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Gysi: Die Stimmen werden anderen Parteien zugerechnet

Gregor Gysi hält den Fall der Fünf-Prozent-Hürde auch bei Bundestagswahlen für sinnvoll. Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, findet es problematisch dass eine Partei, die von vier Prozent der Bevölkerung gewählt wird, keinen Abgeordneten stellt.

Gregor Gysi im Gespräch mit Silvia Engels | 10.11.2011
    Silvia Engels: Es war eine knappe Entscheidung aus Karlsruhe und sie birgt wo möglich Sprengkraft. Mit 5:3 Stimmen stufte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die deutsche Fünf-Prozent-Klausel bei Wahlen zum Europaparlament als verfassungswidrig ein. Ab der nächsten Europawahl 2014 sollen also auch die Parteien ins EU-Parlament einziehen dürfen, die weniger als fünf Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. Für Bundestagswahlen hat diese Entscheidung keine Auswirkung. Die Richter unterschieden zum Beispiel, dass das Europaparlament im Gegensatz zum Bundestag keine Regierung wähle und folglich nicht so sehr auf stabile Fraktionen angewiesen sei. Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte dazu gestern im ZDF:

    O-Ton Norbert Lammert: "Deswegen sind Schlussfolgerungen völlig daneben, die nun für den Deutschen Bundestag oder für die Landtage ähnliche Regelungen zum Gegenstand hätten."

    Engels: Norbert Lammert. – Die Linkspartei kritisiert die Fünf-Prozent-Klausel seit längerem. Am Telefon ist nun der Fraktionschef der Linken im Bundestag, Gregor Gysi. Guten Morgen, Herr Gysi!

    Gregor Gysi: Guten Morgen, Frau Engels.

    Engels: Eigentlich soll der Spruch nicht für den Bundestag gelten, aber die Linkspartei hat bereits angekündigt, dass durchaus jetzt auch die Sperrklausel hier fallen soll. Sind Sie also völlig daneben, wie Norbert Lammert sagt?

    Gysi: Ja, offenkundig. Das bin ich ja öfter. Das würde mich auch nicht weiter stören. Aber ich verstehe schon, dass jetzt natürlich so eine Abblockhaltung ist, weil man sich in Deutschland ja für die Bundestagswahlen und die Landtagswahlen sehr auch an die Fünf-Prozent-Hürde gewöhnt hat. Nur es bleibt doch ein Kernproblem übrig. Da wird eine Partei, sagen wir mal, mit vier oder mit 4,5 Prozent gewählt und stellt keine Abgeordnete und keinen Abgeordneten. Wir machen ja deshalb den Landtag oder den Bundestag nicht kleiner. Das heißt, die Stimmen dieser Leute werden dann zugerechnet der Union, der SPD, der FDP, den Grünen und uns. Wir kriegen irgendwie einen Sitz mehr von Stimmen, die uns gar nicht gewählt haben. Das ist und bleibt ein Problem. Ich finde immer, dass eine Bevölkerung entsprechend ihrem Wunsch auch vertreten sein muss im Parlament. Und eine natürliche Grenze gibt es sowieso, die gibt es ja übrigens auch beim Europaparlament. Wenn ich nicht eine bestimmte Anzahl von Stimmen erreiche, kriege ich auch nicht einen Abgeordneten, dann fallen die sowieso weg. Aber wenn es eine Stimmenanzahl gibt, die sagen, das macht einen Platz im Parlament aus, dann, finde ich, muss der auch eingenommen werden.

    Engels: Wird die Linkspartei denn nun klagen in Karlsruhe, um die Fünf-Prozent-Hürde auch für den Deutschen Bundestag und oder die Länder abzuschaffen?

