Freitag, 29. März 2024

Günter Verheugen
"Brüssel muss besser werden"

Der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen hat sich im Deutschland besorgt gezeigt, dass die erwartete geringe Beteiligung an der Europawahl zu einer "informellen Großen Koalition" führt. Das Europaparlament müsse das verloren gegangene Vertrauen wiedergewinnen. "Die Menschen müssen merken, dass es gut für sie ist."

Günter Verheugen im Gespräch mit Christine Heuer | 24.05.2014
    Günter Verheugen
    Günter Verheugen (dpa / picture-alliance / Grzegorz Momot)
    Die Botschaft an die Wähler kurz vor der Abstimmung bleibe daher: "Jeder, der nicht hingeht, unterstützt im Ergebnis die Rechtspopulisten, die diese europäische Integration, die uns Frieden und Wohlstand beschert hat, nicht wollen", sagte Verheugen im DLF.
    Er äußerte sein Bedauern über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Drei-Prozent-Hürde für deutsche Parteien zur Europawahl gekippt habe, "weil das Bundesverfassungsgericht damit den grundfalschen Eindruck verschärft hat, das Europaparlament wäre nicht so wichtig und da käme es nicht auf stabile Mehrheitsverhältnisse an und da könnte man sich eine Parteienfragmentierung leisten". Das Risiko bestehe, dass es durch eine niedrige Wahlbeteiligung und eine gleichzeitige hohe Mobilisierung der Rechtspopulisten und Rechtsradikalen eine "überproportionale Repräsentanz'" dieser Parteien im Parlament geben könne. Das werde faktisch zu einer informellen großen Koalition zwischen den Konservativen und Sozialdemokraten führen. In der Folge werde es wohl immer eine "Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner" geben. Gebraucht werde aber ein Europaparlament, das entschlossen daran arbeite, das verlorengegangene Vertrauen wiederzugewinnen.
    Weitere Informationen zur Europawahl 2014 auf deutschlandfunk.de

    Das Interview mit Günter Verheugen in voller Länge:
    Christine Heuer: Günter Verheugen war EU-Kommissar für die Osterweiterung und die Industriepolitik der Union. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Verheugen!
    Günter Verheugen: Guten Morgen!
    Heuer: 30 Millionen Ukrainer dürfen wählen, viele im Osten werden möglicherweise daran durch Separatisten und durch die Kämpfe dort daran gehindert sein. Es ist in den letzten Tagen auch viel von einem möglichen Scheitern der Wahl gesprochen worden. Wann wäre die Wahl denn gescheitert?
    Verheugen: Ich denke, die Wahl wäre dann gescheitert, wenn ein großer Teil des Landes die neugewählte Staatsführung nicht akzeptieren würde, also wenn wir dasselbe Ergebnis hätten, das wir jetzt eigentlich auch haben: Da ist eine Regierung, die wird aber anerkannt nur von einem Teil des Landes. Und die Hoffnung besteht eben darin – und die ist ein wenig bestärkt durch das, was Putin gesagt hat –, dass jetzt wirklich die Dinge anders werden und eine Staatsführung entsteht, die Autorität über das ganze Land hat.
    Heuer: Ja, Putin hat gesagt, er sei bereit, mit der neugewählten Führung, wenn sie denn steht, dann auch zusammenzuarbeiten. Eine Anerkennung ist das aber nicht. Reicht das denn aus?
    "Nur der Beginn eines politischen Prozesses"
    Verheugen: Es ist jedenfalls besser als der Zustand, den wir jetzt haben, der Zustand offener Feindseligkeit. Und außerdem ist es ja so: Diese Wahl, wenn sie erfolgreich verläuft – und das „wenn" muss man leider drei Mal unterstreichen –, soll ja nur der Beginn eines politischen Prozesses sein, der dem Land das gibt, was die Bürger ganz offenbar wünschen. Das haben wir ja auch gerade gehört, die Leute wollen endlich wieder in Frieden und in Ordnung leben können. Aber dazu ist mehr nötig als nur ein Präsident. Dazu ist ein neues Parlament nötig, dazu ist eine neue Regierung nötig, und vor allen Dingen ist dazu ein Verfassungsprozess nötig, der die strukturellen Probleme dieses Landes aufgreift und dem Land eine Ordnung gibt, die geleitet ist vom Grundsatz der Dezentralisierung, und nicht der zentralen Führung aus Kiew. Also wir als Deutsche verstehen das sehr gut, weil wir ein solches System haben: so viel Autonomie den Regionen wie möglich, und so viel zentrale Macht wie nötig.
