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Hacks konnte hassen und lieben

Schwerlich findet man besseren Lesestoff als die "Maßgabe der Kunst" von Peter Hacks. Tiefe Einsichten in das Verhältnis von Poesie und Politik, scharf und witzig formuliert von einem Mann, der den Kommunismus einst auch für die Kunst forderte.

Von Christoph Bartmann | 23.02.2011
    Peter Hacks ist wieder da. Oder war er vielleicht nie weg? Immerhin findet man ja seine Gedichte bis heute in den Lesebüchern, immerhin ist sein Theaterstück "Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe" aus dem Jahre 1976 eines der meistgespielten deutschen Dramen überhaupt, und immerhin war Hacks in den frühen Jahren der DDR der führende Vertreter einer "sozialistischen Klassik". Eben deshalb, weil er in seinen Schriften den Kommunismus auch in der Kunst forderte und feierte, und weil ihm schon der Übergang von Ulbricht zu Honecker als Anfang vom Ende der wahren DDR erschienen war, geriet Hacks im Osten aufs Abstellgleis, und im Westen ebenso. 2003 ist Hacks, dem die Wende des Jahres 1989 nur als Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtungen erschienen war, gestorben. Seitdem hat er ein Nachleben, und zwar ein zunehmend lebhaftes. Auch wer Hacks‘ politischen Ideen fern steht, kommt nicht umhin, die literarische Kapazität dieses Mannes anzuerkennen, der Enzensberger für ein Leichtgewicht hielt und sich lieber an Heine maß. Wer aber Hacks‘ politischen Ideen nahe steht, und auch für sie gibt es heute neue Interessenten, der hat an Hacks‘ Einsatz für die sozialistische Klassik das doppelte Vergnügen: ein ästhetisches und ein polemisches.

    Nun ist bei Suhrkamp auf 1300 Seiten das gesamte kritisch-essayistische Werk von Peter Hacks wieder aufgelegt worden; der Band trägt den Titel "Die Maßgaben der Kunst", was für Hacks genau das Selbe meint wie das Wort "Ästhetik". Nicht nur das, er habe, meint Hacks in seiner gewohnt unbescheidenen Art, damit die erste treffende deutsche Übersetzung des Wortes "Ästhetik" überhaupt gefunden. "Die Maßgaben der Kunst" von Peter Hacks, Christoph Bartmann ist unser Rezensent.

    "Wohin willst Du denn schänden?", hat Dietmar Dath, Literat, Marxist, Poptheoretiker und Hacks-Fan, sein Nachwort überschrieben. Die Geschichte zu diesem Hacks-Zitat geht so: Peter Hacks und Heiner Müller, mal Freunde, mal Widersacher, hatten sich in einer Arbeitsgruppe von DDR-Schriftstellern über Hegels Dramentheorie gestritten. Hacks hatte die These aufgestellt, Brecht habe gegen Hegel verstoßen; unklar sei nur, ob diese Verstöße eine höhere Art der Hegel-Erfüllung gewesen seien oder ob Brecht bloß ein "Schänder der Gattung war". Daraufhin warf Müller ein, Hacks müsse zugeben, dass es "keine Gattung ohne Schänder" gebe. Hacks hatte eine Antwort parat, sie hieß: "Es gibt keine Gattung ohne Schänder. Aber es gibt keinen Schänder ohne Gattung. Wohin willst Du denn schänden?" Müllers Antwort ist nicht überliefert.

    Peter Hacks verachtete die Schänder oder wen er dafür hielt: Die Romantiker tat er als Opium essende anglophile Verschwörer gegen Napoleon ab, Friedrich Schlegel nannte er einen "Meineidbauern", Büchner war ihm so unangenehm wie Kleist, bei zeitgenössischen Namen wie "Beuys, Warhol, Beckett" sah er sogar von Polemik ab, weil sie ihm kaum der Rede wert schienen, Restromantiker wie sie, "ganz alte Kamellen und abgetane Sachen, durch und durch 20. Jahrhundert." Man weiß nicht genau, was notwendig war, um auf diese Negativliste zu geraten: es war wohl der Hang zur - scheinbaren oder tatsächlichen - Form- und Regellosigkeit, zur eigenmächtigen und unbeherrschten Verletzung der Kunst und ihrer "Maßgaben", die Hacks in Rage brachte. Die Klassik oder der Klassizismus in der Kunst bedeuten, dass die Maßgaben der Kunst gehört und beachtet werden, dass die Gattungen, und auch die sogenannten kleinen, beherrscht und benutzt werden und dass die Dichter von subjektiv motivierten Formsprengungsversuchen Abstand nehmen. Sehr schön illustriert Hacks seine Haltung, indem er auf Brechts Ballade vom "Schneider von Ulm" Bezug nimmt. Man begegne, meint er, bei Brecht und anderen Zeitgenossen, "einer Sorte von Traumgebilden und Gedankenspielen, die Utopie heißen."