    Gysi: Das ist ein bisschen schwer, da brauchen wir immer ein neues Wahlgesetz. Da gibt es ja Fristen, in denen man das machen kann. Wir können ja jetzt nicht einfach so ein altes Gesetz kippen. Aber man kann dann eine Wahl nehmen, um das wieder mal anzugreifen, das werden wir auch tun. Wir werden das jetzt sehr genau juristisch überlegen, welche Schritte man da gehen kann, und wir werden dann den gehen, der am ehesten als zulässig erscheint und mit dem wir dann auch zum Bundesverfassungsgericht kommen.
    Nur ich sage trotzdem: alle, die immer dafür sind und das mit Stabilität und allem Drum und Dran begründen, sollen immer bedenken, dass wir Stimmen der Bürgerinnen und Bürger mit der Fünf-Prozent-Hürde einfach völlig umwidmen, völlig umwidmen. Also ich sage mal extrem: Ich will überhaupt nicht, dass eine rechtsextreme Partei ins Parlament kommt. Aber wenn viereinhalb Prozent die wählen und dafür kriegt Die Linke einen Sitz, das ist schon ein bisschen merkwürdig, und so ist im Augenblick bei uns das Recht geregelt. Also lieber bin ich dann für klare Verhältnisse.

    Engels: Auf der anderen Seite wäre die Linkspartei, neben der FDP im Moment, möglicherweise bei knappen Ergebnissen auch der ganz klare Profiteur, wenn ihre Partei bei 4,5 Prozent oder so etwas herauskommt.

    Gysi: Ja, klar. Das wäre dann der Fall. Wir haben das ja einmal bei der Bundestagswahl erlebt. Aber ich sage mal, das ist wirklich bei mir völlig unabhängig davon. Im Augenblick ist meine Partei bundesweit nicht in der Situation, dass die Gefahr bestünde, dass wir unter die Fünf-Prozent-Hürde-Grenze kommen.

    Engels: Also jetzt Entwicklungshilfe für die FDP.

    Gysi: Wissen Sie, ich würde sogar sagen, das wäre sogar übel, wenn ich, solange wir knapsen an der Fünf-Prozent-Hürde, dafür bin, sie abzuschaffen und, sobald wir relativ sicher darüber sind, der Meinung bin, sie soll beibehalten werden. Nein, so etwas darf man Politikerinnen und Politikern nicht durchgehen lassen. Deshalb bleibe ich dafür: wir können keine Stimmen verfälschen, und bei der Fünf-Prozent-Hürde kommt immer heraus, dass ein bestimmter Teil von Stimmen verfälscht wird.

    Engels: Herr Gysi, Sie haben schon gesagt, dieses Argument des stabilen fraktionsmäßig getragenen Mehrheitssystems, das sei auch nicht für alles brauchbar. Auf der anderen Seite kommt natürlich das Gegenargument, dass in Deutschland gerade mit Blick auf die Weimarer Republik, als das Parlament zersplitterte und nicht mehr handlungsfähig war, die Möglichkeit für Extremisten dann besser wurde, das Parlament war geschwächt. Wischen Sie das komplett vom Tisch?

    Gysi: Nein, das wische ich nicht vom Tisch. Aber ich weise darauf hin, dass die NSDAP, die ja unsere Geschichte so schlimm bestimmt hat, weit über der Fünf-Prozent-Hürde lag. Also ich sage mal, selbst wenn wir in Weimar eine Fünf-Prozent-Hürde gehabt hätten, hätte uns das diesbezüglich gar nichts genutzt. Das machen wir uns eben zu einfach. Ich sage mal, mit so einem Trick, mit so einer Grenze kriege ich doch gesellschaftliche Prozesse nicht ausgelöscht.

    Engels: Aber die Handlungsfähigkeit in Weimar war ja schon vorher eingeschränkt, eben durch die Zersplitterung, und indirekt hat das die NSDAP gestärkt.

