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Hamburg
Grüne, gerechte und wachsende Metropole?

Hamburg definiert sein Stadtentwicklungskonzept neu, möchte grüner und gerechter werden, aber auch kräftig wachsen. Ob das gelingt, hängt davon ab, ob alle Bevölkerungsschichten dabei mitgenommen werden.

Von Dirk Meyhöfer | 15.02.2015
    Stadtansicht Hamburg, Wohn- und Geschäftshäuser nahe den Landungsbrücken im Hamburger Hafen, im Hintergrund steht die Kirche St. Michaelis oder Michel (M.), aufgenommen am 15.06.2014.
    Dirk Meyhöfer untersucht in seinem Essay die Pläne der Freien Hansestadt Hamburg. (picture-alliance / dpa / Soeren Stache)
    Wachstum sei ein beinahe unkontrollierbarer Mythos der Moderne, eine Art Thrill of Joy, der Wonneschauer, und damit eine unzerstörbare Kultgröße des Spätkapitalismus. Eine willkürlich herausgefilterte Definition über Wachstum hört sich allerdings dermaßen grau und langweilig an, dass man kaum Lust entwickelt, darüber nachzudenken:
    "Wachstum markiert den zeitlichen Anstieg einer bestimmten Messgröße. Es kann daher als mathematische Ableitung einer Funktion aufgefasst werden, die zu jedem Zeitpunkt einen bestimmten Wert der Messgröße zuordnet."
    Hört sich ungefähr so spannend an wie: Wenn die Sonne scheint, erwärmt sich die Temperatur der Luft. Das Gegenteil von Wachstum ist Abnahme, im Falle von Volumenabnahme auch Schrumpfung genannt, beziehungsweise ihr Zerfall.
    In den Städten kann man Wachstum riechen, fühlen und fürchten. Heute wachsen Städte zu Mega Cities heran. Ihre Stadtluft macht nicht mehr frei, sondern atemlos und abhängig. So scheint es, wenn man nach Schanghai, Lagos oder São Paulo schaut. Keine guten Aussichten also. Und doch ist auch bei uns von Wachstum die Rede.
    Warum ausgerechnet unsere europäischen Großstädte weiterhin wachsen wollen, bleibt ein Geheimnis des Kapitalismus. Es scheint absurd, mindestens widersprüchlich: Wächst die Stadt, dann wachsen die Aussichten der Stadtgesellschaft auf Wohlstand. So die These. Aber wessen Wohlstand wächst? Und nehmen wir nicht billigend in Kauf, dass kleinere Städte schrumpfen und das Land versteppt?
    Wie könnte sinnvolles Wachstum aussehen?
    Wie könnte sinnvolles Wachstum aussehen? Und wie können die europäischen Industrie- und Hafenstädte der westlichen Gesellschaften versuchen, die Herausforderung anzunehmen und kontrolliert, nachhaltig und intelligent zu wachsen? Wie können sie im postindustriellen, im postfossilen Zeitalter den anstehenden Reset schaffen? Nur mit Wachstum?
    "Grüne, gerechte, wachsende Stadt am Wasser" heißt beispielsweise die Antwort der Freien und Hansestadt Hamburg auf diese Fragen. 2014, rechtzeitig zum beginnenden Landtagswahlkampf, wurden in Hamburg der Stadtöffentlichkeit mit großem Hofstaat die Perspektiven der hanseatischen Stadtentwicklung bis 2030 vorgestellt. Erster Bürgermeister, Oberbaudirektor, Stadtentwicklungssenatorin entwarfen ein farbenfrohes Stadtgemälde für die Zukunft. Das geschah im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung vor Publikum, die in Hamburg Stadtwerkstatt genannt wird: Für Behörden und Fachleute ist das ein nicht immer beliebtes Prozedere, sich mit der Bevölkerung offen auseinanderzusetzen. Ein notwendiges Prozedere, wenn Länder und Gemeinden ein weiteres Stuttgart 21 und entsprechende Wutbürger vermeiden wollen.
    Über Dirk Meyhöfer:
    Dirk Meyhöfer ist Architekturkritiker, Publizist und Ausstellungsmacher. Bis 1987 war er Redakteur der Zeitschrift Architektur und Wohnen. Er gibt das Architekturjahrbuch Hamburg heraus und hält seit 2000 Lehraufträge über das Verhältnis von Schreiben und Baukunst.
