Mittwoch, 24. April 2024

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Haiti
Das Beben und die Vergangenheit

In dem dritten Roman der haitianischen Schriftstellerin Kettly Mars "Ich bin am Leben" geht es wie in ihren vorherigen Bücher auch um die Folgen des schweren Bebens von 2010. Entstanden ist ein konzentrierter Roman über das Leben und die aufkeimenden Hoffnungen nach dem Beben, das auch die Vergangenheit des Inselstaates in neuem Licht erscheinen lässt.

Von Cornelius Wüllenkemper | 03.03.2016
    Vor 211 Jahren erkämpfte sich die zunächst spanische und dann französische Kolonie Haiti als erste schwarze Republik der Welt die eigene Unabhängigkeit. Seit dem ist die Geschichte des Kleinstaates in der Karibik eine Abfolge von Umstürzen, Diktaturen, Fremdbesatzungen, Naturkatastrophen. Das politische System Haitis ist korrumpiert, die Wirtschaft liegt weitestgehend brach, die Hilfsorganisationen versagen ihrerseits – man kann also durchaus von einem Failed State, einem gescheiterten Staat sprechen. Dagegen ist aber auch das blühende künstlerische Schaffen Haitis, mit seinen Malern, Bildhauern und vor allem Literaten eine Kontinuität des gebeutelten Landes.
    Die 1958 in Port au Prince geborene Autorin Kettly Mars ist aktuell eine der erfolgreichsten haitianischen Literaturexporte. Mit ihren Romanen über die dunklen Kapitel der Geschichte, die bis in die Gegenwart hineinwirken, gilt sie als Chronistin der haitianischen Gesellschaft. Das Erdbeben von 2010, so sagt Kettly Mars, war einer der Momente in der Geschichte des Landes, in dem verheerendes Leid und leuchtende Hoffnung ganz nah beieinanderlagen.
    "Nach dem Schock, nach der Verwundung unseres Landes, die niemanden verschont hat, weder die Slums noch die teuren Wohnviertel, da gab es eine Welle der Solidarität, an die ich mich noch gut erinnere. In diesem schmervollen Moment war es tröstlich zu sehen, dass es spontane gegenseitige Hilfe gab. Wir wollten damals daran glauben, dass das so weiter geht. Dass unsere Gesellschaft, unser Land endlich aufsteht. Das war wahrscheinlich naiv angesichts der tiefen, Jahrhunderte alten Spaltung der haitianischen Gesellschaft. Es gab keine Führungspersönlichkeit, die den Moment genutzt hätte, zum Zusammenhalt aufzurufen, keinen politischen Appell. Die spontane Welle der Solidarität blieb ohne Folgen."
    Was nach dieser ersten Welle der Solidarität passierte, wie das Beben Lebensentwürfe, Familien und gesellschaftliche Strukturen erschütterte, darüber schreibt Kettly Mars in ihrem neuem Roman "Ich bin am Leben". Das Haus der großbürgerlichen Familie Bernier ist zwar verschont geblieben, dennoch zeitigt die Katastrophe ihre Folgen: Alexandre, der erste Sohn der Familie, leidet an Schizophrenie und lebt seit 40 Jahren in der Psychiatrie. Als das Heim wegen der Choleraepidemie infolge des Erdbebens geschlossen wird, müssen die Berniers das längst zum Fremden gewordene Familienmitglied nach Hause holen.
    "Der Roman spielt in einem nahezu geschlossenen Raum. Die Familie Bernier lebt gemeinsam auf einem großen Anwesen, man kann diese Gemeinschaft als Symbol der haitianischen Gesellschaft sehen. Da sind einerseits die Mitglieder der großbürgerlichen Familie, und andererseits gibt es die Hausangestellten. Und in dieses geschlossene Universum kommt dann eine Person von außerhalb: Nora, das Modell der Malerin Marylène. Nora ist ein Mädchen aus dem Volk, das sich mit kleinen Jobs und Liebeleien über Wasser hält. Sie hat einen ebenso kritischen wie berechnenden Blick auf das Leben dieser bürgerlichen Familie. Ich wollte einen Familienroman schreiben, der zugleich die haitianische Gesellschaft abbildet."
