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Händel'sche Zweitverwertung

Die "Neue Platte" stellt diesmal zwei neue Gesamt-Weltersteinspielungen von Opern Georg Friedrich Händels vor. "Mein Herz ist ganz zerrissen / mich foltert mein Gewissen / und die Gefühle schwanken / Sie treiben mit mir Scherz / entfachen meinen Schmerz / Qualvoll zu leben", singt Oreste in schwieriger Situation. Der Sprössling des Tantaliden-Geschlechts ist auf der Insel Tauris gestrandet, wo Fremde unerwünscht sind und laut herrschender Order den Opfertod sterben. Die Priesterin, die ihn auflas am Strand, hat Oreste entwaffnet; sein Reisegefährte Pilade ist schon inhaftiert; der göttliche Auftrag, im Namen Apollons ein Artemis-Standbild zu rauben, ist in Gefahr.

Von Frank Kämpfer | 24.10.2004
    Die Arie, die eine Achterbahnfahrt der Gefühle ausdrückt, findet sich im mittleren Akt von Georg Friedrich Händels 1734 uraufgeführter Oper "Oreste". Der Komponist steht in London im Opernkrieg und muss sich gegen ein adliges Konkurrenz-Unternehmen behaupten, das ihm die Sängerstars wegkauft. In wirtschaftlich schwieriger Lage zieht er ins neu erbaute Covent Garden Theater, wo er sich mit "Ariodante" und "Il pastor fido", zwei neu geschriebenen Werken auf dem Opernmarkt zurückmelden kann. Das dritte neue Stück der Saison ist ein Pasticcio. Das heißt, es ist musikalisch aus bereits bestehenden Arien anderer Werke des Komponisten zusammengestellt, hat jedoch eine eigene Handlung, die Rezitative sind neu komponiert.

    Diese seinerzeit verbreitete Praxis hat in späterer, Originalwerk-fixierter Musikforschung wenig Beachtung gefunden - der Theater-Betrieb hat das Stück bis auf zwei Premieren 1988 in Halle/Saale und 1993 in Wiesbaden konsequent ignoriert. Bedauerlich! Denn das in der Tat aus musikalischer Zweitverwertung resultierende Werk besticht durch eine geradezu zwingende Dramaturgie, deren Geradlinigkeit auffällig ist, und die keines lieto fine bedarf, um zum Ende zu kommen. Der seinerzeit beliebte antike Iphigenien-Stoff, auf dem das Libretto basiert, birgt zudem die Utopie einer politischen Metamorphose. Oreste, die Titelfigur, entwickelt sich von einer ihrer Sinne beraubten und von den Furien verfolgten Gestalt zu einem aktiven, handlungsbereiten Helden, der selbst Hand anlegt, um Tauris, das Gastland, in gemeinsamem Handeln vom Diktator Toante zu befreien. - Nicht ganz unaktuell.

    Der Weg dorthin ist keinesfalls leicht. Komponist Händel und seine Texter ziehen alle Register, um mythologisch und psychologisch in die Tiefe zu schauen. In höchst affektreichen Arien offerieren alle sechs Figuren extreme seelische Spannung, Verletztheit - ja, Bereitschaft zum Tod. Pilade zum Beispiel ist bereit, sich für seinen Gefährten zu opfern, Ifigenia war laut Sage bereits selbst schon einmal dem Tode geweiht und kann hier nur mit äußerstem Einsatz den Tod des Fremden (es ist ihr Bruder) verhindern. Der berüchtigte (psychopatische) König Toante ist zu jedem Verbrechen bereit - laut Orakel nämlich wird er von einem Fremden gestürzt. Als Preis für die Freiheit Orestes verlangt Toante für sich Ermione, Orestes Gattin - doch die Frau (in einer aufbegehrenden Arie) rebelliert:

  • Musikbeispiel: G.F. Händel - aus: "Oreste"

    Ermione ruft zur Rebellion gegen Toante - musikalischer Höhepunkt in Händels Pasticcio-Oper "Oreste". Die Interpretin, die die Frauenpartie hier elanvoll gestaltet, ist die junge Sopranistin Maria Mitsopoulou. Als Mitglied der Griechischen Nationaloper ist sie keine spezialisierte Barock-Sängerin - ihr Repertoire als lyrischer Koloratursopran reicht von Händel bis Donizetti, von Mozart bis zu Puccini und zeitgenössischer Musik. In diesem Falle gehört Mitsopoulou zu einer ganzen Gruppe griechischer Solisten, die Händels "Oreste" gemeinsam erarbeitet, am historischen Ort aufgeführt und schließlich für das deutsche Label MDG der Firma Dabringhaus und Grimm auf CD eingespielt haben. Und zwar unter der musikalischen Leitung von George Petrou, der hier die 1998 initiierte, multinational zusammengesetzte Camerata Stuttgart dirigiert.