    Der Titel "Grüne, gerechte, wachsende Stadt am Wasser" klingt überladen, das heißt unrealistisch bis irrational. Jedenfalls erinnert er an schlicht und locker formulierte Wahlversprechen. In Zeiten einer christdemokratischen Regierung hießen ähnliche Modelle noch eindeutiger in ihrer Botschaft: "Wachsende Stadt" zum Beispiel, in der Koalition mit den Grünalternativen dann "Grüne Metropole" oder "Wachstum mit Weitsicht".
    Wachstum in der Hansestadt Hamburg wird immer über den Hafen definiert. "Der Hamburger Hafen ist auf Wachstumskurs" oder "Hamburg hält Kurs - der Hamburger Hafen-Entwicklungs-Plan bis 2025", so lauten die Überschriften der Flugblätter der zuständigen Planer und Behörden. Der Entwicklung des Hafens wird alles untergeordnet und ohne Rücksicht auf ökologische Verluste schon einmal für eine radikale Elbvertiefung plädiert. Das spaltet Hamburgs Bevölkerung, ja inzwischen die ganze Republik, denn für die einen ist das zielführend, für die anderen irrational.
    Ein Zukunftsprospekt, das gerechtes Wachstum verspricht, ist dennoch mit der Möglichkeit konfrontiert, dass es Gewinner und Verlierer geben könnte. Wachstum als Triebfeder des Turbokapitalismus soll in Hamburg sozialverträglich vonstattengehen:
    "Demografische Veränderungen werden bis 2030 dazu führen, dass die Bevölkerung vor allem durch die Zuwanderung von jüngeren Bürgerinnen und Bürgern aus dem In- und Ausland weiter wachsen wird", heißt es in diesen Hamburger Stadtperspektiven. Da auch die Zahl der Bürger im Alter über 80 Jahren und die der Pflegebedürftigen wächst, gerät die Gerechtigkeit oder das Herstellen gleicher Lebensbedingungen zur Herkulesaufgabe.
    Tradition der sozialverträglichen Stadt
    Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert wird deutlich, warum die sozialverträgliche Stadt in Hamburg Tradition hat. Am 28. März 1919 wählte die Bürgerschaft erstmals den demokratischen Hamburger Senat. Nach dem radikalen Übergang von oligarchischen zu demokratischen Strukturen wurde in der Weimarer Republik bezüglich Stadtplanung und Architektur und ihrer gesellschaftlichen Wirkung - sozialdemokratisch geprägt - Großes geleistet. Ohne eine motivierte Arbeiterschaft hätten die Eliten der Hafenstadt und das Kapital keine Chance gehabt, zustande zu kommen. Eine Solidargemeinschaft entstand: Reeder konnten Geld verdienen, wenn die Hafenarbeiterschaft günstig und gut wohnen konnte und zusammen mit dem Kleinbürgertum und der Arbeiterschaft immer besser ausgebildet wurde. Oberbaudirektor Fritz Schumacher prägte die Hamburger Architektur entscheidend und sorgte für soziale Wohnsiedlungen, Schulen, Kultureinrichtungen und einen riesigen Volkspark. Er selbst wurde zur Lichtgestalt der Hamburger Architektur. Seine Häuser glänzen noch heute gediegen und backsteinrot.
    Nach dem Zweiten Weltkrieg bewährten sich sozialdemokratische Hamburger Stadtregierungen ein zweites Mal: Der Wiederaufbau vereinte die Stadt in einem teilweise primitiven und schnellen, teilweise auch im verspielten Wiederaufbau mit dem Charme der 1950er-Jahre. Die Hansestadt blühte auf, obwohl sie geografisch in Westdeutschland zur Königin der Randlage geworden war, getrennt vom historischen Hinterland im Osten durch den Eisernen Vorhang. In den 1970er- und 1980er-Jahren litt Hamburg unter Bevölkerungsverlust und hoher Abwanderung in das Umland, das sich zu einem Speckgürtel in Niedersachsen und Schleswig-Holstein entwickelt hatte.
