Freitag, 19. April 2024

Archiv

Händels "Orlando" am Theater an der Wien
Vom Mittelalter in die Gegenwart

Wohnbau aus Beton, südliche Pflanzen und Palmen, südamerikanisches Flair: Für die neue Inszenierung von Georg Friedrich Händels "Orlando" hat Regisseur Claus Guth die Handlung in die Gegenwart verlegt - und den Protagonisten als kriegstraumatisierten Veteranen auf die Bühne geschickt.

Von Reinhard Kager | 15.04.2019
    Christophe Dumaux (Orlando) und Giulia Semenzato (Dorinda)
    Christophe Dumaux (Orlando) und Giulia Semenzato (Dorinda) (Theater an der Wien/ Monika Rittershaus)
    Es geht musikalisch oft ruppig zu in Georg Friedrich Händels Oper "Orlando". Ist doch deren Titelheld auch als "rasender Roland" bekannt. Obgleich die Passage aus Ariosts "Orlando furioso", die Händel für die Gestaltung des Librettos wählte, eigentlich zu den eher launigen Episoden der Rolandsage zählt. Denn Orlando befindet sich nicht mehr im Krieg, doch muss der Heimkehrer um seine Freundin Angelica ringen. Zumal sich diese verliebt hat in Medoro, den sie von seiner Kriegsverletzung kurierte, und sich nun nicht so recht entscheiden kann zwischen den beiden Männern. Schlichtend greift immer wieder der Zauberer Zoroastro ein, um die Eifersucht Orlandos zu mildern.
    Aus dem Leben eines Kriegstraumatisierten
    Von Zauber ist auf der Drehbühne Christian Schmidts allerdings wenig zu sehen: Darauf steht ein zweigeschossiger, heutiger Wohnbau aus Beton, zwar umrankt von südlichen Pflanzen und Palmen, doch sonst ernüchternd abgewohnt. Am Kennzeichen des kleinen Sportwagens, an dem Medoro in der Hausdurchfahrt immer wieder schraubt und schrubbt, wird erkennbar, dass es ein südamerikanisches Land ist, in das Regisseur Claus Guth das eigentlich im Mittelalter spielende Geschehen verlegt.
    Folglich ist Orlando auch kein bretonischer Ritter, sondern ein heutiger Soldat, der offenkundig verstört aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Schon in der ersten Szene, als Orlando einen Mitbewohner mit spitzen Darts bewirft, wird es klar, dass Guth einen Kriegstraumatisierten zeigt, dessen eifersüchtige Ausraster umso unberechenbarer und brutaler ausfallen.
    Der präzise Koloraturen singende Orlando des Countertenors Christophe Dumaux wird immer dann, wenn ihm Kriegserinnerungen dämmern, in ein granulierendes Grau getaucht und von wolfsköpfigen Gestalten bedrängt. Schemen von flammenden Kämpfen tauchen in Videoprojektionen auf der Hausfassade auf, und der einstige Kriegsheld krümmt sich auf dem Boden oder läuft gehetzt die Veranda entlang, um schließlich auf dem Dach eines Wohnwagens zu landen, in dem die flotte Dorinda einen Kiosk betreibt.
    Kein Wunder, dass Angelica mit Medoro die Flucht ergreifen will, zumal Orlando gefährlich wütend wird, als er die Liebesbeziehung der Beiden durchschaut. Die aufwändige Drehbühne ausgiebig nutzend, beginnt das Trio eine Hetzjagd über die steilen Außentreppen des Hauses, die langgestreckte Veranda oder durchs Palmenwäldchen an einer seitlichen Busstation.
    Auch wenn es zutiefst traurig stimmt, diesen in Kriegsbemalung umherirrenden Orlando zu beobachten, ist die Oper durchsetzt von vielen komödiantischen Elementen. Für die in erster Linie Zoroastro und die unglücklich in Medoro verliebte Dorinda sorgen. Mozarts Cherubino lässt bereits grüßen.
    Geschmeidig singt Giulia Semenzato ihre Dorinda, die mal als lässiges Stiefeletten-Mädchen, mal in der knallbunten Uniform einer Kiosk-Kette auftritt. Anna Prohaska als durchaus kapriziöse Angelica hatte im ersten Akt noch etwas Mühe, steigerte sich jedoch im zweiten – vor allem in der tiefempfundenen Arie "Verdi piante". Nur um Nuancen dunkler schattiert als der überragende Christoph Dumaux in der Titelrolle ist der elegant phrasierende italienische Countertenor Raffaele Pe als Medoro.
    Finale bleibt unklar
    Bleibt noch der Spaßmacher vom Dienst, Florian Boesch als dunkler Zoroastro, der meist als besoffener Penner rülpsend und pissend durch das Szenario geistert. Bei Händel noch eine Gestalt der Vernunft, die den unkontrollierten Emotionen entgegengesetzt wird, ist dieser Zoroastro nun ebenso ramponiert wie die Aufklärung in unserer Zeit, in der empirische Tatbestände als "Fake News" diskreditiert werden.
    Allerdings bleibt in Guths psychologischem Konzept, das sonst vorzüglich funktioniert, das Finale unklar: Ist der symbolische Zauber Zoroastros, ist die Kraft der Reflexion verpufft, wie soll dann die finale Selbsterkenntnis Orlandos gelingen? Und wie soll das Publikum an ein Lieto fine glauben?
    Es ist der Zauber der Musik, der letztlich alles auflöst. Denn Giovanni Antonini und sein Ensemble "Il Giardino armonico" spielen ebenso akkurat wie eloquent, mit deftiger Attacke, aber auch mit graziler Leichtigkeit, wodurch der Kontrast zwischen geradezu depressiven und gelöst-heiteren Stimmungen, von dem Händels Oper durchzogen ist, noch unterstrichen wird. Grandios wie Antonini in der Wahnsinnszene Orlandos sowohl die Dynamik als auch das Tempo herunterfährt, so dass der hoffnungslose innere Stillstand des Helden förmlich greifbar wird.
    Ein spannender, wenngleich nicht restlos überzeugender Abend, der zeigte, wie gegenwärtig vermeintlich alte Geschichten heute immer noch sind.