Donnerstag, 28. März 2024

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H.M. van den Brink: "Ein Leben nach Maß"
Der Mensch im Pflichterfüllungsrahmen

In Deutschland erschien im Jahr 2000 seine Novelle "Über das Wasser", in der van den Brink subtil von der Sommerfreundschaft zweier höchst unterschiedlicher Jugendlicher erzählte. Nun ist van den Brinks neuer Roman erschienen – und auch er handelt von einer ungewöhnlichen Zweierbeziehung.

Von Christoph Schröder | 01.03.2018
    Buchcover: H.M. van den Brink: "Ein Leben nach Maß"
    Buchcover H.M. van den Brink: "Ein Leben nach Maß" (Buchcover: Carl Hanser Verlag, Hintergrundfoto: imago/ Westend61)
    Im Fiebertraum erscheint dem mittlerweile 66 Jahre alten Ich-Erzähler ein Mann, mit dem er mehr als 40 Jahre seines Lebens verbracht hat. Wenn auch in einer ganz besonderen Konstellation, in einer Mischung aus beruflicher Nähe und größtmöglicher persönlicher Distanz. Karl Dijk, so heißt der Mann, und der Ich-Erzähler in H.M van den Brinks schmalen Roman, haben gemeinsam ihre Ausbildung in der Eichbehörde einer niederländischen Stadt begonnen. In den frühen 1960er-Jahren war das.
    Sie haben sich ein Büro geteilt, haben sich ausgetauscht über ihren Alltag, haben die Veränderungen ihrer Arbeitsbedingungen gemeinsam miterlebt – doch nie hat jener geheimnisvolle Karl Dijk auch nur ein Wort verloren über den Menschen, der er außerhalb seines Pflichterfüllungsrahmens war. Die persönlichste Geste zwischen den beiden Männern ereignete sich gleich zu Beginn ihrer kuriosen Nähe-Distanz-Beziehung:
    "Sein Händedruck war kurz, fest und entschlossen. Ich fühlte seine knochigen Finger. Zum ersten und auch zum letzten Mal, glaube ich. Denn danach haben wir uns nie wieder die Hand gegeben. Nicht einmal bei einer Beförderung oder zu Beginn eines neuen Jahres taten wir das, und neue Jahre sind seitdem doch in großer Zahl gekommen und gegangen."
    Maßeinheiten und ihre wechselhafte Geschichte
    H.M. van den Brinks Protagonist ist in seinem Charakter so klar umrissen wie er als reale Person ungreifbar geworden ist: Denn Karl Dijk verschwindet just an jenem Tag spurlos, an dem er mit einer Abschiedsfeier in den Vorruhestand geschickt werden soll. "Ein Leben nach Maß" ist ein Roman, in dem man sehr viele detaillierte Informationen erhält über Maßeinheiten und deren wechselhafte Geschichte. Doch selbstverständlich ist das kein reiner Selbstzweck. Denn in den Augen des Ich-Erzählers ist jener Karl Dijk die stocksteife Verkörperung unveräußerlicher Werte. Eine unbestechliche Konstante in einer sich nicht eben zum Besseren wandelnden Welt. Und van den Brink begreift die Maßeinheiten von Meter und Kilogramm wie auch die Behörde, in der die beiden Männer arbeiten, als eine Metapher für das richtige, das gute Handeln an sich:
    "König Willem I. hatte bei der Einweihung erklärt, das Eichgesetz sei dazu gedacht, die Ehrlichkeit zu fördern. Nicht das Recht, die Logik oder die Exaktheit, sondern die Ehrlichkeit, und das ist doch wirklich eine Sache der Moral."
    Worin besteht die Aufgabe dieser beiden Männer? Sie reisen durchs Land und überprüfen Waagen und andere Messinstrumente wie Gaszähler oder Fieberthermometer. Wer von ihnen den grünen Aufkleber erhält, ist nicht nur auf der juristisch sicheren Seite, sondern darf sich auch in dem Gefühl wähnen, gegenüber seinen Kunden als ehrlicher Mensch dazustehen.
    Die Schilderungen der Reisen des Ich-Erzählers durch die ländlichen Gebiete in den 60er-Jahren gehören zu den atmosphärisch gelungensten und eindringlichsten Passagen des Romans. In ihnen ist der Strukturwandel ablesbar, die ökonomisch bedingte Umwandlung eines Landes – und die damit verbundenen Einzelschicksale, die Tristesse, die privaten Verluste.
    Eine Existenz in stiller Einsamkeit
    Auf einer seiner Dienstreisen macht der Erzähler Halt in einem Dorf und landet am Abend in einer Kneipe, in der er neben dem Wirt der einzige Gast ist. Ihre besten Zeiten, so erfährt er, hatte die Kneipe in der Besatzungszeit. Heute wartet der Wirt in Untergangsstimmung auf den Einmarsch der Russen. Ansonsten ist das Leben hier eine Existenz in stiller Einsamkeit:
    "Ich musste an den Mann und seine Freunde denken, als sie in diesem Dorf jung gewesen waren, als sie in die Schule gegangen und Kumpel gewesen waren, auf der Kirmes, am Angelteich, und hier unter der großen Lampe über dem Billardtisch, während das Bier Abend für Abend aus dem Zapfhahn strömte. Es half nicht, dass er jetzt hier allein am Tresen stand und mit der Faust auf die Resopalplatte schlug."
    Der Krieg und seine Folgen spielen eine nicht unbedeutende Rolle im Roman, besonders dann, als der Ich-Erzähler den Auftrag erhält, für seine Chefin die Abschiedsrede auf Karl Dijk zu schreiben und in dessen Personalakte auf Informationen stößt, die Dijk über Jahrzehnte erfolgreich vor ihm verborgen hat. Doch in erster Linie ist "Ein Leben nach Maß" ein Roman darüber, wie der ungebremste Kapitalismus die Moral einer Gesellschaft aushöhlt und deren vermeintlich unumstößliche Werte zur Disposition stellt. Auch die mehr als 100 Jahre alte Eichbehörde wird Ende der 1980er-Jahre privatisiert und in ein Dienstleistungsunternehmen umgewandelt. Denn:
    "Aufsicht bringt kein Geld ein. Aufsicht hemmt das Wachstum der Unternehmen."
    Aus der Pflicht von Unternehmen und Einzelhändlern, sich in regelmäßigen Abständen der staatlichen Überprüfung ihrer Geschäftspraktiken zu unterziehen, ist eine freiwillige Zertifizierung geworden. Der Staat, so versteht es zumindest der zunehmend renitente Karl Dijk, so versteht es auch sein etwas anpassungsfähigerer Kollege, hat das Hoheitsrecht der ethischen Norm verscherbelt:
    "Das Problem waren die abgepackten Lebensmittel. Das Problem war die Privatisierung der Ehrlichkeit."
    H.M. van den Brink: "Ein Leben nach Maß"
    Carl Hanser Verlag, München 2018. 206 Seiten, 19 Euro