    Dann überschlugen sich die Ereignisse: In den 1990er-Jahren litten Hafen und Hafenindustrie Mangel aus regionalen wie aus strukturellen Gründen. Was das Ruhrgebiet und andere Industriegebiete schon erlebt hatten, kam nun auf die Hafenstadt Hamburg zu: der Strukturwandel von der industriellen Stadt des 19. und 20. Jahrhunderts zur Dienstleistungsmetropole des 21. Jahrhunderts. Der Strukturwandel hatte erstaunliche Geschenke parat: die ehemaligen Hafenflächen, zur Umwandlung bereit. Sie liegen in Hamburg sehr zentral, einige sogar nah an der Innenstadt, was schließlich ein Vorteil für die Entwicklung war. Mit Wende und Wiedervereinigung begann die Stadt zu wachsen, unter anderem, weil das natürliche Hinterland im Osten wieder eingebunden werden konnte.
    Hamburg partizipierte auch von einem weltweiten Trend, den der nordamerikanische Ökonomieprofessor Ed Glaeser 2011 in einem gleichlautendem Buch den "Triumph of the City" benannt hat. Ed Glaeser stellt fest, dass es die Städte sind, die uns reicher, intelligenter, grüner, gesünder und glücklicher machen.
    Aber nach welchen Methoden und Theorien, mit welchen Zielen konnte diese Erkenntnis planerisch mit Leben erfüllt werden? Der Schweizer Städtebauhistoriker und Soziologe Angelus Eisinger schreibt in seinem Buch "Urban Reset" 2012:
    "dass die Urbanisten nach dem Niedergang der Stadtutopien und Stadtmodelle der Moderne - Stichwörter: autogerecht, grün, entmischt - wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrt waren und die Entwicklung der Stadt anderen überlassen haben. Und deswegen Stararchitekten, Designer und Künstler das Schicksal und vor allem das Bild der Stadt prägten."
    Mehrere Ansatzpunkte für Hamburg
    Stadtplanung oder, wie es heute heißt, Stadtentwicklungsplanung als eine übergeordnete gesellschaftswissenschaftliche Disziplin, vereinnahmte die kleinere und mit räumlichem Bezug denkende Disziplin namens Städtebau, die sich weitgehend architektonisch äußert. Der Konflikt zwischen den Gesellschaftswissenschaften und den planerisch-kreativen Berufen wurde damit kultiviert - in der Regel endet er mit der Frage, ob die Stadt beherrschbar und gestaltbar sei, was die Gesellschaftswissenschaften bezweifeln und die Stadtentwickler bejahen. Der britische Architekturhistoriker Iain Borden schrieb 2009 für die Münchner Ausstellung "Multiple City":
    "Die Architektur der Stadt wird weit über ihre objekt- und bildhaften Eigenschaften hinaus bewertet. Die architektonische Substanz ist Voraussetzung und Komponente von Ereignissen, aber in performativen Akten erst kommt sie zur Entfaltung, bekommt sie soziale und ästhetische Relevanz."
    "In der Netzstadt, Raumstadt, Gartenstadt."
    "Situativer Urbanismus, performativer Urbanismus."
    "Stadt als Bild - Telepolis."
    "Cities without History?"
    "Architektonische Urbanistik, urbane Nachhaltigkeit, gesunde Stadt."
    "Lifestyle Urbanismus contra sozialen Wohnungsbau."
    "Stadt als Beute, Capitalising Urban Myth."
    "Utopie."
    "Mythos Metropolis, Mythos Megacity."
    "Urban Reset ..."
    Sprachverwirrung, Hilflosigkeit oder Ablenkungsmanöver? Mit solchen Titeln und Überschriften stellte die Ausstellung "Multiple City" Stadtkonzepte von 1908 bis 2008 auf der einen Seite und das neue Denken der Urbanisten auf der anderen Seite dar. Kurator Winfried Nerdinger ging es darum, Entwicklungslinien zu dokumentieren.
    "Von der Gartenstadt bis zum Mythos Megacity: "Multiple City" reflektiert aktuelle urbane Entwicklungen im Spiegel zentraler Stadtkonzepte der letzten 100 Jahre und untersucht, wie sich multiple Erscheinungsformen, parallele Strategien und gegenläufige Entwicklungen ins Gesicht der Stadt eingeschrieben haben. Denn urbanistische Diskurse, auch vorübergehende, hinterlassen dauerhafte Spuren."
