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Gunther Geltinger: "Benzin"
Der gefährliche Guide

Ein Afrika-Trip führt ein schwules Liebespaar in eine Krise. Als sie einen jungen Einheimischen anfahren, nehmen sie ihn mit. Eine prekäre menschliche Balance kommt in Bewegung, alles kreist um Schuld, Macht und Ohnmacht - und um den Treibstoff, ohne den man weder schreiben noch reisen kann.

Von Bettina Hesse | 04.04.2019
Buchcover: Gunther Geltinger: „Benzin“
Buchcover: Gunther Geltinger: „Benzin“ (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Foto: Imago Photothek/Michael Gottschalk)
Als Roadtrip wird er beworben, doch Gunther Geltingers Roman "Benzin" ist viel mehr als das: Es ist eine Reise. Als solche unterscheidet sie sich von einem gebuchten Urlaub, bei dem man das Ziel kennt und weiß, was einen erwartet. Die Reise lebt von Zufällen, stößt auf Unvorhergesehenes und Irrwege, und nicht selten erfordert sie eine Auseinandersetzung mit der eigenen Person. Genau das trifft für die beiden Reisenden Vinz und Alexander zu.
Eine Liebe in der Krise
Das Paar in den Mittvierzigern bricht nach Südafrika auf, auch mit der Hoffnung, ihre langjährige Beziehung wieder zu kitten. Und gleich zu Anfang passiert es: Sie fahren einen jungen Mann an und geraten in die Widersprüche des Landes. Fortan fühlen sie sich dem Fremden verpflichtet, heuern ihn als Guide an, doch das Verhältnis zu Unami ist ambivalent: Wie weit können sie ihm trauen? Wie sehr müssen sie ihre Beziehung verstecken in einem Land, in dem Homosexualität tabu ist und sogar unter Strafe steht? Sie geben sich als Brüder aus und bezahlen Unami, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Zwischen Misstrauen und Annäherung reisen sie von Südafrika nach Simbabwe, Unamis Heimat, und sind nicht mehr selbstbestimmt unterwegs. Unami wird mehr und mehr zum Katalysator für ihre Liebesbeziehung in der Krise.
Mythologisches Wasser
Je schwieriger die äußere Lage wird, umso anziehender wirken die mythologischen Spuren, die Geschichten vom Wasser, die den Erzähler an die Kindheit erinnern, als er im heimischen Garten mit seinem Vater einen Wasserfall baute. Unami erzählt ihnen die Legende vom Wassergott, dem Schlangenfisch Nyami. Nyami, der den Hungernden zu essen gab, seit der Erbauung des Staudamms jedoch verschwunden ist – mitsamt den Zwangsumgesiedelten. Wasser als Leitmotiv taucht früh auf, und die großen Wasserfälle stehen ganz oben auf ihrem Tourenplan. Der Autor Gunther Geltinger sagt:
"Wasser ist ein Rohstoff. Es ist insofern mit dem Titel Benzin verbunden, weil sogar das Öl ja auf Wasser basiert, ehemaliges Plankton, das wurde irgendwann zu Erdöl. Aus Erdöl wird Benzin gewonnen. Beides sind Rohstoffe, die wir in unserer privilegierten westlichen Welt als selbstverständlich erachten, beides wird auf dieser Reise knapp. Darüber hinaus hat es eine metaphysische Ebene, spielt eine Rolle, wie eigentlich in allen meinen Romanen, Wasser bildet die Grenze zwischen der Welt der Menschen und der metaphysischen Welt. Es ist das Urelement, aus dem der Mensch entstanden ist. Und es ist immer in Bewegung, der Fluss hört nie auf zu strömen.
Gratwanderung der politischen Korrektheit
Diese Bewegung setzt Geltinger im Roman mit spürbarem Tempo um. Der Titel Benzin spielt auf unterschiedliche Bedeutungsebenen an: Ganz real als Treibstoff, den die Reisenden zum Fortkommen brauchen und der im entscheidenden Moment fehlt. Ein Kipppunkt, der dazu führt, dass Vinz auf dem Weg zum Sambesi in Simbabwe plötzlich allein unterwegs ist und tief in 'das Fremde' vordringt. Als universaler Treibstoff ist Benzin auch Metapher für das, was sich die Europäer vom Leib halten wollen und gleichwohl brauchen.

