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Hähnchenmast: "Da ist was faul im System"

96 Prozent des Geflügels in Nordrhein-Westfalen kommt einer Studie zufolge mit Antibiotika in Kontakt. Für NRW-Verbraucherschutzminister Johannes Remmel ist klar: Die Situation wird auch bundesweit ähnlich sein. Deshalb müsse die Bundesministerin auf einem Antibiotikagipfel schnell ein nationales Maßnahmenkonzept erarbeiten.

Johannes Remmel im Gespräch mit Ursula Mense | 16.11.2011
    Ursula Mense: Nach einer bundesweit ersten Studie über den Einsatz von Antibiotika in der Hähnchenmast, vom nordrhein-westfälischen Verbraucherschutzminister in Auftrag gegeben, kommen nur vier Prozent der untersuchten Tiere ohne Medikamente aus. Oder anders ausgedrückt: 96 Prozent der Hähnchenmastbestände sind der Studie zufolge mit Antibiotika behandelt. Das ist alarmierend, sagt Johannes Remmel, grüner NRW-Verbraucherschutzminister, den ich am Telefon begrüße.

    Herr Remmel, Tiere dürfen ja mit Medikamenten behandelt werden, wenn sie krank sind. Antibiotika sollen die Ausnahme sein und seien es auch, behauptet die Geflügelwirtschaft. Wie erklären Sie sich diesen massiven Einsatz?

    Johannes Remmel: Der ist eigentlich nicht erklärbar und es ist schon erschütternd, diese Ergebnisse zu sehen: 96 Prozent aller Hähnchen in Nordrhein-Westfalen, die entsprechend gemästet werden, kommen mit Antibiotika in Berührung. Dazu kommt noch ein Phänomen, dass zumindest in Teilbereichen die Medikamente auch vorschriftswidrig gegeben werden, das heißt nicht, wie das üblich ist, drei bis fünf Tage hintereinander, sondern in Abständen von ein bis zwei Tagen und dann in Wiederholungsphasen. Und was dazukommt, dass nicht nur ein Medikament verabreicht wird, sondern innerhalb dieser kurzen Mastdauer von 30 bis 35 Tagen in dem Durchschnitt der festgestellten Betriebe zwei bis drei Medikamente verabreicht werden.

    Mense: Heißt das denn nun, die Tiere sind alle krank, oder gehen Sie von Wachstumsdoping aus?

    Remmel: Na ja, Wachstumsdoping ist seit 2006 verboten und Antibiotika dürfen eigentlich nur eingesetzt werden, wenn es um Behandlungen von Krankheiten geht. Es gibt ja Betriebe, die kein Antibiotika verwenden beziehungsweise nicht brauchen. Das sind mehr als die vier Prozent. Nur die vier Prozent beziehen sich auf den Anteil der Hähnchen. Gut zehn Prozent der Betriebe können darauf verzichten, sind aber kleinere Betriebe, die mit kleineren Einheiten arbeiten und wo die Mastdauer länger dauert, also bis zu 48 Tagen. Das heißt, wenn ich die Haltungsbedingungen verändere, komme ich offensichtlich auch dazu, weniger Antibiotika beziehungsweise ganz auf Medikamente zu verzichten. Auch das ist ein Ergebnis der Studie.

    Mense: Nun gibt es ja Wartezeiten, bevor ein Tier geschlachtet werden darf, wenn es mit Medikamenten behandelt wurde. Das müssen, soweit ich weiß, Tierärzte kontrollieren, denn damit soll ja verhindert werden, dass durch den Verzehr Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden. Das heißt, müssen wir jetzt davon ausgehen, dass schon lange unter den Augen der Veterinärmediziner in solchen Mengen Antibiotika verabreicht wurden?

    Remmel: Das ist eben eine große Fragestellung. Seit dem 1.1. diesen Jahres ist es ja vorgeschrieben, die Mengen, die von den Herstellern zu den Tierärzten gehen, zu dokumentieren. Aber für die Geflügelhalter ist das nicht vorgesehen, oder für die Geflügelwirtschaft, und das ist unsere Forderung seit Langem, dass auch da Transparenz und Offenheit herrscht, damit man die Ströme nachvollziehen kann. Dazu kommt, dass es seltsam ist, dass die Medikamente eben in dieser Abfolge verwendet werden, was eben darauf hindeutet, dass es doch im Bereich Wachstumsförderung eingesetzt wird.