    Die Botschaft: Die Stadt des 21. Jahrhunderts ist komplex, kompliziert und zerrissen, sie ist eine Schimäre - wechselhaft und schimmernd, obwohl in feste Formen gegossen. Die Bewohner dieser Städte haben allerdings eigentlich ganz einfache Wünsche, wie es der Soziologe Heinz Bude, Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel, in seinen Vorträgen berichtet:
    "Das heutige Stadtideal ist die Mischung aus Bullerbü - familien- und kinderfreundlich-, Forellenhof - gender und -altengerecht - und Saturday Night Fever - also das, was die arbeitende Jeunesse Dorée so möchte."
    Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz verkündete in Hamburg das Stadtentwicklungskonzept "Grüne, gerechte, wachsende Stadt am Wasser". Was macht nun Hamburg aus der Zwickmühle - zwischen dem Gebot, alle mitzunehmen und der Verführung, die Happy Few glauben zu machen, ihnen gehöre die Stadt allein? Und wem gilt die Anstrengung, allen Hamburgern? Oder deren Gästen, die das Geld in die Stadt bringen sollen?
    Szenario: Hamburg als hedonistische und touristische Stadt
    Ein erstes Szenario: Hamburg als hedonistische und touristische Stadt. Stolz, aber scheu, das galt einmal - die selbst erklärte "schönste Stadt der Welt", wie es in den kommerziellen Hamburger Radiosendern gern moderiert wird, ist zu einem der beliebtesten Ziele des europäischen Städtetourismus geworden. Immer noch üben St. Pauli und der Hafen ihre Anziehungskraft aus, die Musicaltheater aber gehören inzwischen zu den Zugpferden der Hansestadt, die sich nach New York und London als dritte erfolgreiche Metropole in diesem Markt behaupten will.
    Tourismusstrategen haben dem gediegenen Stadtbild der Tradition zwei große Sportvereine und die moderne Hafencity hinzugefügt. Und natürlich gibt es bald wieder mehr Hochkultur - allen voran in der Elbphilharmonie, die Hamburg wieder zur strahlenden Kulturmetropole machen soll. Als Patenstadt für Wissenschaft und Bildung buhlt Hamburg um eine kreative Klasse, die die Stadt sicher in die Zukunft beamen soll. Hamburg konkurriert auf diesem Gebiet mit jungen Metropolen, die auf eine junge bildungsstarke Zukunft setzen: Amsterdam, Dublin, Kopenhagen oder Tallin.
    Die Hansestadt läuft aber gleichzeitig Gefahr, eine hedonistische Fake City zu werden, in der am Ende das Riesenrad vor der Elbphilharmonie zum Südufer der Norderelbe mit seinen Musicaltheatern hinüberleuchtet - zurück spiegelt die elbüberquerende Seilbahn nach St. Pauli. Mehr als 100 Abfahrten von Kreuzfahrtschiffen im Jahr sind letztendlich auch ein gefährlicher Showeffekt, wenn man an die fürchterlichen Emissionen denkt, die diese in den Hamburger Hafen blasen.
    Nein - die gesunde Stadt des 21. Jahrhunderts braucht mehr als nur Glanz und Gloria auf Pump. Beispielsweise echte Forschung und High-Tech-Industrie mit entsprechenden Arbeitsplätzen. Die Stadt von Morgen soll erfinden und modern arbeiten und tatsächlich dabei bescheiden bleiben. Erst dann darf sie sich feiern.
    Szenario: Hamburg als nachhaltige Stadt
    Nachhaltiges Umsteuern ist wünschenswert und führt zum zweiten Szenario, der nachhaltigen Stadt - der Green City. Eine von Hamburgs Qualitäten ist die Farbe Grün: Hunderttausende Bäume auf Straßen, Höfen, Alleen, Parks, an Ufern und in Landschaftsschutzgebieten. In Hamburg zu wohnen, heißt fast immer, unter Bäumen zu leben. Auch in den Großsiedlungen aus den 1970er-Jahren beherrschen inzwischen 40 Jahre alte Baumkronen das Bild. Zum Grün gesellt sich die Farbe Blau: drei Flüsse Elbe, Alster, Bille, der Hafen, unzählige Fleete und Kanäle. Ein hanseatischer Unique Selling Point, der auch Lasten mit sich bringt: Denn wie seit Jahrhunderten ist Hamburg auch heute gezwungen, die Hochwasser gefährdeten Stadtteile besonders zu schützen. Der Hochwasserschutz ist seit 1962, seit die große Flut über die Elbinsel Wilhelmsburg kam, ein wichtiges Stadtentwicklungsthema, das sich jetzt in Zeiten des Klimawandels noch verschärfen kann.
