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Günther Oettinger
"Nicht wegen der AfD den Kurs ändern"

EU-Kommissar Günther Oettinger lehnt einen Kurswechsel der Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik ab. Die Linie von Bundeskanzlerin Angela Merkel sei "richtig und chancenreich", sagte der CDU-Politiker im Deutschlandfunk. Die AfD, die bei den Landtagswahlen Erfolge verbuchen konnte, bezeichnete er als "reine Protestpartei".

Günther Oettinger im Gespräch mit Christine Heuer | 16.03.2016
    Günter Oettinger
    EU-Kommissar Günther Oettinger (imago stock & people)
    Auf die Frage, ob die Kanzlerin nach den Verlusten bei den Landtagswahlen ihren Kurs ändern müsse, antwortete Oettinger: "Nicht wegen 15 Prozent AfD". Diese sei eine reine Protestpartei: "Die AfD hat kein Konzept, kein Programm". Man müsse die Probleme gemeinsam lösen, und zwar auf europäischer Ebene.
    Es bleibe richtig, dass Bundeskanzlerin Merkel auf die bessere Sicherung der EU-Außengrenzen und eine Kooperation mit der Türkei setze. Dieser Ansatz müsse auf dem morgen beginnenden EU-Gipfel vorangebracht werden.
    Vorbehalte der CSU gegen eine Visafreiheit für Türken in der EU wies Oettinger zurück. Man müsse bei diesem Thema vorankommen. Man werde in Brüssel dafür sorgen, dass es Visaerleichterungen nicht ohne Gegenleistung gebe. Oettinger sprach mit Blick auf Forderungen der CSU von einem "Pokerspiel". Es gebe einen Unterschied zwischen einzelnen Äußerungen und dem, wie man sich in Abstimmungen verhalte. Letztlich trage die CSU den Kurs der Bundesregierung mit.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Ab morgen verhandelt Angela Merkel wieder mit ihren EU-Kollegen in Brüssel - Thema natürlich die Flüchtlingskrise. Die deutsche Kanzlerin sucht scheinbar unverdrossen weiter nach einer europäischen Lösung mit Hilfe der Türkei. Leicht wird das nicht. Und am Vorabend, also heute, steht ihr auch noch CSU-Chef Horst Seehofer ins Kanzleramt. Thema auch dann die Flüchtlingspolitik, in der Seehofer den Ton wieder verschärfen will. So jedenfalls hat er es angekündigt. - Günther Oettinger, der deutsche EU-Kommissar in Brüssel, ist am Telefon. Man hört ihn schon. Mit ihm möchte ich über die Flüchtlingskrise auf allen politischen Ebenen sprechen. Guten Morgen, Herr Oettinger.
    Günther Oettinger: Guten Morgen.
    Heuer: Fangen wir mal bei den Landtagswahlen an. Da hat die AfD triumphiert und Deutschland erschüttert. Ist Merkels Flüchtlingspolitik gescheitert?
    Oettinger: Nein! Das Ganze ist eine hochkomplexe Aufgabe, die man natürlich nicht innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen lösen kann. Wir arbeiten unverändert daran, dass die Europäer gemeinsam die Frage der Außengrenzen, die Frage der Kooperation mit der Türkei, die Frage der Finanzierung von Flüchtlingslagern in Jordanien, Libanon und der Türkei sich vornehmen. Das ist nicht ganz leicht. Da sind die Ausgangspunkte der Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich. Die Polen zum Beispiel haben über eine Million Ukrainer derzeit im Lande und wollen nicht noch mehr leisten. Aber ich glaube, dass es sich auf dem Westbalkan gezeigt hat: Wenn alle einzeln vorgehen, dann haben wir irgendwo Chaos, und wir dürfen nicht Griechenland als den letzten Dominostein an der Grenze zu den Nachbarländern alleine lassen. Wir haben Griechenland finanziell geholfen und wenn wir jetzt Griechenland alleine lassen, der Tourismus dort runtergeht, dann würden wir im Grunde alles kaputt machen, was in den letzten Jahren für Griechenland aufgebaut worden ist.
    "Aber sich Sorgen machen alleine ist noch zu wenig"
    Heuer: Herr Oettinger, jetzt haben Sie gleich das ganz große Rad geschlagen. Die EU muss gemeinsam handeln. Das ist aber schwierig. Noch mal die Frage nach den Landtagswahlen in Deutschland. Sie selbst sind ja aus Baden-Württemberg. Das wissen wir, das hören wir. Die Landtagswahlen waren ein Plebiszit über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, sagen viele. Das hat die Kanzlerin klar verloren, oder?