    Heuer: Das ist eine Idealvorstellung. Wie zuversichtlich sind Sie denn, dass die umgesetzt wird?
    Verheugen: Na ja, die Chancen sind jedenfalls besser als noch vor einiger Zeit, weil die Gespräche ja begonnen haben, weil ganz offensichtlich im Lande selber ein sehr, sehr starker Druck sich aufgebaut hat auf die herrschenden politischen Eliten, nicht so weiterzumachen wie bisher. Also wir sind keine Propheten. Wir wissen es nicht, und in wenigen Tagen wissen wir mehr. Aber die Situation ist nicht hoffnungslos.
    Heuer: Setzen Sie denn auch Hoffnungen auf Piotr Poroschenko, der als Favorit gilt bei diesen Präsidentschaftswahlen? Ist das der richtige Mann?
    "Ganz gute Schokolade"
    Verheugen: Ja, eindeutig, eindeutig ja. Ich bin hier ein bisschen in der Verlegenheit: Er ist der einzige von diesen sogenannten Oligarchen, den ich tatsächlich ganz gut kenne und schon sehr lange in seinen verschiedenen Ämtern. Also er war auch schon früher für mich ein Mann, dem man vertrauen konnte, macht übrigens auch ganz gute Schokolade. Na ja, kann ich ruhig sagen, die kann man in Deutschland ja nicht kaufen. Also ich glaube schon, dass er der Hoffnungsträger ist.
    Heuer: Gewählt wird morgen ja auch das Europäische Parlament, Europafreunde befürchten dabei ein Erstarken der Rechtspopulisten in Europa, und in den Niederlanden ist das aber jetzt offenbar ausgeblieben. Beruhigt Sie das, Herr Verheugen?
    Aufruf zur Europawahl
    Verheugen: Na ja, das ist ein erstes gutes Zeichen, denn natürlich – wenn das in den Niederlanden anders ausgegangen wäre, wäre das noch einmal eine zusätzliche Ermutigung gewesen. Aber es ist absolut kein Anlass zur Entwarnung. Es bleibt dabei: Die Botschaft an diesem letzten Tag vor der Wahl an diejenigen, die keine Lust haben, da hinzugehen, heißt: Jeder, der nicht hingeht, unterstützt im Ergebnis die Rechtspopulisten, die diese europäische Integration, die uns Frieden und Wohlstand beschert hat, nicht wollen.
    Heuer: Die Briten würden sagen, okay, dann bleiben wir schön weg.
    Verheugen: Ja, das ist eine besondere Entwicklung in Großbritannien, obwohl, wenn wir das Ergebnis der Kommunalwahlen betrachten, der Sieg der Independence (Anm. d. Red: UK Independence Party) auch nicht so überwältigend ausgefallen ist, wie man erwartet hat. Es mag aber bei der Europawahl anders sein. Aber Großbritannien ist eine andere Situation, und hier muss man natürlich davon ausgehen, dass im Lauf der nächsten Jahre, im Jahr 2017 ein Volksentscheid über den Verbleib in der EU stattfinden wird, dessen Ausgang heute niemand vorhersagen kann.
    Heuer: Lassen Sie uns nach Deutschland schauen, Herr Verheugen, hier ist es die AfD, die im Geruch steht, rechtspopulistisch zu sein. Sie liegt in Umfragen bei sieben Prozent. Bedauern Sie vor diesem Hintergrund, dass das Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Hürde für deutsche Parteien zur Europawahl gekippt hat?
    Kritik an Bundesverfassungsgericht
    Verheugen: Na gut, also die Drei-Prozent-Hürde wäre dann ja auch nicht das Problem gewesen. Ich bedaure dieses Urteil aus einem anderen Grund. Ich bedaure dieses Urteil deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht damit den falschen, den grundfalschen Eindruck verschärft hat, das Europaparlament wäre nicht so wichtig und da käme es nicht auf stabile Mehrheitsverhältnisse an, und da könnte man sich eine Parteienfragmentierung leisten. Diese Differenzierung zwischen dem Wahlrecht zum Bundestag und dem Wahlrecht zum Europaparlament ist nicht zu rechtfertigen, also ich sage das nicht allein vor dem Hintergrund, dass damit alle möglichen exotischen Parteien in das Europaparlament einziehen werden, sondern es berührt die Frage der Wertigkeit des Europaparlaments gegenüber den nationalen Parlamenten. Wir wissen, dass das Verfassungsgericht ja der Meinung ist, das Europaparlament sei nicht wirklich demokratisch legitimiert. Da liegt es aber wirklich mal schief.