    Gysi: Das stimmt. Nur Sie müssen auch sehen, dass die gesamte Gesellschaft so zersplittert war. Das hängt doch von unseren politischen, ökonomischen und sozialen Prozessen ab. Wenn das so weitergeht mit dem Neoliberalismus, dass ständig eingespart wird, Löhne real gekürzt werden, Renten real gekürzt werden und so weiter, dann zersplittert eine Gesellschaft. Darauf müssen wir achten und nicht versuchen, mit so einer Regelung zu sagen, dann kriegen wir es eben künstlich ein bisschen stabiler, als es in Wirklichkeit in der Gesellschaft ist. Wahlen spiegeln eine Situation in der Gesellschaft wieder, und die muss besser werden, dann braucht man auch eine Zersplitterung nicht zu befürchten.

    Engels: Herr Gysi, da erinnere ich mich aber an die Zeit während der Großen Koalition, als auch gerade Die Linke beklagte, dass es ja damals mit SPD, Grünen und Linkspartei eigentlich eine linke Mehrheit im Bundestag gab, und aufgrund von Meinungsverschiedenheiten im Lager sei daraus eben keine Regierung formbar gewesen. Das würde doch nicht leichter, wenn jetzt noch mehr, ich sage mal, linke Parteien im Parlament wären.

    Gysi: Nein, das würde nicht leichter werden. Aber die Dinge sind eben nicht so leicht und so unkompliziert, wie man sich das manchmal wünscht. Wenn es eine Mehrheit von SPD, Grünen und Linken im Bundestag gibt und sie bilden keine Regierung, dann liegt das auch daran, dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler von SPD, Grünen und Linken es noch nicht wollen. Wenn sie es nämlich wirklich wollten, dann setzten sie das auch durch. Das kann ich immer ganz gut beurteilen. Regierungsbildung ist nicht nur eine Frage der Arithmetik, sondern auch immer eine Frage der gesellschaftlichen Stimmung. Und die SPD ist nun mal zurzeit so gestrickt, dass sie immer lieber zur CDU rennt als zu uns. Sie ist ja nicht so wahnsinnig links. Aber ich sage Ihnen, wenn sich die Stimmung in der Gesellschaft ändert, dann wird sich auch das wieder ändern. Also ich glaube auch hier wieder nicht, dass man das mit einer Fünf-Prozent-Hürde geregelt kriegt, sondern das hat immer etwas mit gesellschaftlichen Prozessen zu tun.

    Engels: Herr Gysi, dann schauen wir noch mal auf das Urteil, das ja eigentlich die Europaebene betrifft. Sie haben angesprochen, dass Sie überlegen, eben auch auf Bundesebene klagen zu wollen, wenn sich das irgendwie ergibt. Nun war diese Entscheidung gestern ja knapp: drei Richter waren dafür, die Sperrklausel auch auf Europaebene beizubehalten, fünf waren für die Streichung. Denken Sie, da wird die Politik, die ja auch in Karlsruhe mit Urteilen betrieben wird, jetzt langsam einem Wandel unterliegen?

    Gysi: Also ich denke, es ist der Beginn, weil es ein anderes Denken ist. Ich verstehe zwar, dass sie noch Argumentationen eingebaut haben, um nun wiederum die vorhergehende Rechtsprechung zur Bundestagswahl nicht anzugreifen, aber es ist ja doch ein neuer Denkstil, der sich dort abspielt, und das begrüße ich auf jeden Fall. Das heißt, auch wenn Herr Lammert das nicht wünscht: jetzt sind wir in einer Diskussion, und die muss ja nicht gleich aufgehen in dem Sinne, wie ich mir das wünsche, aber die Diskussion werden wir nicht mehr los werden. Und es gibt ja auch viele Bürgerinnen und Bürger, die enttäuscht sind bei einer Bundestagswahl, weil sie eben eine Partei gewählt haben, die nicht einzieht. Nun kann es ja so sein: die hat so wenig Stimmen, dass sie sowieso niemals eingezogen wäre, auch nicht mit einem Abgeordneten, aber wenn doch, dann müssen wir eben damit leben. Und wenn Sie mal die letzten Wahlen durchgehen, so tragisch wäre das natürlich nicht gewesen, was es da an Veränderungen gegeben hätte. Allerdings wird mir dann entgegengehalten, ja wenn die Leute aber wissen, dass es keine Fünf-Prozent-Hürde gibt, dann wählen natürlich auch mehr Bürgerinnen und Bürger kleinere Parteien. Das kann schon sein, aber dann sage ich wieder, für Stabilität sind wir zuständig, und wenn wir die nicht gebastelt bekommen, dann sind wir auch Schuld daran, wenn das Parlament etwas zerfleddert. Ich bleibe bloß dabei: mit Tricks ist das nicht zu machen und die Diskussion werden wir jetzt bekommen.

