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Handreichung für geplagte Denker

Eine Apotheke bietet das zum Kauf an, was die Ärzte ihren Patienten zur Heilung empfehlen: Medikamente, Salben, Tropfen, Injektionslösungen, Pflaster etc. Von einer Theorie-Apotheke kann man folglich Gedankenkonstruktionen, Modelle, Systeme und Begriffe erwarten, die vielleicht nicht gerade zur Heilung des Menschen führen, ihm aber doch zumindest seinen Wissensdurst, seine Neugierde und sein Verlangen nach theoretischen Abenteuern und Orientierungen stillen.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 19.01.2005
    Im Untertitel seines Apothekerladens in Buchform spricht der in Mannheim lehrende Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch auch von einer "Handreichung" und grenzt sein Angebot sogleich stark ein: humanwissenschaftliche Theorien, und zwar nur der letzten fünfzig Jahre, Risiken und Nebenwirkungen inbegriffen. Nach der Zeit der Groß-Theorien, die noch allgemeine Heilsbotschaften beinhalteten, versprechen heute die meisten humanwissenschaftlichen Theorien höchstens noch Heilung von spezifischen Krankheiten und Leiden. Hörischs Theorie-Apotheke versucht vor allem von den großen Erzählungen und den Theorie-Giganten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Eindruck zu vermitteln.

    Immer wieder gibt es erneut ernsthafte Versuche, Theorien so anzulegen, dass sie 'Letztbegründungen', unhintergehbare Gewissheiten und Letztinstanzen liefern. Der Gestus der vorliegenden Theorie-Apotheke ist ein anderer: sie staunt erst einmal darüber, wie viel ernsthaft vorgetragene Theorien es gibt - das also gibt es alles, so viele Fächer und Schubladen muss die Theorie-Apotheke haben. Sie geht vom schwer zu bestreitenden Faktum aus, dass es Gläubige und Ungläubige gibt, Kantianer und Hegelianer, Empiristen und Logiker, Idealisten und Materialisten, Existentialisten und Psychoanalytiker, kritische Rationalisten und kritische Theoretiker, Systemtheoretiker und Dekonstruktivisten, Feministinnen und Feministen und und und.

    Hörisch hat sie alle wie in einem Geisterkabinett versammelt: da sitzen sie entweder in eher bescheidenen Räumen - ihre Theorien skelettartig gerupft, abgehandelt in ein paar knappen Sätzen - oder aber werden auf einen Thron gesetzt, so wie es sich für Götter gehört, leitet sich doch das Wort "Theorie" her von: theoria (Anschauen, Betrachtung) und theoros , in dem theos (der Gott) enthalten ist.

    ... aus der Position Gottes die Welt beobachten - wer möchte das nicht (können)? ... Wer wie Gott alles beobachten will, muss noch Gott selbst und also den letzten Beobachter beobachten.

    Nicht ein solches Suchen nach Letztbeobachtungen und Letztbegründungen ist Hörischs Anliegen, sondern die Vielzahl der Theorien sinnvoll anzuordnen. Was aber heißt das? Sie nach ihren Gegenstandsbereichen oder ihren Grundorientierungen, nach ihrem Geltungsanspruch oder ihrem historischen Stellenwert platzieren oder aber so funktional wie möglich vorgehen und eine alphabetische Abfolge wählen? Da Hörisch die Schwierigkeiten und Fallen einer historischen Anordnung schließlich doch für unüberwindbar groß erachtet, nimmt er tatsächlich die Zufälligkeiten des Alphabets in Kauf, beginnt mit "Analytische Philosophie" und endet mit "Zivilisationstheorie".

    In "pointierten, produktiven Vereinfachungen" sollen Grundzüge, Grundgesten und Grundbegriffe der maßgeblichen Theorien vorgestellt werden - gemäß der Einsicht, dass sich Theorien entsprechend veränderter gesellschaftlicher und kultureller Bedingungen, Erkenntnisinteressen und Problemstellungen auch beständig ändern, modisch exponiert werden oder aber aus der Mode herausfallen. Deutlicher und ausdrücklicher als das vielköpfige Team eines Lexikons ist sich der Autor in diesem Fall der Begrenzungen seiner Kompetenz und den Maßstäben seiner eigenen Interessen und Vorlieben bewusst. Man sollte diese Theorie-Apotheke nicht - was sehr leicht wäre - daran messen, was in ihr alles fehlt, sondern daran, wie das Ausgewählte dargeboten wird und ob daraus tatsächlich dem Leser, was der Autor sich erhofft, neue Kräfte erwachsen.

    Neue Kräfte aber erwachsen aus der Beschäftigung mit Theorien nur, wenn man sich durch das Gestrüpp der Begriffe, durch die verschlungenen Wege der Argumentation und durch die vielfältigen Voraussetzungen und Bedingungen, die jeder Theorie eigen sind, selbst hindurcharbeitet. Jochen Hörisch suggeriert dem Leser, ihm würden diese Mühen in diesem Fall erspart bleiben, er erhalte gleichsam auf einem silbernen Tablett das von allen Schlacken und Zutaten gereinigte Substrat eines Gedankengebäudes vorgesetzt, und dazu noch heiter aufbereitet.

