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Guram Dotschanaschwili: "Das erste Gewand"
Geschichte vom verlorenen Sohn

Ein verlorener Sohn, eine verlorene Liebe, eine verlorene Revolution und die Rettung durch Kunst. Der georgische Schriftsteller Guram Dotschanaschwili hat mit seinem Roman "Das erste Gewand" ein Meisterwerk geschaffen. Das Buch aus den 70er Jahren gilt heute als Klassiker der modernen Literatur Georgiens.

Von Uli Hufen | 06.05.2019
Der georgische Schriftsteller Guram Dotschanaschwili und sein Roman „Das erste Gewand"
Der georgische Schriftsteller Guram Dotschanaschwili und sein Roman „Das erste Gewand" (Buchcover Hanser Verlag / Autorenfoto (c) Nata Sopromadse)
Die Sowjetunion war ein Imperium. Aber keins, in dem ein Volk über alle anderen geherrscht hätte, so wie Briten und Deutsche über Inder und Hereros herrschten. Ein Georgier konnte Staatschef werden, die georgische Küche war die all-sowjetische Haute Cousine und georgische Pianisten, Sänger und Filmemacher wurden auch in Moskau, Kiew und Leningrad gefeiert.
Darum wunderte es auch niemanden, als Anfang der 80er Jahre der Roman "Das erste Gewand" von Guram Dotschanaschwili in den Buchhandlungen des Landes auftauchte. Guram Dotschanaschwili:
"Dann wurde mein Buch ins Russische übersetzt, von einer Frau aus Moskau. … Man ging von einer Auflage von 15.000 aus. Das war so eine Grenze für Bücher, die aus Sprachen der kleineren Unionsrepubliken übersetzt wurden. Eines Tages ruft die Übersetzerin mich an und sagte: "Sie haben den Druck gestoppt!" - Aber es war gar nicht so, dass es dem Zensor nicht gefallen hatte.
Sie erklärte mir, dass die Zensoren sowieso nur einen Druckbogen lesen, 16 Seiten, die machen das an einem Tag. Woher sie das wusste, weiß ich nicht. Aber die Zensoren wurden ja aus allen Berufen ausgewählt, Ingenieure waren dabei, viele Berufe. Jedenfalls, wer immer es war, möge Gott ihm ein langes Leben schenken, der Zensor, der mein Buch las, schrieb eine Beschwerde und das führte dazu, dass von meinem Buch nicht 15.000 Exemplare gedruckt wurden, sondern erst 150.000 und dann noch einmal 250.000."
Biblische Motive
Guram Dotschanaschwili, der im Frühjahr 80 Jahre alt wird, lacht verschmitzt, als er die Anekdote aus längst vergangenen, schon halb mythischen Zeiten erzählt. Aber die Geschichte ist nicht nur witzig. Sie erzählt auch viel über das Land, in dem Dotschanaschwili den größten Teil seines Lebens verbrachte, und über sein Meisterwerk "Das erste Gewand".
Der Roman erzählt die Geschichte eines verlorenen Sohnes, der hinaus in die Welt muss, um zu begreifen, was er an seiner Heimat und den Nächsten hat. Das 15. Kapitel des Lukas-Evangeliums stand hier Pate. Der Roman erzählt aber auch von einer verlorenen Liebe, von verlorener Unschuld, von einer verlorenen Revolution und von der Errettung der Welt durch die Kunst. Er verarbeitet biblische Motive und historische Ereignisse.
Er ist stark geprägt vom südamerikanischen magischen Realismus, von der georgischen Dichtkunst und von Johann Sebastian Bachs polyphoner Stimmführung. Er lässt sich als philosophischer Roman lesen oder als historische Allegorie. Man kann aber durchaus auch den Moskauer Zensor verstehen, der sich wohl dachte: "Wow, ein umwerfendes Märchen von epischer Wucht! Das sollen alle lesen!"
"13 Jahre habe ich daran gearbeitet, von 1966 bis 1978."
Ein philosophischer Roman
Die Geschichte beginnt in einer pastoralen Idylle. Dotschanaschwili macht nirgends Angaben zu Zeit und Ort, aber seine georgischen Leser werden das Dorf, in dem die Brüder Domenico und Gwegwe aufwachsen, gewiss im Kaukasus verortet haben. Überall laufen Tiere herum, die Jahreszeiten prägen das Leben, alles ist schon lange so, wie es immer war, und die großen Ereignisse heißen Geburt, Hochzeit und Tod.
Beherrscht wird diese Welt vom Vater der beiden Jungen, einem märchenhaft gerechten und weisen Patriarchen. Er ist nicht nur der Hüter der Ordnung, sondern auch des sogenannten "Ersten Gewandes", das in einem jener steinernen Wehr-Türme aufbewahrt wird, die Georgien-Touristen bis heute faszinieren.
"Auf einem niedrigen hölzernen Thron lag es – das erste Gewand. Der Vater näherte sich ihm bedächtig, zündete die Fackel an und unzählige reine Lichtfäden strebten sirrend von dem Gewand ins Dunkle. Lila leuchtete ein großer Amethyst an dem mit Emaille veredelten Kragen, und grün flimmerten die Türkissteine, die das ganze Gewand säumten.
Zwischen den Türkisen glitzerten blau Saphire, und neben jedem Stein steckte ein Perlenpaar. Das ganze Kleid war von Goldfäden durchwirkt, es war, als ob Tausende eisig glitzernde gelbe Krümel raschelnd ineinander zerbröselten."