    Das Resultat ist eine verdienstvolle Doppel-CD-Box, die jedoch keine Spitzen-Besetzung aufweisen kann. Überkommene Vorbehalte gegenüber der Bedeutung des Werks - so könnte man meinen - wirken in dieser Tatsache fort.

    Doch noch einmal zurück zur eben gehörten Musik. Die den Tyrannensturz befördernde Arie findet sich nicht nur im Pasticcio, sondern - historisch gesehen - auch im Original, einem früheren Bühnenstück Händels, das gleichfalls in diesem Herbst seine Platten-Premiere erlebte:

  • Musikbeispiel: G.F. Händel - aus: "Lotario"

    Die lombardische Witwe und Königin Adelaide befindet sich, als sie mit ähnlichem Text die selbe Arie anfängt, gleichfalls in schwieriger Situation: König Lotario, ihr deutscher Beistand, hat alle Feinde besiegt, doch Adelaide selbst ist noch deren Gefangene. Alan Curtis und sein auf historischen Instrumenten spielendes Spezial-Ensemble "Il complesso Barocco" interpretieren mit schärferem, härterem Klang - Sopranistin Simone Kermes aus Leipzig formt die bemerkenswert starke Frauengestalt zu einer musikalisch sehr differenzierten Partie.
    Höchst widersprüchliche Charaktere kennzeichnen in dieser Oper fast alle Figuren, d.h., jeder Interpret hat ein Arienpensum unterschiedlichster Machart zu bewältigen. Doch ist "Lotario" nur eine Herausforderung für Virtuosen? Zweifellos nicht denn 1729 uraufgeführte Oper auch ein Meisterwerk der Dramaturgie. Und beredt ist ihre musikalisch-dramatische Botschaft. In abrupten Wendungen schleudert Librettist Giacomo Rossi seine Protagonisten von einer Extremsituation in die nächste, dürfen Adelaide und Lotario, aber auch ihre Gegenspieler - der Intrigant Berengario und seine Gattin Matilde - nicht allein durch Krieg, sondern auch durch seelische Abgründe gehen. Sämtliche Exponenten der Macht - hier Berengario und sein Sohn Idelberto - müssen, das zeigt Händel in bestürzenden Arien, erst ihres Kriegsglücks und ihrer Freiheit verlustig gehen, um als Menschen zu sich selber zu kommen. Und auch die vermeintlich Gerechten und Sieger im Kampf um den lombardischen Thron haben in Gefahren-Momenten starke seelische Regung und schmerzvolle, abgründige Gesänge parat.

    Berengarios Feldherr Clodomiro, der im dritten Akt die Fronten wechselt und sich Lotario ergibt, bringt es direkt auf den Punkt. Sein Sturz geht mit schlagartiger Selbsterkenntnis einher, wie es der italienische Bass Vito Priante eindrucksvoll darstellt.

  • Musikbeispiel: G.F. Händel - aus: "Lotario"

    Vito Priante als Clodomiro - in der Gesamt-Weltersteinspielung von Händels Oper "Lotario". Auch die anderen Solisten überzeugen - namentlich Sonia Prina als Matilde und Sara Mingardo in der Titelpartie. Die in Zusammenarbeit von BMG und deutsche harmonia mundi mit dem Westdeutschen Rundfunk entstandene Doppel-CD ist leider ein Produkt ökonomischen Sparens. Dirigent und Bearbeiter Alan Curtis hat extra einige Arien gekürzt, um das Werk auf zwei, nicht auf drei silbernen Scheiben verkaufen zu können.

    Summa summarum eine interpretatorisch herausragende Produktion, die das Händel-Opern-Angebot auf dem CD-Markt gut komplettiert. Zuvor habe ich Ihnen die erste Gesamtaufnahme von Händels Pasticcio "Oreste" angespielt, die bei MDG erschienen ist.

  • Musikbeispiel: G.F. Händel - aus: "Lotario"

    Diskografische Angaben

    CD1:
    Titel: Händel: "Oreste"
    Solistin: Maria Mitsopoulou, Sopran u.a.
    Orchester: Camerata Stuttgart
    Leitung: George Petrou
    Label: MDG
    Labelcode: LC 6768
    Bestellnr.: 609 1273-2

    CD 2:
    Titel: Händel: "Lotario"
    Solistin: Simone Kermes, Sopran u.a.
    Ensemble: Il complesso Barocco
    Leitung: Alan Curtis
    Label: dhm/BMG
    Labelcode: LC 00761
    Bestellnr.: 82876 58797 2
  • Händel: "Lotario" (Cover)
    Händel: "Lotario" (Cover) (dhm/BMG)