Als 'normale' Touristen werden sie mit der afrikanischen Wirklichkeit konfrontiert, mit der Armut und politischen Ohnmacht, mit Menschlichkeit und Korruption, dem ausgeprägten Körperbewusstsein und dem Stolz der Menschen. Ihrem Wunsch, sich als Afrikareisende korrekt zu verhalten, stehen die vielen Erscheinungsformen von Postkolonialismus gegenüber: eine Gratwanderung, die zugleich das Machtgefälle zwischen dem oft zweifelnden Vinz und dem rationalen Naturwissenschaftler Alexander spiegelt, deren Beziehung bei jedem Konflikt neu auf der Kippe zu stehen scheint.
Benzin, der Treibstoff für Leben und Literatur
Und Benzin ist der 'Treibstoff', den Vinz zum Schreiben braucht, denn er ist nicht nur der Erzähler, er ist Schriftsteller. Er benutzt die Figuren – durchaus ambivalente Charaktere – als Material für seinen Afrika-Roman, spielt im Kopf eine Poetologie durch und schickt seine Protagonisten durch etliche Varianten einer Reisedramaturgie auf dem Trip durch ein Land, in dem Menschen per Lynchjustiz verbrannt werden, einen mit Benzin gefüllten Autoreifen um den Hals.
Reales Geschehen und Poetik verdichten sich im Laufe der Geschichte immer mehr, eine ähnliche Engführung wie in Geltingers Debüt "Mensch Engel". Zugleich agieren die Figuren selbständig. Die vermeintliche Macht über seine Figuren wirken beim Erzähler Vinz wie ein Abbild seiner eigenen Ohnmacht. Geltinger:
Ein Autor muss seinen Figuren voraus sein
"Es gibt eine Stelle im Roman, da legt er seine Poetologie offen, indem er sagt: Er muss seinen Figuren immer voraus sein. Wenn er ihre Entscheidungen und Bewegungen antizipieren kann, ist er auf der falschen Fährte. Beim Schreiben ist er an sein Lieben gekoppelt, und er schreibt über seine Beziehung als autofiktionaler Schreiber, diesen Ruf hat er auch. Wenn die Liebe an ihre Grenzen kommt, stößt er an seine Grenzen. Die Beziehung, die Liebe muss weitergehen, damit das Schreiben weitergehen kann.
Das magische Denken – vielleicht ein Markenzeichen Geltingers – spielte schon in den beiden ersten Romanen eine Rolle, ähnlich wie das Autofiktionale. Hier ist es der offene Blick in die Volksseele der Schwulen mit den Chats und schnellen Dates und einer gleichermaßen männlichen Brutalität, und Vinz‘ Versuch, seinen Liebhaber Manuel zu vergessen, um die Liebe zu Alexander zu retten.
Magisches Denken, heiße Chats
Als ihm später sein Handy abgenommen wird, weil er versucht, eine politische Gewalttat zu filmen, reißt der Kontakt zu Manuel ab. Das Ausschleichen aus diesem Liebeskonflikt und der deutschen Schwulenwelt lassen die Widersprüche in der Beziehung zu Alexander umso deutlicher werden. Sie werden in rückblickenden Episoden erzählt und vermischen sich mit den Abenteuern in Unamis Land: äußere und innere Unsicherheit, Ungerechtigkeit und Gewaltherrschaft, und genauso die große Schönheit des Landes, die Natur, die Tiere, die Momente tiefen Eintauchens darin.
Auf den Spuren von Paul Bowles
Es wird zur komplexen Einheit von Außen, Innen und Struktur, oder konkreter von: Reise, Liebe und Schreiben. Diese spiegelt sich in Paul Bowles Roman "The sheltering Sky", den Vinz als Junge oft gelesen hat und auf den er nun als Erzähler immer wieder Bezug nimmt – als könnte die Analogie noch Schutz gewähren. Geltinger:

