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Gute und schlechte Morde

Nicolai Lilin schildert das Hineinwachsen eines Jungen in die Verbrecherwelt. Sein Clan lebt nach einem strengen Ehrenkodex. Darin gibt es gute und schlechte Morde und: "ehrbare" und "sündige" Waffen.

Von Marie Luise Knott | 05.07.2010
    Noch immer stellen wir uns Sowjetrussland vor wie eine bis in die Kommunalküche hinein staatlich kontrollierte Gesellschaft. Doch in den letzten Jahren wird bekannt, dass ausgerechnet die professionellen Verbrecher, auch Urki genannt, selbst in den finsteren Zeiten der Stalinherrschaft über ein autochthones Netz von Sub-Beziehungen verfügten – über eigene Informations- und Handelsströme, über eigene Einkommensquellen und über eine gemeinschaftliche Geldwirtschaft. Sie bildeten hierarchisch aufgebaute Gruppen, in denen – wie in vielen Subkulturen – alle nach strengen Ritualen lebten und die Regeln strikt befolgen mussten. Man erinnert sich wieder an Isaak Babels meisterlich erzählte "Geschichten aus Odessa" über den Aufstieg und Fall eines fiktiven Verbrecherkönigs namens Benja Krik.

    Im letzten Jahr nun ist in Italien der angeblich autobiografische Roman eines ehemaligen jugendlichen Bandenmitglieds erschienen: Nicolai Lilin, geboren 1980, der in Transnistrien, in der Stadt Bender, aufwuchs und – wie der Held seiner Geschichte - nach einem Militäreinsatz im Tschetschenien-Krieg 2003 nach Italien floh, schildert das Hineinwachsen eines Jungen in die Verbrecherwelt. Sein Clan – mal heißt er: "die Sibirer", mal "urki", mal "sibirische Urki" mal "Kriminelle" – lebt nach einem strengen Ehrenkodex. Darin gibt es gute und schlechte Morde und, wie die Übersetzung das nennt: "ehrbare" und "sündige" Waffen. In dieser Welt adelt manch ein Mord den Täter ebenso wie ein Gefängnisaufenthalt.

    In der sibirischen Gemeinschaft lernt man das Töten von klein auf. Unsere Lebensphilosophie ist eng mit dem Tod verbunden, den Kindern wird beigebracht, dass Gefahr und Tod Teil der Existenz sind und dass es daher normal ist, jemandem das Leben zu nehmen, oder zu sterben, wenn es einen vernünftigen Grund dafür gibt.

    Der Ich-Erzähler nimmt seine Umgebung als selbstverständlich an, wie Kinder das tun. Die Pistole bezeichnet er als "Arbeitsgerät". Und wenn der Vater nach einem Überfall auf einen Geldtransporter nach Hause kommt, wird dies so erzählt, als sei er auf Montage gewesen. Polizisten und Wachleute heißen durchweg "Köter", wer gut mit dem Messer umgehen kann, wird "Schriftsteller" genannt. Alles hat seine eigene Ordnung bei diesen "Sibirern".

    Wenn ein Krimineller nach Hause kommt, geht er als Erstes zum roten Winkel, zieht die Pistole aus und legt sie auf die Ablage, danach bekreuzigt er sich und legt ein Kruzifix auf die Pistole....: Das Kruzifix ist eine Art Siegel, das der Kriminelle erst wieder aufbricht, wenn er das Haus verläßt.

    Der Name kennzeichnet die regionale Herkunft der Bande; außerdem spielt er mit einem russischen Klischee, demzufolge Verbrecher in Sibirien leben. Bevor die "Urki", so erzählt es der Roman, unter Stalin nach Transnistrien deportiert wurden, lebten sie im Osten vor allem von Überfällen auf Handelskarawanen. Nach der Deportation musste sich der Clan des Ich-Erzählers in der Stadt Bender ansiedeln, wo sie sich neue schnell neue Netze aufbauten. Im Roman überfallen sie vor allem Geldtransporte und plündern Warenlager. Beraubt werden nur Reiche – insbesondere der Staat. Denn die "sibirische Erziehung" versteht sich noch in den 1980er-Jahren als Widerstand gegen die Sowjetmacht. Das verleiht innere Legitimität.