    Der Schneider sagt, der Mensch kann fliegen, und fliegt, und stürzt ab. Der Bischof sagt: Da, sehen Sie, es geht nicht. Der Leser soll, gibt Brecht vor, entscheiden, wer im Recht sei; ich entscheide mich also für den Bischof. Es geht doch wirklich nicht. Der Mensch kann doch wirklich nicht fliegen. - Brecht stellt sich, als ob der Bischof durch Montgolfier oder Lilienthal widerlegt sei. Aber diese Flieger flogen vermöge von Fluggeräten, an die im Mittelalter nicht zu denken war. Auch diese Flieger waren, ganz wie der Bischof aus- und voraussagte, keine Vögel, wollten, da bin ich mir sicher, auch gar keine Vögel sein. Um dann, zu ihrer Zeit und im Besitz ihrer neuen Erzeugungsweisen, ihre Apparate zu bauen, bedurften sie des zerschellten Schneiders nicht. Die Behauptung, der Mensch könne bestimmte Dinge können, bevor die nötigen Voraussetzungen geschaffen sind, oder die, er solle die Dinge immerhin in Angriff nehmen, bevor er sie können kann, geht gewöhnlich nach hinten los, und blinder Eifer schadet nur.

    Gegen die Tollkühnen, die Utopisten und Fantasten, hielt Hacks es mit den vernünftig Kühnen, den Revolutionären und, noch mehr, mit den durchaus konservativ gesinnten Verteidigern der Revolution. Große Kunst, sagt Hacks, sei immer realistisch, nicht utopisch, nicht romantisch, nicht surrealistisch. "Indem sie große Kunst war, war sie sich utopisch genug." Ist das nicht ein Anschlag auf die gesamte Moderne und vor allem auf die moderne Kunst, mit ihren großen, tollkühnen Radikalitäts- und Überschreitungsgesten?

    So ist es wohl: seit Goethe, Hegel und Napoleon hat es für den kommunistischen Reaktionär keine neuen Helden mehr gegeben. Was aber ist daran so interessant, dass sich heutzutage junge Intellektuelle für Hacks begeistern können? Dietmar Dath überträgt in seinem Nachwort den Hacks-Müller-Streit über die Gattung und ihre Schänder auf andere Beispiele: Lenin stritt sich mit den Empiriokritizisten über die Erkennbarkeit der Welt, Donald Davidson verteidigt den Wahrheitsbegriff gegen Richard Rortys Ironie, John Searle besteht gegen Jacques Derrida auf dem Unterschied zwischen ernst gemeinten und indirekten Sprechweisen. Offenbar liefert Hacks den Verteidigern der Wahrheit Munition im Kampf gegen ihre postmodernen Verächter. Er besteht unerbittlich auf den Maßgaben der Kunst, wo andere sich nur noch als deren Konkursverwalter begreifen. Man fühlt sich immerfort an den heutigen Stand der Künste erinnert, wenn etwa Hacks in einem alten Aufsatz über "Das Poetische" zum Theater Folgendes anmerkt:

    Die strukturellen Gesetze der Genres hängen von der soziologischen Struktur des Publikums ab, auf das sie wirken sollen. Das Theater ist unter den Künsten die öffentlichste, geselligste; alle Welt weiß es, aber nicht alle Welt richtet sich danach. Immer wieder kommen welche, die ihre Maschinen im Schuppen und ihre Mäntel und Degen im Schrank lassen, und brüsten sich, sie hätten das Theater, indem sie es abgeschafft haben, verbessert. Ist so schwer einzusehen, dass die Erfordernis, eine Menge Fernstehender und - ganz räumlich genommen - Fernsitzender zu erreichen, eine gewisse Gehobenheit der Spielebene, der Gebärde und mithin auch der emotionalen und intellektuellen Haltung bedingt?