    Alexandres Schwester Marylène hatte wie so viele Künstler und Intellektuelle ihre Heimat in Zeiten der Duvalier-Diktatur verlassen und in Europa erfolgreich ihre Karriere als Malerin verfolgt. Bei Alexandres Rückkehr aus der Psychiatrie brechen nach 40 Jahren des Schweigens auch in Marylène die alten Konflikte wieder auf, die Eifersucht unter den Geschwistern, der Machtkampf zwischen dem Vater Francis und seinem kranken Sohn Alexandre, die intimen Zwänge des Lebens in Zeiten der Diktatur. Die Familie Bernier ist so wie Haitis Gesellschaft zerklüftet, von ungelösten Konflikten geprägt. Das zeigt sich in Kettly Mars Roman auch an Ecclésiaste, dem jungen Mann vom Lande, der Alexandre pflegen soll.
    "In Haiti herrscht bis heute ein ausgeprägter Aberglaube, gerade auf dem Lande. Wenn jemand beispielsweise psychisch krank ist, heißt es schnell, dass ein Fluch auf ihm lastet, dass die Familie für etwas bestraft wird. Der Pfleger Ecclésiaste hat deswegen Angst vor Alexandre, er ist einer dieser jungen Männer vom Lande, die nach Port au Prince kommen und immer noch in ihrem Geisterglauben und in den Geschichten leben, die ihnen die alten Frauen aus ihrem Dorf erzählt haben. Als Ecclésiaste also in dieser bürgerlichen Familie ankommt und auf den kranken Alexandre trifft, sagt er sich: Mein Gott, jetzt bin ich genau da angekommen, wovor ich immer Angst hatte!"
    Wie Kettly Mars die verkrusteten Strukturen der haitianischen Gesellschaft im Zusammenleben auf dem Anwesen der Berniers und in den einzelnen Figuren ihres Romans spiegelt, das ist große literarische Kunst. Kapitel für Kapitel wechselt die Autorin die Erzählperspektive, deckt die vergrabenen Familienerinnerungen, die verschwiegenen Dramen und Ängste Schicht um Schicht auf. Welche der Figuren gerade erzählt, das muss der Leser sich selbst erarbeiteten – ein echtes Lesevergnügen.
    "Ich habe diese Erzählstruktur gewählt, vielleicht weil ich mich dieser Geschichte besonders nahe fühle. Ich habe das selbst so erlebt. In dieser Familie ist das Schweigen ein Leitmotiv. Die Familienmitglieder sprechen einfach nicht viel von diesem Bruder, von diesem Sohn, der irgendwann verschwunden war. Sie wollen den Schmerz vergessen machen, sie wollen ein normales Leben führen, groß werden, heiraten, Kinder kriegen. Um dieses Schweigen abzubilden, in das sie sich eingeschlossen haben, lasse ich jede der Figuren in einem inneren Monolog sprechen. Kapitel nach Kapitel lernt man so die Gefühle, Gedanken und Erinnerungen eines jeden einzelnen kennen."
    Aber damit nicht genug: In ihrem nur 130 Seiten langen Roman holt Kettly Mars auch die Erinnerung an die 30-jährige Diktatur unter Papa Doc und Baby Doc ans Tageslicht. Gespiegelt wird diese verdrängte Vergangenheit durch Alexandres Rückkehr aus der Psychiatrie. Kettly Mars, die selbst die ersten 30 Jahre ihres Lebens unter den Duvaliers verbrachte, zeigt, was die Angst vor der Geheimpolizei in der Intimität einer Familie anrichtete, wie man sich mit der Diktatur arrangierte oder eben nicht, und damit in Lebensgefahr schwebte. Bis zum Ende des Romans wird das große Schweigen der Familie Bernier zwar nicht gebrochen, dennoch scheint die Rückkehr des kranken Alexandre eine emotionale Erstarrung zu lösen. "Ich bin am Leben" - das ist der einzige Satz, den Kettly Mars dem autistischen und schizophrenen Alexandre in den Mund legt. Sie lässt damit ein ganzes Volk sprechen, das ungeachtet aller Dramen, Unglücke und Rückschläge sich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht nehmen lässt.
    "Haiti ist ein Land, das völlig aus dem Ruder läuft. Auch wir, die wir dort leben, fragen uns immer wieder: Wie machen die Menschen das nur? Wie kann man unter diesen schwierigen Bedingungen ein Leben führen? Es herrscht irgendein tiefes Verlangen danach, zu leben und weiterzukommen. Das spürt man auch in der künstlerischen Fantasie und in der Vorstellungswelt unseres Volkes. In uns lebt eine tiefe Kultur, die Einflüsse, die uns geprägt haben. Wir können sagen: Wir sind am Leben, trotz aller Widrigkeiten!"
    Kettly Mars: "Ich bin am Leben", Roman, übersetzt von Ingeborg Schmutte, Trier, Oktober 2015, Litradukt Literatureditionen. 136 Seiten