    Die Clanjugend, in die der Ich-Erzähler hineinwächst, schützt die Armen und Schwachen; alle organisieren, plündern, prügeln und töten. Und sie fühlen sich anständig, ja großartig dabei. Was wir Selbstjustiz nennen würden, ist für sie Herstellung von Gerechtigkeit.

    Alles, was der Junge über das strenge Regelwerk der Kommunikation innerhalb der Großfamilie – also zwischen den Generationen und Geschlechtern – erzählt, wirkt wie aus einer fernen Welt. Das Verhalten gegenüber der Außenwelt hingegen wirkt bekannt, ja, bedrohlich real. Lilins Held hatte am Ende Glück – er erhielt (wie der Autor auch) eine Ausbildung als Tätowierer, die ihm letztlich einen Ausstieg und nach seiner Ankunft in Italien den Lebensunterhalt sicherte. Heute sagt Lilin:

    "Ich möchte lieber Geschichten mit Worten erzählen, als weiter Löcher in die Haut zu stechen."

    Verkauft wird das Buch "Sibirische Erziehung" als Autobiografie. Die Sprache unterstützt diesen Eindruck. Sie ist lakonisch, unbeholfen, voller Klischees und Verbrecherjargon, als habe Lilin die erlebten Geschichten auf Italienisch aufs Tonband gesprochen. Doch als autobiografischer Bericht geht das Ganze nicht auf. Alle zeitlichen Angaben sind so schief oder vage, dass man als Leser keinen Faden findet. Und dort wo Fakten geboten werden, kommen Zweifel auf. Wie kann Stalin, wie es im Klappentext heißt, den Urki-Clan 1938 von Sibirien nach Bender umgesiedelt haben, wenn diese Stadt damals noch zu Rumänien gehörte? Und wie kann es sein, dass die Polizei in Transnistrien jugendliche Kriminelle, die sie nach einer Straftat aufgriffen hat, freilässt, ohne deren Identität überprüft zu haben? Und warum wird ein Bewohner dieses (nicht anerkannten) Staates gegen seinen Willen Ende der 1990er-Jahre in den Tschetschenienkrieg eingezogen? Möglicherweise rühren einige Fehler und vor allem die Unschärfen des Textes daher, dass in Italien ein fremder Redakteur Lilins Geschichte verschriftet hat. Und möglicherweise verstärkt die deutsche Übersetzung diese Schwäche. In jedem Fall ist "Sibirische Erziehung" Fiktion. Auf lose, nicht immer überzeugende Weise hat Lilin darin wundersam skurrile Geschichten verwoben. Die Kraft des Romans ist sein Verbrecherlatein. Sogar Babels Benja Krik hat Lilin derart in seine Welt hineingesponnen, als habe dieser in den 1940er-Jahren tatsächlich gelebt und gekämpft. Man ahnt: Wie der Klatsch für den Gesellschaftsroman, ist Verbrecherlatein der Grundstoff des Bandenromans.

    Was letztlich fasziniert, ist, dass es dem Autor gelingt, das Bandenleben dieser "ehrbaren Verbrecher" von innen heraus zu beschreiben. Das ist etwas Neues. Kein Wunder, dass der italienische Mafiaspezialist, Alberto Saviano, sich für das Buch engagiert hat, und kein Wunder, dass der Roman in Italien so erfolgreich war!

    Die Frage, ob Lilin das alles so erlebt hat, ist für die besseren der Geschichten sowieso nebensächlich. Wer muss schon wissen, ob es tatsächlich in den 1990er-Jahren in Bender einen Jungen gegeben hat, der immer neue Pläne ausheckte, wie er mit seiner Jugendbande den großen Stern vom Turm des Kreml klauen könnte – nur weil er überzeugt war, dass dieser Stern unterhalb der roten Lackfarbe aus purem Gold sei. Si non e vero, e ben trovato (Übersetzung: Wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden)

    Nicolai Lilin: "Sibirische Erziehung". Aus dem Italienischen von Peter Klöss, suhrkamp nova, Berlin, 453 Seiten, 14,90 Euro