Ein Bösewicht wie aus einem Bond-Film
Als der verträumte, naive Domenico unter dem Einfluss eines geheimnisvollen Wanderers beschließt, hinaus in die Welt zu ziehen, verkauft der Vater die meisten Edelsteine vom Ersten Gewand um Domenicos Reisekasse zu füllen. Und dann geht es los: Wie im Märchen muss Dotschanaschwilis Held drei Aufgaben lösen.
Allerdings geht es nicht um Drachen oder Rätsel. Domenico muss in drei verschiedenen Städten leben. Feinstadt, Kamora und Canudos repräsentieren in den Augen von Dotschanaschwili wohl so etwas wie drei große Verführungen, denen es auf dem Weg zu Weisheit und Glück zu widerstehen gilt.
Feinstadt ist ein Ort der zivilisierten Oberflächlichkeit. Hinter den schönen Manieren der Bürger, die alle italienische Namen tragen, verbirgt sich ein Abgrund aus Niedertracht und Gefallsucht. In der aus Marmor erbauten Stadt Kamora hingegen herrscht Marschall Bittencourt, ein dämonischer Cartoon-Bösewicht, der stark an den James-Bond-Widersacher Blofeld erinnert:
"Er beschäftigte sich weiter mit der Katze, pustete ihr auch noch ins Fell, etwa so: Phhhh, A-ru-faaa, phhhh … »Wie läuft’s in der Unteren Stadt?« »Gut, Marschall, sie bringen einander um.« »Sind sie nicht zu stark dezimiert?« »Nein, Grandisssimohalller. Es hält sich im Rahmen. So wie sie einander umbringen, vermehren sie sich auch. Wie die Ratten, Grandisssimohalller.« »Das ist gut«, sagte Bittencourt, seine Hand glitt unters Hemd."
Schließlich: Canudos, der Ort des Widerstandes, die revolutionäre Utopie. Fünf ebenso arme wie heilige Männer führen das Volk ins Nirgendwo und errichten dort eine Stadt aus Lehm. Das Vorbild für sein Revolutionsgemälde fand Dotschanaschwili da, wo es etwas später auch Mario Vargas Llosa fand: im Brasilien des späten 19.Jahrhunderts:
"Es gibt ja zwei Bücher über diesen Aufstand. Eins von Vargas Llosa, der später den Nobelpreis bekam und meins. … Das Buch von Llosa gab es noch nicht, als ich schrieb. Ich erfuhr vom Aufstand von Canudos aus der sowjetischen Zeitschrift "Rund um die Welt". Da erschien eine Reportage, drei Seiten, davon die Hälfte Fotos. Und die Fotos haben mir sehr geholfen. Als Llosa sein Buch schrieb, hatte er als Material neunhundert Seiten von einem Kriegsberichterstatter, der die Regierungstruppen begleitete, die den Aufstand niederschlugen."
Errettung durch Kunst
Wäre Dotschanaschwili ein Autor der 20er Jahre gewesen, hätte der Aufstand von Canudos in seinem Roman vielleicht gesiegt. 50 Jahre später glaubte in der Sowjetunion niemand mehr an eine solche Utopie, schon gar nicht junge liberale Intellektuelle, wie Dotschanaschwili einer war.
Schon als Teenager hatte er gegen den sowjetischen Einmarsch in Ungarn protestiert. Weil er und seine Freunde allesamt der georgischen Oberschicht entstammten, entgingen sie einer Bestrafung, offenbar eine Entscheidung von Parteichef Chruschtschow persönlich. Da Politik zu gefährlich war, tat Dotschanaschwili dann, was viele in seiner sogenannten "Generation der 60er" taten: Er verlegte sich auf Kunst und Wissenschaft, arbeitete viele Jahre als Archäologe und später als Literaturredakteur.
Seine Frau, die Germanistin Natela Sepiaschwili, die den großen Träumer Dotschanaschwili auch im hohen Alter noch durchs Leben leitet, erinnert sich an diese Zeit mit Sehnsucht:
"Es war ein Segen: er war frei! Es gab Zensur, es gab alles, aber Guram war schöpferisch frei. Er konnte machen was er wollte und versteckte nichts. Dabei war er nicht in der Partei, nirgends Mitglied. Aber man machte ihn zum stellvertretenden Chefredakteur für Literatur beim georgischen Kino."
Durch Leiden zur Liebe
Dotschanaschwilis Roman spiegelt die Weltsicht der spät-sowjetischen Intelligenzija, naturgemäß tief schattiert durch georgische Traditionen. In Kamora konnten zeitgenössische Leser eine Allegorie auf die Stalinjahre erkennen, in Feinstadt eine auf die hochkultivierte, aber angepasste Welt des offiziellen sowjetischen Tbilisi.
Weil Dotschanaschwilis Roman aber in einer vage mittelalterlichen Fantasiewelt spielt, verstehen heutige georgische Leser Kamora und Canudos offenbar eher als Vorahnung jener Verwüstungen, die der georgische Bürgerkrieg der 90er anrichtete. Die ultrakonservative Lösung, die Dotschanaschwili in seiner märchenhaft schönen Prosa anbietet, bleibt dieselbe: Achte die Alten und die Traditionen! Durch Leiden zur Liebe! Und vor allem: Die Kunst siegt!
Als Domenico irgendwann wieder zu Hause ankommt, wird er durch ein archaisches, phänomenal bildmächtiges Ritual der Dorfgemeinschaft zum Dichter erhoben. Und man ahnt als Leser, dass Domenicos Nachname Dotschanaschwili lauten könnte.
Guram Dotschanaschwili: "Das erste Gewand"
Aus dem Georgischen von Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse
Hanser Verlag, München
672 Seiten. 32 Euro