    Oettinger: Die CDU hat in allen drei Ländern eingebüßt, in Baden-Württemberg am meisten, und es gab zum einen das Bundesthema, das stimmt, aber es gab auch Landesthemen. Hinzu kommt: Auch die Sozialdemokraten haben verloren, Ausnahme Rheinland-Pfalz.
    Heuer: Beide Parteien stehen für Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Muss sie ihren Kurs ändern? Das möchte ja auch Horst Seehofer.
    Oettinger: Natürlich nicht wegen 15 Prozent AfD den Kurs ändern, sondern sie sollte prüfen, ob er richtig ist, und er ist richtig und er ist auch chancenreich. Der Europäische Rat und dann die Beratungen mit dem türkischen Premier in den beiden nächsten Tagen ist der richtige Ort, um deutlich voranzukommen. Klar ist: Wenn Deutschland alleine die Grenzen zumacht, ist das Problem auch nicht gelöst. Die AfD, die jetzt zwar 15 Prozent hat, hat kein Konzept, hat kein Programm. Sie ist eine reine Protestpartei. Das heißt, die Menschen machen sich Sorgen. Aber sich Sorgen machen alleine ist noch zu wenig und ich glaube, dass es uns gelingen kann, die Vorteile einer europäischen Konzeption, eines gemeinsamen Arbeitens zu verdeutlichen. 28 alleine würden viel weniger erreichen, als wenn wir gemeinsam gegenüber der Türkei auftreten und die Probleme gemeinsam lösen.
    "Über Stilfragen kann man streiten"
    Heuer: Ich verstehe Sie so: Die CSU soll sich jetzt mal zurückhalten und nicht immer weiter an Merkel herumkritisieren?
    Oettinger: Ich halte die Fragen der CSU für berechtigt. Über Stilfragen kann man streiten. Die Debatte in der Union ist auch nicht unnötig. Aber wir sollten Angela Merkel den Rücken stärken und sollten alles tun, dass sie trotz der drei Wahlen vom letzten Sonntag mit ihrer Autorität und mit dem, was wir an Vorarbeiten geleistet haben, in den beiden nächsten Tagen einen gewissen Durchbruch erreicht.
    Heuer: Aber die CSU macht genau das Gegenteil. Sie legt Angela Merkel vor dem wichtigen EU-Gipfel Handschellen an. Sie sagt, es soll keine Visafreiheit für Türken geben, keinen EU-Beitritt der Türkei, keine Flüchtlingskontingente aus der Türkei nur für Deutschland. Das sind die Vorgaben, mit denen die Christsozialen Angela Merkel nach Brüssel schicken. Wenn sie sich daran hält, muss Merkel da gar nicht erst hin, oder?
    Oettinger: Die CSU ist ein Teil der deutschen Politik, aber nicht der allein bestimmende. Und ich glaube, das Thema Visafreiheit muss vorankommen, und ich würde das auch begrüßen. Ich glaube, dass für die jungen Türken es ein großer Vorteil wäre, wenn sie für den Beruf und auch für Tourismus leichter nach Europa einreisen und wieder ausreisen können. Aber die CSU muss wissen, wie stark sie in der Bundesregierung den Kurs mitträgt. Da sorgen wir schon auch in Brüssel dafür, dass die Visumfreiheit nicht kostenfrei vergeben wird. Da gibt es konkrete Auflagen, da gibt es Bedingungen, die Drittstaaten erfüllen müssen und die auch die Türkei kennt und auch die Türkei einhalten muss.
    "Das Ganze ist natürlich auch ein Pokerspiel"
    Heuer: Und wenn die CSU in der Bundesregierung diesen Kurs glaubt, nicht mehr mittragen zu können, was dann?
    Oettinger: Sie trägt ihn ja mit. Ihre Minister tragen ihn mit, die Bundestagskollegen im Parlament tragen ihn mit. Ich glaube, da ist doch ein Unterschied zwischen dem, was man kritisch äußert, und dem, wie man dann sich in Abstimmungen verhält, und das ist auch gut so.
    Heuer: Das ist nur Wortgeklingel?
    Oettinger: Nicht nur Wortgeklingel. Das Ganze ist natürlich auch ein Pokerspiel. Da wird hart gekämpft. Aber es ist bisher immer gelungen, dass die Große Koalition dann, wenn es gilt, bei Abstimmungen im Parlament sich einig ist, und ich glaube, auch in Zukunft ist die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung nicht gefährdet.