    Ein bewusst ökologisches Konzept mit zwei großen Stadtentwicklungsprojekten für das 21. Jahrhundert - so präsentierte sich Hamburg:
    • auf der Internationalen Bauausstellung 2013, wo unter anderem für den Stadtteil Wilhelmsburg Strategien für das Bauen im Klimawandel gezeigt wurden,
    • und mit der Hafencity, Hamburgs größter und spektakulärer Innenstadterweiterung. Für die prächtigen Büroneubauten der Hafencity entwickelte die Stadt ein ökologisches Zertifizierungssystem, das weniger Nachhaltigkeit als hochkarätiges Immobilieninvestment einbrachte.
    Hamburg durfte sich zwar "Umwelthauptstadt Europas 2011" nennen. Das Problem war, dass die Green Capital ein Phänomen blieb, das vornehmlich unter Ausschluss der Hamburger Öffentlichkeit in Hörsälen stattgefunden hat, nicht unbedingt im Bewusstsein der Hamburger. Ihre Stadt ist weniger eine Green City im ökologischen Sinne, als eine tatsächlich grüne Stadt. Das bringt Lebensqualität und Begehrlichkeit gleichzeitig: In Hamburg mag man gern leben, aber man muss es sich leisten können. Die Stadt wird teurer, besonders, weil sie wächst.
    Szenario: Hamburg als wachsende Metropole
    Das dritte Szenario, die wachsende Metropole: Hamburg soll in den nächsten zehn bis 20 Jahren von gut 1,7 Millionen auf zwei Millionen Einwohner anwachsen. Doch wo kommen die neuen Hamburger her?
    Während das Land sich leert, zuerst in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg und jetzt auch in Niedersachsen oder Ostwestfalen, wächst die Bevölkerung der Verdichtungsgebiete und Großstädte: Hamburg, München, Berlin, Rhein-Main, Rhein-Ruhr. Wachstum bedeutet auch, dass die Menschen der Arbeit folgen müssen, wo sie angeboten wird. Das ist beinahe so augenfällig wie zu Zeiten der industriellen Revolution und der Gründerzeit. In Hamburg will man die neue Gründerzeit, aber eine gerechte:
    "Maßstab für die zukünftige Entwicklung der gerechten Stadt ist das Ziel, allen Bürgerinnen und Bürgern den Verbleib in ihrer Stadt und ihrem Quartier bei hoher Lebensqualität zu ermöglichen", heißt es im Stadtentwicklungsprogramm. Das bedeutet, die Stadt intensiv weiterzubauen: ihre Infrastruktur, ihre Bildungseinrichtungen und vor allem Wohnungen: Jährlich 6.000 Wohneinheiten müssen entstehen und seit den letzten Jahren sieht es so aus, als ob man diese Zahl erreichen könnte. Nicht sichergestellt ist, wer sich die neuen Wohnungen leisten kann, denn die beliebten Lagen an der Alster, Elbe oder in der Hafencity gleichzeitig gediegen und grün werden nicht durchgängig zu bieten sein.
    Sollten 200.000 Menschen zusätzlich in die Stadt ziehen, muss, wie der Terminus technicus heißt, nachverdichtet werden. Höhere Häuser aber bedeuten schlechtere Belichtung und Besonnung; breitere Straßen bedeuten weniger Straßengrün, mehr Wohnungen bedeuten weniger öffentliche Flächen, beispielsweise Schulhöfe. Nachverdichtung bildet eine Gefahr für die gemütliche Stadt, die ihren Charakter einer durchgrünten lebenswerten Stadtlandschaft erhalten will. Vereinzelt werden schon wieder Wohnhochhäuser und Großsiedlungen in die Planungsdebatte geworfen. Aber so, wie mittlerweile durch viele Untersuchungen nachgewiesen worden ist, will selbst in der Großstadt kaum einer wohnen.
    Natürlich nimmt Hamburg die Flächengeschenke an, die durch Rückgabe von Kasernen- und Fabrikarealen und Hafenanlagen zur Verfügung stehen. Aber deren Potenzial ist endlich. Der Druck durch Investoren und Spekulation steigt - aus einem ganz bestimmten Grund: Wachstum in großen Städten hat nur dann eine Zukunft, wenn sie neben Arbeitsplätzen für intelligente Dienstleistung, für Bildungsbranchen und in der Wissenschaft weiterhin einen industriellen Kern anbieten können: Das bedeutet eine entsprechende Sicherung bestehender Flächen, denn die Ausweisung neuer Industrieareale ist derzeit bei vielen Bevölkerungsschichten und Organisationen nicht mehr durchzusetzen.
