Hardenberg gern mit."
    Die Berliner Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts
    Günter de Bruyn interessiert sich in dieser mit angenehmer Leichtigkeit und sehr viel hintergründigem Humor erzählten Geschichte für den gealterten Hardenberg. Als Hardenberg den Mesmerismus und Friederike Hähnel kennenlernte, befand er sich in einer Krise. Seine Reformpläne waren ins Stocken geraten und er hätte für die weitere Durchsetzung seiner politisch-gesellschaftlichen Ideen jener Kräfte bedurft, auf die die Magnetiseure bei ihrer Heilmethode zurückgriffen. Als Hardenbergs Kräfte zum Erliegen kamen, er im öffentlichen Raum immer weniger bewegen konnte, suchte er nach Belebendem. Im Privaten war es Friederike Hähnel, die dafür sorgte, dass wieder ins Fließen kam oder im Fluss blieb, was zu versiegen drohte.
    "Für den Staatskanzler waren die Jahre, in denen er Friederike Hähnel zur Seite hatte, von dem ständig wachsenden Verlust an Macht und Einfluss geprägt. Der fast taube alte Mann, der sich zum Rücktritt von seinem Spitzenposten auch nicht entschließen konnte, als er Wilhelm von Humboldt und andere Verbündete seiner Regierungsmannschaft verloren hatte, hoffte noch immer, sein großes Werk, die Reformen, mit einer Verfassung für den nun wieder mächtiger gewordenen Staat abschließen zu können."
    Günter de Bruyn ist ein ausgewiesener Kenner der literarischen, künstlerischen und politischen Verhältnisse in Preußen. Die von ihm erzählt Geschichte wirft ein bezeichnendes Licht auf jene Zeit. Dass sie einem so gar nicht vergangen vorkommt, liegt an de Bruyns Erzählkunst, der das Geschehen von vordergründigen Vergleichen, die sich leicht zur heutigen Zeit herstellen ließen, frei hält. Er bewegt sich in "Die Somnambule oder Der Tod des Staatskanzlers" mit beindruckender Sicherheit in der Berliner Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wobei er neben dem Staatskanzler Hardenberg eine ganze Reihe berühmter, aber auch weniger bekannter Personen vorstellt. Sie alle stehen in einer fluiden Beziehung untereinander. Der Magnetiseur Mesmer und sein Schüler Koreff verfügten über geheime magische Kräfte, auf die die Friederike Hähnel reagierte. Hardenberg war von Mesmers Methode tief beeindruckt. Nur zu gut wusste er, dass das Wissen, an welcher Stelle dem lahmen und kränkelnden Staatskörpers die Hand aufgelegt werden muss, für einen Realpolitiker unverzichtbar ist. Als er bemerkte, dass sein Handauflegen nur noch wenig bewirkte, versuchte er, allerdings mit nur geringem Erfolg, diese Fähigkeit zu aktivieren.