    Heuer: Hart gerungen wird ja oft auch in der EU, also ab morgen wieder über die Flüchtlingspolitik, und bislang hat es immer eine Einigung gegeben. Aber jetzt erscheint Deutschland doch sehr isoliert in der Europäischen Union. Wenn einer gegen den Rest ist, Herr Oettinger, wer hat dann Recht, der Rest oder der eine?
    Oettinger: Deutschland ist nicht alleine. Die Kommission steht hinter Deutschland mit Jean-Claude Juncker. Die Holländer stehen hinter Deutschland. Die Balten, die Finnen sind zumindest nicht anderer Meinung. Ich glaube, wir müssen alle sehen: Die Interessenunterschiede sind auch geografisch gegeben. Bulgarien denkt anders als zum Beispiel Irland, rein geografisch gesehen. Aber der Wille, sich zu einigen, ist da. Der Sondergipfel am Montag vor einer Woche war ja ein klares Zeichen. Man hat zwar noch nicht alles erreicht, aber es gibt Bausteine, an denen wir arbeiten, und es gibt den Willen, bei allen Interessensgegensätzen sich nicht zu spalten, sondern die 28 Mitgliedsstaaten auf einen Nenner zu bringen und sich auch mit Ländern wie Mazedonien oder Serbien auf dem Westbalkan letztendlich nicht zu zerstreiten, sondern zu einigen.
    "Es wird nennenswerte Fortschritte geben"
    Heuer: Aber aus Ungarn zum Beispiel kommen Signale, das klingt überhaupt nicht so, als wollte sich Ungarn mit dem Rest der EU einigen.
    Oettinger: Ich bin eigentlich optimistisch, dass die Ungarn vielleicht nicht bei den Lasten eins zu eins dabei sein wollen, aber eine Einigung auch nicht verhindern werden.
    Heuer: Sie glauben, dass bei diesem EU-Gipfel morgen und übermorgen in Brüssel ein Erfolg tatsächlich erzielt wird?
    Oettinger: Ich glaube, es wird nennenswerte Fortschritte geben, die aufzeigen, dass die Lösung der Flüchtlingsaufgabe und die Linderung der Nöte der Flüchtlinge gemeinsam vorankommt.
    Heuer: Die Kommission, Herr Oettinger, die wollte spätestens heute eigentlich einen Vorschlag zur Reform des Dublin-Verfahrens vorlegen. Der kommt und kommt nicht, der wird immer wieder verschoben. Woran hakt es denn?
    Oettinger: Wir haben den Punkt heute Morgen auf der Tagesordnung und werden über die Novellierung von Dublin sprechen. Da gibt es konkrete Überlegungen und der Präsident Jean-Claude Juncker wird mit Sicherheit am nächsten Gipfel, also morgen und übermorgen, unsere Überlegungen vorstellen, um dann zu hören, ob sie von den Mitgliedsstaaten geteilt werden. Dann werden wir einen förmlichen Gesetzgebungsvorschlag unterbreiten.
    "Entlastung der Staaten an den Außengrenzen"
    Heuer: Können Sie zum Schluss in zwei Sätzen bitte sagen, wie Sie sich die Reform von Dublin vorstellen?
    Oettinger: Vereinfacht gesagt: Eine gewisse Entlastung der Staaten an den Außengrenzen. Dublin war eine Schönwetterveranstaltung. Bei 50.000 Flüchtlingen im Jahr kann das Italien, Bulgarien, Griechenland leisten. Bei über einer Million nicht mehr. Das heißt, wir müssen erkennen, die Lage im europäischen Umfeld hat sich verändert. Die Zahl der Flüchtlinge steigt dramatisch an. Also müssen alle mithelfen. Also müssen wir für die Grenzkontrollen, für die Registrierung, für die Aufnahme, für die Integration, die Finanzierung der Aufgaben den Mitgliedsstaaten, die an den Außengrenzen liegen, in direkter Nachbarschaft zu Nordafrika und zu Middle East, Hilfe geben, damit Dublin sie nicht überfordert, sondern dass Dublin dann gemeinsam vor Ort geleistet wird.
    Heuer: Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger im Interview mit dem Deutschlandfunk. Herr Oettinger, haben Sie vielen Dank.
    Oettinger: Ich danke auch, einen guten Tag.
    Heuer: Ja, wünsche ich Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.