    Der Hafen als sakrosankte Institution
    Und dann gibt es noch den Hafen, eine sakrosankte Institution, mit der die Frage verbunden ist: "Stadt mit Hafen" oder "Hafen mit Stadt"? Die Wirtschaft - und in deren Schlepptau die Stadtverwaltung - haben sich längst für den "Hafen mit Stadt" entschieden: Über 100 Jahre war der Freihafen mit eigenen Zollgrenzen eine unberührte Terra incognita. Die Zäune sind 2013 gefallen. Der Hafen wird bei intensiver Nutzung seiner Areale flächenmäßig nicht mehr wachsen können, auch nicht müssen. Doch der Bedarf an Logistikflächen steigt immer noch. Nach Aussage der Hamburger Behörden stellt das beflissene Zukunftsszenario von verzahnter Hafen- und Stadtentwicklung kein Problem dar. Werden die Interessen der Stadt in der Fläche und in ihrer Anlage aber weiterhin der Hafenpolitik untergeordnet, könnte das fatale Folgen haben, wenn sich die Handels- und Warenströme der Welt verändern oder versiegen. Niemand weiß genau, was das für Hamburg bedeuten würde.
    Selbst der Erste Bürgermeister Olaf Scholz war zum Ende seiner Konzeptpräsentation sehr nachdenklich bei der Frage, ob wirklich alles so verlässlich kommt, wie Excel-Tabellen und Algorithmen es vorzubestimmen scheinen.
    Rund um die Binnenalster liegt also eine der schönsten Stadtmitten Mitteleuropas. Und mit einer imponierenden Waterfront strahlt die neue Hafencity nach draußen in die Welt. Aber es darf nicht dabei bleiben, dass diese vor allem ein Tourismusmagnet ist und einige Investoren in Hamburg Betongold gefunden haben. Um das Wortpaar wachsend und gerecht in Gleichklang zu bringen, wird es darauf ankommen, wie man die Hafeninteressen und ihre Flächenansprüche im Zaum hält.
    Und es kann viel passieren. Was wäre, wenn Hamburgs Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele Erfolg hätte und ein Zuschlag durch das Internationale Olympische Komitee für 2024 oder 2028 ausgesprochen würde? Viele Planungen würden sich radikal ändern. Es könnte ein Katalysator für den Infrastrukturausbau sein - gerade daran aber scheitert man zur Zeit in Deutschland, wie der Berliner Flughafen BER und der Bahnhof Stuttgart 21 gezeigt haben. Und Rückhalt in der Bevölkerung für diese kurzlebigen aber gigantischen Unternehmungen ist auch nicht garantiert. Hamburg hat andere Probleme zu lösen, wenn es sich grün und gerecht vom ewigen Wachstum verabschieden will.
    Szenario: Hamburg als soziale und emotionale Stadt
    Die soziale und emotionale Stadt für alle - ein viertes Szenario. Sie hofft in dieser Ungewissheit auf kreative Planer, die den Taschenrechner beiseitegelegt, Computer abgeschaltet haben und die sich für ihre Pläne einfach umschauen. Berlin hat mehr Erfahrungen als Hamburg mit alternativer Planung. 2009 lud Hamburgs Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt deshalb das Berliner Büro Urban Catalysts ein, Kreative und offene Räume für Hamburg zu erkunden. Handlungsbedarf war gegeben, das hing unter anderem mit dem Hamburger Gängeviertel-Schock zusammen. Der letzte Überrest des innenstädtischen mittelalterlichen ehemaligen Handelsviertels am Gänsemarkt mit seinen engen Gassen und Fachwerkhäuschen war, wie in Hamburg üblich, als ein denkmalschutzwürdiges, aber marodes Quartier einem Investorenkonsortium anhand gegeben worden - was bis dahin bei richtiger Lage schon mal die Lizenz zum Gelddrucken bedeutet hatte. Doch das Investorenkonzept ging aufgrund falscher Kosteneinschätzung gründlich schief. Anwohner und Künstler wollten das Viertel vor Verfall und Abriss bewahren, besetzten die Häuser ab 2009 - und erreichten in der Stadt ein Umdenken.