    Theater ist nicht leise, und manchmal ist es langweilig, weil "lange Weile die gattungsbestimmende Eigenschaft aller darstellenden Künste" ist. Theater darf pompös und pathetisch sein, es ist darstellend (und nicht etwa "post-dramatisch") und realistisch, jedenfalls so realistisch wie Shakespeare es war. Weil sie solchen Maßgaben folgten, waren Hacks‘ Stücke bei den Zuschauern so überaus beliebt, und weil seine Maßgaben gründlich in Vergessenheit gerieten, traut sich kaum ein Gegenwartsdramatiker, ein Stück in Hacks'schem Geiste zu schreiben. Man müsste es auch erst einmal können, wäre hinzuzufügen, denn Hacks ist, als Dramatiker, Lyriker und Essayist, ein Meister, der sich zu Recht an den ganz Großen misst. Wie kann er dann gleichzeitig ein "sozialistischer Klassiker" gewesen sein?

    Die Antwort kann nur sein: Hacks war es nicht, auch wenn er es gewesen wäre. Er war als Sozialist kein Klassiker, und als Klassiker kein Sozialist. Seitdem er bei der Inszenierung seines Stücks "Die Sorgen und die Macht" 1963 mit SED-Funktionären kollidiert war, fand Hacks seine Stoffe in klassischen Vorlagen, die kaum mehr als Kommentar zur Entwicklung des Sozialismus aufgefasst werden konnte. Den literarischen Zeitgenossen in der DDR begegnete Hacks mit wenigen Ausnahmen (Sarah Kirsch etwa) mit Hohn, die Kollegen im Westen wurden regelrecht beschimpft, so etwa Enzensberger 1990 als "greise 5-Mark-Hure des Imperialismus". Schon 1976 hatte sich Hacks mit seiner Stellungnahme zugunsten der Ausbürgerung von Wolf Biermann ins Abseits begeben. Spätestens von dieser Stunde an befand sich Hacks‘ literarische und menschliche Reputation in freiem Fall. Und Hacks hasste zurück. Die späten Schriften zeigen einen zunehmenden Groll gegen alle Welt, eine Misanthropie und einen schneidenden Ton der Verachtung, der unterschiedslos jeden treffen kann, der nicht Hacks heißt.

    Trotzdem: man findet schwerlich besseren Lesestoff als dieses Buch. Kaum sonst findet man tiefere Einsichten in das Verhältnis von Poesie und Politik, und kaum je fände man sie besser, schärfer, witziger formuliert. Dass Hacks hassen konnte, ist deutlich geworden; dass er auch lieben konnte, mag eine Eloge an einen Schriftsteller demonstrieren, den man nicht unbedingt des Hacks-Lobs für würdig gehalten hätte. Es geht um Arno Schmidt.

    Der beste deutsche Epiker der zweiten Jahrhunderthälfte ist Arno Schmidt. Er hält diesen Titel, weil er in seinen vier Hauptromanen das Hauptthema der Deutschen behandelt, den Kampf der Amerikaner mit den Russen nämlich, und weil er die Sprache schreibt, die allein den Namen deutsche Sprache verdient: das vollständige Deutsch. Jedes deutsche Wort, das seit Luther erfunden ist, ist für ihn Gegenwartssprache. Wenn er Unterschiede macht, dann zwischen guten und schlechten Wörtern, nicht zwischen seltenen und gebräuchlichen, nicht zwischen alten und neuen.

    Wenn das keine Eloge ist! Aber das Lob geht weiter, und es zeigt uns im Brennglas noch einmal den klugen, bösen Peter Hacks:

    Zwei Motoren treiben das Riesengehirn, das die Riesenmaschine für das Riesenwerk ist. Der eine ist der Porno-Motor ( ... ), dessen unversieglicher Treibstoff in des Dichters geringer Bett-Tüchtigkeit zu vermuten ist. Fantasiereiche Drüsen geben besser aus als saftreiche. Arno Schmidt war voller Geilheit nach Frauen und alten Büchern, wobei er auch die Bücher öfter nicht besaß, als dass er sie gehabt hätte. Der andere Motor ist Schmidts Bedürfnis, die Leserschaft bei Leselaune zu halten. Es ist aber nicht sofort deutlich, welcher Treibstoff diesen Motor speist. Denn Arno Schmidt hatte keine Leser.

    Peter Hacks: "Die Maßgaben der Kunst." Mit einem Nachwort von Dietmar Dath. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2010. 1302 Seiten, 64 Euro