    Heuer: Was befürchten Sie denn, wenn die AfD und wenn andere Rechtspopulisten massenhaft ins Europäische Parlament einziehen für die europäische Politik?
    "Die Menschen müssen merken, dass es gut für sie ist"
    Verheugen: Also erst einmal hoffe ich natürlich, dass das nicht passiert. Aber das Risiko besteht, dass wir aufgrund niedriger Wahlbeteiligung und hoher Mobilisierung durch diese Parteien eine überproportionale Repräsentanz von Rechtspopulisten und auch Rechtsradikalen im Parlament haben werden. Nun, das wird faktisch dann zu einer großen, informellen Großen Koalition zwischen den beiden großen Parteien führen, den Konservativen und den Sozialdemokraten, und das heißt, es gibt immer eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Und davor habe ich Sorge, denn das, was wir jetzt eigentlich brauchen, ist ein Europaparlament, das ganz entschlossen daran arbeitet, auch mit neuen Ideen und mit Mut, das verloren gegangene Vertrauen wiederzugewinnen, und das geht nur dadurch, dass Brüssel besser wird. Dieses System muss schlicht und einfach besser werden, die Integration muss bessere Ergebnisse liefern. Die Menschen müssen merken, dass es gut für sie ist.
    Heuer: Herr Verheugen, wir hatten in diesem Wahlkampf zur Europawahl ein Novum, nämlich eine Spitzenkandidatur für den Vorsitz der Kommission. Jean-Claude Juncker ist gegen Martin Schulz angetreten oder umgekehrt. Wird einer von beiden Kommissionspräsident werden?
    Europawahl wird nicht mehr herabgewürdigt
    Verheugen: Also zunächst einmal hat dieses Experiment, so muss man es ja wohl nennen, in Deutschland den sehr erfreulichen Effekt herbeigeführt, dass zum ersten Mal wir einen Europawahlkampf haben, in dem es wirklich um europäische Themen und um europäische Personen geht, und nicht – wie früher – die Europawahl herabgewürdigt wurde zu einem Testlauf für die nächste bevorstehende Bundestags- oder Landtagswahl. Das ist schon mal gut. Wenn die Wahlbeteiligung hoch ist und wenn sich ein klares Bild abzeichnet, wer als Gewinner dieser Wahl zu betrachten ist, dann denke ich, stehen die Chancen für Martin Schulz oder Jean-Claude Juncker gut, das Ziel zu erreichen. Denn die Staats- und Regierungschefs werden sich das sehr, sehr sorgfältig überlegen müssen, nachdem sie als Parteivorsitzende ja diesem Experiment zugestimmt haben, es dann als Staats- und Regierungschefs wieder abzublasen. Das hätte verheerende Folgen für das Vertrauen in die europäischen Institutionen. Also deshalb, glaube ich, sind die Chancen gar nicht so schlecht.
    Heuer: Günter Verheugen, ehemaliger EU-Kommissar, Außenpolitiker der Sozialdemokraten. Herr Verheugen, Danke für das Gespräch!
    Verheugen: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Günter Verheugen, geboren am 28. April 1944 in Bad Kreuznach, war als Politker in Deutschland für zwei Parteien aktiv. Bis 1982 war er Mitglied der FDP, der er nach dem Wechsel des Koalitionspartners (zunächst SPD, ab 1982 Union) den Rücken kehrte und den Sozialdemokraten beitrat. Von 1999 an war Mitglied der Europäischen Kommission, von 2004 bis 2010 zudem deren Vizepräsident. Er stolperte über den Vorwurf der Vetternwirtschaft, als Urlaubsfotos mit einer Mitarbeiterin, die er kurz zuvor zu seiner Büroleiterin befördert hatte, deutschen Medien zugespielt worden waren.