    Urban Catalysts offenbarte Hamburg seine Kreativ Cluster in einer Art Wetterkarte. Hoch- und Tiefdruckgebiete kennzeichnen darin unterschiedliche Stadtentwicklungspotenziale. Die Hochs liegen unter anderem in den Konversionsflächen am Hafen. Inzwischen wurde in Hamburg eine behördeneigene Kreativgesellschaft mit beschränkter Haftung gegründet - frei nach der These, dass sich die Städte neu erfinden müssen und die kreativen Köpfe einer Gesellschaft dabei eine wichtige Rolle spielen, auch hinsichtlich des ökonomischen Wachstums der Städte.
    Hamburg will zeigen, dass die Kreativendebatte keine Alibidiskussion bleibt. Die Hamburg Kreativ Gesellschaft ist eine städtische Einrichtung zur Förderung der Kreativwirtschaft in der Hansestadt, der viele der sich neu formierenden gesellschaftlichen Gruppierungen, die heute Staat und Gesellschaft entscheidend mitbestimmen, angehören. In diesem Teil der Gesellschaft sind hohes Einkommen oder überkommene Statusbezeichnungen nicht die Orientierung. Nach den aktuellen Sinus-Milieu-Studien zur Bevölkerungsentwicklung bilden sie das "sozialökologische Milieu", "bewusst-idealistisch" und "mit normativen Vorstellungen von "richtig" und "falsch"". Oder das "expeditive Milieu", eine "kreative Avantgarde, individualistisch, geistig mobil und digital vernetzt". Diese Menschen können sich Luxuswohnungen nicht leisten. Und wollen auch keine Designerbadewanne in der Eigentumswohnung. In einem hedonistisch grellen Städtebau - wofür ein Teil der viel beachteten Hafencity steht - fühlen sie sich nicht wohl.
    Die Bürger einer leistungsstarken Stadt sind unterschiedlich in ihrer Leistungsfähigkeit und ihren Wünschen, ihren Zielen und ihrer Herkunft. Wenn alle gehört werden, könnte das der Anfang der sozialverträglichen Stadt von heute sein, der Stadt für alle. Der Grat ist schmal: Hamburgs Stadtteil Schanzenviertel mit dem autonomen Veranstaltungszentrum Rote Flora stellt das unter Beweis, wenn dort mitten in einem gentrifzierten In-Stadtteil die Polizei und Autonome sich Straßenkämpfe leisten.
    Und so wird leider deutlich: Eine umfassend wirksame Strategie hat Hamburg noch nicht gefunden - und steht vor Problemen wie andere deutsche Städte auch. Der feste Glaube an das Wachstum auf der einen Seite, und immer noch sehr eindimensionale und meist an der Vergangenheit orientierte Planungsstrategien auf der anderen Seite verhindern das Betreten von Neuland.
    Doch was ist die Zukunft der Stadt?
    Vordenker wie der niederländische Architekt Rem Koolhaas, Urbanist und Erfinder von Metropolenstrategien, outet sich bereits als Freund der Renaissance von Land und Dorf. Selbst in Hamburg, wo man sich noch vor Kurzem allein dem Stadtentwicklungskonzept Hafencity als Zukunftsmodell widmete, will man sich jetzt dem Stadtquartier als Heimat widmen und spricht vom "urbanen Dörfern an der Elbe".
    Die speziellen Aussichten für Hamburg - um noch einmal mit den Begriffen einer Wetterkarte zu sprechen - sind gemischt. Sonnige Abschnitte wechseln sich mit Starkregen ab. Hamburg ist die Großstadt in Deutschland, bei der die Mieten in den letzten zehn Jahren am gewaltigsten angezogen haben. Urbane Dörfer an der Elbe machen nur Sinn, wenn sie für alle Schichten zugänglich sind.
    Ob Hamburg sein Ziel der "grünen, gerechten, wachsenden Stadt am Wasser" erreicht, entscheidet sich daran, ob wirklich alle Bevölkerungsschichten und -teile mitgenommen werden. Zuallererst mit einem Wohnungsangebot, das für alle bezahlbar ist. Und einer gemeinschaftlichen Bestimmung darüber, welches Wachstum gewollt ist.