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Guter Onkel

Ein Tod am Anfang – das sichert immer einen fulminanten Auftakt für einen Roman. Da weckt das Pathos der Endgültigkeit das tragische Empfinden im Leser, da wird man nicht eher mit der Lektüre ruhen, bis man die Umstände und Ursachen dieses Todes erfahren hat. Ein ebenso sensationsbewusster wie effektiver Kniff, den auch Jostein Gaarder in seinem neuen Roman bemüht – aber damit nicht genug:

Nicole Strecker | 16.01.2004
    Mein Vater ist vor elf Jahren gestorben. Damals war ich erst vier. Ich hatte nie damit gerechnet, je wieder von ihm zu hören, aber jetzt schreiben wir zusammen ein Buch.

    Wunder oder Leserfalle? Es steckt kein mystisches Ereignis hinter dieser Ko-Autorschaft zwischen Vater und Sohn, und Gaarder hält sich diesmal komplett an eine glaubwürdige Realität in seiner Geschichte. Denn der 15jährige Georg, wie der Ich-Erzähler in Gaarders Roman heißt, sitzt ganz alleine vor dem Computer und schreibt. Genauer: Er kommentiert, und zwar einen Brief seines Vaters, den dieser vor elf Jahren, kurz vor seinem Tod geschrieben und versteckt hat, und der nun dem Jugendlichen in die Hände gefallen ist. So entspinnt sich ein Dialog zwischen Vater und Sohn. Der Vater erzählt dem Sohn die Geschichte seiner Liebe zu einem geheimnisvollen "Orangenmädchen", einer jungen Frau, der er mehrfach mit einer riesigen Tüte voll Orangen in den Armen begegnete und die die Frau seines Lebens werden sollte.

    Und der Sohn reagiert auf die Romanze seines Vaters. Er kommentiert dessen Liebeshysterie und versucht, all die vielen Verrätselungen dieser Geschichte zu deuten. Binnen- und Rahmenhandlung verflechten sich ineinander zu einer intelligenten Konstruktion, in der vor allem eine kunstvoll verwirrende Verschachtelung von Zeitebenen steckt. Die Schreibgegenwart des Vaters mischt sich mit der Jahre später stattfindenden Schreibgegenwart des Sohnes, beide entwickeln aus ihrer Situation heraus Zukunftsspekulationen oder reisen in die Vergangenheit. – Und die doch eigentlich lineare Zeitachse unserer Wahrnehmung kriegt beim Lesen dieses Romans plötzlich Schlaufen und Brüche.

    Ich schreibe jetzt auf dem alten Computer. Jetzt, meine ich. Das Letzte, was ich eingegeben habe, war: Ich schreibe jetzt auf dem alten Computer. Jetzt, meine ich.

    Die Gegenwart ist nicht zu beschreiben. Im Moment der Deskription ist sie längst schon vorüber und zu etwas Unwirklichem, einer Fiktion geworden. Das zeigt uns Gaarder hier und macht – wie immer – seinen Roman auch zu einer Reflexion über das Erzählen selbst. Im postmodernen Spiel mit den Metaebenen erweist sich Gaarder wieder einmal als ironischer Meister – im Erzählen einer Geschichte über Liebe und Tod jedoch als betulicher Märchenonkel. Denn der Kern dieses Briefromans ist letztlich nicht mehr als eine Herzensschnulze, die der Philosophie-Missionar Gaarder am Ende allzu bemüht mit metaphysischer Bedeutsamkeit auflädt, wenn er den Vater fragen läßt:

    Würdest du dich für ein kurzes Leben hier auf der Erde entscheiden, um dann nach wenigen Jahren von allem weggerissen zu werden und nie mehr zurückkehren zu dürfen? Oder würdest du dankend ablehnen? Du hast nur diese Alternative. Denn so sind die Regeln. Wenn du dich für das Leben entscheidest, entscheidest du dich auch für den Tod.

    Es gehört zur romantischen Idyllensehnsucht des Autors, dass Georg natürlich lebensbejahend antwortet, und so am Ende die heile Welt von Lebenden wie Toten wieder herstellt. So psychologisch glaubwürdig Gaarder es am Anfang gelingt, den Schock über die Begegnung mit einem Toten zu vermitteln, so redselig erläutert er leider auch im folgenden Geschehen jede Seelenregung. Gaarder hat eine traurig schlechte Meinung von seinen Lesern: So läßt er nichts in seinem Orangenmädchen-Märchen unerklärt, jede Interpretation gibt er gleich vor und wenn er Wissensschnipsel über Astronomie oder Musikgeschichte einflicht, dann geschieht auch dies mit solch' ausgestellter Begeisterung, dass man auf die Botschaft von den Wundern der Welt ungefähr so neugierig wie auf pastorale Lebensweisheiten reagiert. Es onkelt mit jeder Seite mehr in Gaarders Buch, und am Ende läßt er seinen doch eigentlich gerade mal pubertäre 15 Jahre alten Ich-Erzähler gar mit Gutmenschen-Ratschlägen direkte Ansprachen an den Leser halten. Ein Berufener preist dann das Glück des Lebens – aber das anfängliche Glück des Lesens hat man bis dahin längst verloren.

    Jostein Gaarder
    Das Orangenmädchen
    Hanser, 188 S., EUR 14,90