    Mense: Inwieweit ist denn die von Ihnen in Auftrag gegebene Studie auf ganz Deutschland übertragbar?

    Remmel: Die Struktur der Geflügelwirtschaft in Nordrhein-Westfalen unterscheidet sich nicht von dem in der Bundesrepublik, und insofern gehen wir davon aus, dass das nicht nur für unseren Standort repräsentativ ist, sondern die Zustände bundesweit beschreibt.

    Mense: Und welche Konsequenzen fordern Sie jetzt?

    Remmel: Wir müssen uns in die Zielrichtung bewegen, letztlich antibiotikafreie Mast zu betreiben, Tierhaltung zu betreiben, und deshalb meine ich, dass es sinnvoll ist, dass wir uns auf Bundesebene mit allen Verantwortlichen zusammensetzen, der Bundesministerin auf einem Antibiotikagipfel, um da ein nationales Maßnahmenkonzept zu erarbeiten. Wir müssen dringend Rechtssicherheit schaffen auch für die Überwachungsbehörden, dem ganz konsequent nachzugehen. Wir brauchen Transparenz und Offenheit. Das heißt, die Öffentlichkeit muss wissen, die Verbraucherinnen und Verbraucher, welche Produkte mit der Hilfe von Antibiotika erzeugt worden sind, und letztlich geht es in der Tat um eine Perspektive, die auf Antibiotika verzichtet, weil das letztlich auch für die Menschen bedrohlich wird. Gerade im Umfeld von großen Mastanlagen haben wir verstärkt multiresistente Keime festgestellt, auch das ist ein Ergebnis dieser Studie. Durch die Gabe der Medikamente erzeugen wir zusätzliche Bakterien, die resistenter werden und werden können, und auch das muss verhindert werden.

    Mense: Nun hat ja Ministerin Aigner schon vor ein paar Tagen gesagt, sie wolle den Einsatz von Medikamenten in der Tierzucht stärker kontrollieren. Das reicht Ihnen aber demnach nicht, oder?

    Remmel: Es ist ja schon seltsam, welche Wellen diese Studie im Vorfeld geschlagen hat. Die Tierärztekammer hat sich erklärt, die Geflügelwirtschaft hat sich erklärt und Frau Aigner will jetzt plötzlich auch was tun. Noch im August hat sie entsprechende Anträge sowohl in der Agrarministerkonferenz als auch im Bereich des Bundestages ablehnen lassen oder abgelehnt. Insofern: Ich begrüße das! Nur jetzt muss es auch umgesetzt werden, und Frau Aigner hat ja schon viel angekündigt und nachher ist nichts daraus geworden.

    Mense: Es gibt ja diese bundeseinheitliche Datenbank, in der Zahlen über Arzneimittel zumindest in der Schweine- und Rinderhaltung verzeichnet sind, nicht in der Geflügelzucht. Sie haben das eben gesagt. Ist das prinzipiell denn ein richtiger Ansatz?

    Remmel: Das ist prinzipiell ein richtiger Ansatz. Das muss aber verbunden werden mit einer Arzneimittelverordnung, die dann auch verbindlich ist für die Überwachung der Behörden. Auch das ist zurzeit nicht klar geregelt. Die Art und Weise, wie Arzneimittel verabreicht werden, muss in der Grundlage überprüfbar und verbindlich und transparent werden. An anderer Stelle, in anderen Ländern wird beispielsweise darüber diskutiert, die Medikamentenströme im Internet nachvollziehbar für alle offenzulegen. Ich denke, auch das ist jetzt auf der Tagesordnung. Es kann nicht wahr sein, dass 96 Prozent unserer Geflügel in der Bundesrepublik in irgendeiner Weise mit Antibiotika als Regel in Kontakt kommen. Da ist irgendwas faul am System.

    Mense: Der NRW-Verbraucherschutzminister Johannes Remmel über Antibiotika in der Hähnchenmast und seine Forderungen an die Bundesverbraucherschutzministerin. Wir haben das Gespräch vor der Sendung aufgezeichnet.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.