    Engels: Ein Argument der Richter in Karlsruhe war ja auch mit Blick auf das EU-Parlament, dass dort derzeit ohnehin schon 162 Parteien aus Europa vertreten sind, die würden sieben Fraktionen bilden, und ob da jetzt insgesamt 169 oder 170 durch die Änderung des deutschen Wahlrechts herauskommen, wäre kein großer Unterschied.

    Gysi: Das ist wahr.

    Engels: Nimmt Karlsruhe wo möglich das europäische Parlament nicht so recht ernst, denn eigentlich soll es ja gestärkt werden?

    Gysi: Ja, das ist wahr. Sie schreiben ja auch, dass sie keine Regierung wählen et cetera. Das stimmt schon, das europäische Parlament hat noch nicht die Rechte, die wir uns vorstellen. Aber Sie haben schon recht: es kommt auch so ein bisschen zum Ausdruck, dass sie es zumindest noch nicht so ernst nehmen wie den Bundestag, was falsch ist und auch ein bisschen daran liegt, dass unser Fernsehen viel zu wenig aus dem europäischen Parlament berichtet. Die meisten wissen ja gar nicht, was die da so treiben, ob die da bloß herumsitzen, oder ob da wichtige Debatten stattfinden, Diskussionen und auch Entscheidungen. Wir haben mit dem europäischen Parlament zunächst sehr schwach begonnen, da durften die ja fast nichts. Langsam stärken sich die Rechte, aber das muss überhaupt erst noch rüberkommen.

    Engels: Das heißt aber, dann wird es möglicherweise auch instabiler, wenn dem europäischen Parlament mal mehr Macht zusteht?

    Gysi: Das stimmt. Dann werden sich in der Regel wahrscheinlich größere Blöcke irgendwie verständigen, was in Europa noch etwas leichter ist, weil bestimmte Prozesse kaum zu beobachten sind. Wenn Sie mal die Wahl von Kommissaren oder Kommissarinnen nehmen, wenn es sie je geben sollte dort, die meisten Menschen in Europa kennen die einzelnen ja nicht, es sei denn, sie machen das schon viele Jahre lang, sonst hat man dazu ja gar keine Beziehung. Das sieht natürlich in Deutschland ganz anders aus. Wenn du hier jemand zur Bundesministerin oder zum Bundesminister machst, mal abgesehen davon, dass der Bundestag sie nicht wählen darf, sondern dass die Kanzlerin oder der Kanzler alleine bestimmt, aber wenn, dann kennt man die, dann kann man was damit anfangen. Wissen Sie, all diese Dinge, die durch die Öffentlichkeit gehen, muss man auch immer wissen, wie groß kann denn das Wissen einer Bevölkerung sein, wie intensiv kann sich denn die Bevölkerung mit diesen Fragen beschäftigt haben. Das ist ja übrigens auch der Grund, weshalb ich für Volksentscheide bin, denn die Erfahrungen belegen, wenn es einen Volksentscheid gibt, beschäftigen sich die Leute auch damit und die Politikerinnen und Politiker fangen plötzlich an zu informieren. Wenn nicht, sehen sie das eben gar nicht als nötig an.

    Engels: Das Für und Wider der Fünf-Prozent-Klausel besprachen wir mit Gregor Gysi. Er ist der Fraktionschef der Linken im Bundestag. Vielen Dank für das Gespräch.

    Gysi: Bitte schön, Frau Engels.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.