"Eben nicht mehr. "The sheltering Sky" wurde in der Zeit geschrieben nach dem Zweiten Weltkrieg, als Reisen tatsächlich eine Begegnung mit dem Fremden war. Diese Form des Reisens gibt es heute nicht mehr. Wir reisen immer wieder in bekannte Bilder, in Spiegelungen, wir kennen sie aus den Medien. Wir reisen auch nicht mehr zu uns selbst, sondern nur noch in die Abbilder von uns."
HIV und der Wunsch nach Erlösung
Der Roman wird von A bis Z erzählt, und bald bricht die zeitliche Chronologie in den alphabetischen Kapitelnamen auf: Orte, Geschehnisse, Wasserfälle scheinen ineinander überzugehen so wie Unamis körperliche Verfassung, die sich schließlich als HIV herausstellt. Dabei folgt die Engführung von Autofiktion und Story einer stimmigen Erzählökonomie. Geltingers Sprache ist beeindruckend durchlässig, als sei sie durch einen Reinigungsprozess gegangen und habe, befreit von symbolischer Schwere, in diesem Roman zu sich selbst gefunden.
Im langen O-Kapitel laufen die dramaturgischen und emotionalen Linien zusammen. Das O steht für Opfer. Vinz opfert Manuel für das Schreiben – oder gar seine Beziehung? Und als Unami die Einreise in sein Heimatland verwehrt wird, wo er die todkranke Mutter besuchen will, könnten Vinz und Alexander auch ohne ihn weiterreisen … doch sie bleiben zusammen, überlegen sogar, ihn mit nach Deutschland zu nehmen.
Bis zum Finale an den Victoriafällen in Simbabwe, zur Zeit, als die Menschen gegen Machthaber Mugabe protestieren und auf die Straße gehen, wird mit großer Dringlichkeit erzählt. Oder ist es mittlerweile ein und dieselbe Person, Figur und Erzähler, ein Mensch, der hier spricht mit seinem Wunsch nach Erlösung:
"Ja, es geht um die metaphysische Kraft der Liebe insofern, dass es um Sprache geht. Sprache macht uns Menschen zu Menschen. Vinz ist als Liebessucher gleichzeitig ein Gottsucher […] Er war bisher nur Schriftsteller, er muss den Schriftsteller überwinden, um zu einer neuen menschlichen Sprache zu finden, einer Sprache, die die alten Kategorien verlässt, alte Festschreibungen, zum Beispiel koloniale Ressentiments, überwindet, da bekommt die Sprache durchaus eine metaphysische Ebene."
Die eigene Wirklichkeit rückwärts lesen
Spätestens an den Victoria-Fällen zeigt sich der Übergang von äußerer zu innerer Geschichte. An der Fall-Kante, wo der Junge von damals steht mit dem Wunsch, den Wasserfall zu bezwingen. Es ist wie ein Warten auf die Vergangenheit. Dort endet die Reise, nicht aber die Fiktion. Gunther Geltinger erklärt:
"Vinz muss die Wirklichkeit rückwärts lesen, um schreiben zu können. Das heißt, er geht davon aus, dass hinter der Wirklichkeit ein Zeichensystem ist, das sich in Schrift übersetzen lässt. Er schreibt beim Wahrnehmen und das macht die Struktur des Buches aus, was erzählt wird. Die Wirklichkeit deutet immer in die Poesie und umgekehrt. Es ist ein in sich geschlossener Kreis."

Im Spannungsbogen der vielschichtigen Motive gelingt Geltinger das Erzählen komplexer Wirklichkeit so intensiv wie berührend. Und er verbindet es mit dem ureigenen Anliegen von Literatur: mit der Suche nach existenziellen Lebensfragen, mit einer Vision vom Menschsein – jenseits von Reise und Fiktion.
Gunther Geltinger: "Benzin"
Suhrkamp Verlag, Berlin. 378 Seiten, 24 Euro.