    Denn darauf legt der Autor besonderen Wert, dass er dem Ernst der Theorien nicht trübsinnig verfällt, sondern auch heiter davon erzählen will. Wie illusionär und durchsetzt von Scheineffekten eines Theorien-Schnellkurses dieses Verfahren ist, zeigt sich vor allem darin, dass erstens kaum ein Leser in der Lage sein dürfte, nach der Lektüre die aufgenommenen Theorien selbst wiederzugeben oder gar zu diskutieren, und dass zweitens der Gedächtniseffekt des konsumierten Kompaktwissens oft genug gegen Null gehen dürfte. Bereits nach ein paar Tagen oder spätestens ein, zwei Wochen hat man das Gelesene in der spezifischen Argumentation vergessen - es sei denn, man hatte sich zuvor bereits selbst mit der Theorie auseinandergesetzt. In diesem Fall aber hat man auch nicht allzu viel Neues erfahren und fühlt sich eher enttäuscht von der verkürzten Darstellung. Dies zeigt sich etwa - und ich greife jetzt nicht einen eher schwächeren, sondern vielmehr einen besonders ausführlichen und sehr konzisen Artikel heraus - in den Ausführungen über die Anthropologie.

    Wenn immer mehr Einzelne Institutionen und ihren 'obersten Führungssystemen’ (wie es im Paragraph 44 des 1940 erschienenen, später überarbeiteten Buches Der Mensch hieß) im Namen von hypertrophen Individualwerten wie Freizeit und Eudämonismus die Gefolgschaft aufkündigen, tritt die Geschichte ins Stadium der 'posthistoire’ (siehe Posthistoire) ein, die nicht mehr die Kraft zur großen formierenden Kulturleistung aufbringt.

    Wenn ich jetzt vom anonymen "man" zum persönlichen "ich" wechsle, dann um zu betonen, dass ich den vorgestellten Theorien gegenüber ohne Ressentiment bin und dass ich durchaus zum Zielpublikum des Buches zählen könnte: Es gibt kaum eine Theorie, auf die ich nicht neugierig bin, wenn mir Theorien kompakt vermittelt werden, habe ich prinzipiell erst mal nichts dagegen, und da ich, anachronistisch, lieber zum Buch als zur Computer-Maus greife, kommt mir ein Internet-Theoriewissen für Netzfaule geradezu gelegen. Die gedankliche Durchdringung der dargestellten Theorien erscheint mir, soweit mir die Theorien vertraut sind, über jeden Zweifel erhaben. Es ist einzig und allein die Konzeption des Buches, die Fragen aufwirft und zu Zweifel Anlass gibt. So ist ein Artikel wie etwa derjenige über den Strukturalismus in sich völlig stimmig und erklärt recht gut und eingängig die schwierige Materie und kommt natürlich doch nicht - auch wenn der Autor mit Wörtern wie "cool" oder "heißes Thema" zu locken versucht - ohne die höchst sperrige Terminologie aus: Dependenzverhältnisse, Verbvalenztheorie und Transformationsgrammatik.

    Hörischs Haltung des ernsten Theoretikers mit lockerem Habitus macht ihn auch anfällig für Klischees wie etwas die vom Strukturalismus als "kalter Analyse" und "analytischer Geste" und banalisierenden Verkürzungen in der Darstellung einzelner Werke wie etwa Lévi-Strauss’ Traurige Tropen oder des gesamten psychoanalytischen Strukturalismus.

    Großzügig entschädigt wird dann aber der Leser des Psychoanalyse-Artikels, der substantiell in allererster Linie dem rätselhaften Docteur Lacan gewidmet ist. Und hier - wie auch in dem Kapitel über Hannah Arendt - durchbricht der Autor sein starres Prinzip, die Theorien ohne die biographische Verlebendigung ihrer Verursacher vorzustellen. Hörischs Aussagen über Lacan gehören, aus seinem persönlichen Erleben heraus vermittelt, zu den vitalsten und erinnerungsträchtigsten des ganzen Buches. Denkgebäude sind nun einmal Produkte eines gelebten Lebens; einen Teil ihrer Wirkung beziehen sie aus Atmosphären und Stimmungen. Der Leser, der auf den stets "elegant gewandeten Meister" und seine "Jean-Gabin-Stimme" eingestimmt ist, ist viel besser in der Lage, sich auf seine Art des Denkens einzulassen:

    Lacans 'Rückkehr zu Freud’ war eine Rückkehr, die auf die unbewussten, obszönen, perversen, triebbestimmten, verrückten, surrealistischen, exzentrischen, schrecklich faszinierenden Dimensionen, auf die sie stieß, nicht sofort reflexartig mit dem Impuls 'Das muss man aufklären, therapieren, ordnen, abtreiben, austreiben’ reagierte, sondern sie erst einmal so verdrängungsfrei wie möglich zur Kenntnis nahm und artikulierte.

    Im Unterschied zu dem Lacan-Artikel ist der Artikel über den vergleichbar bahnbrechenden Denker Heidegger nicht getragen von dieser Vertrautheit mit der Person. So bleibt es eine respektvolle, letztlich gegen jeden umfänglicheren lexikalischen Eintrag austauschbare Darstellung: solide, etwas trocken, anerkennend mit ein paar Seitenhieben - eben die erprobte Mischung. Gerade der Wunsch, das exzentrische Denken jedem Interessierten nicht allzu ernst und nicht ohne Witz und Ironie zugänglich zu machen, kann einem sich von Normen und tradierten Argumentationsstilen radikal befreienden Denken nur begrenzt gerecht werden, wenn es zum Beispiel heißt:

    Heidegger inkarnierte das Paradox eines dummen Genies. Pariser Intellektuelle haben Heideggers Hinterwelt-kritisches Seinsdenken auf Metropolenniveau gebracht - was Hinterwäldler naturgemäß nicht goutieren.

    Was bezüglich inflationären Modewörtern - wie zum Beispiel "Interdisziplinarität" - funktioniert, sie nämlich als nichts sagend oder zumindest als völlig überbewertet zu entlarven, ist in Bezug auf ein revolutionäres Denkgebäude nur sehr begrenzt praktikabel. Und Hörischs Darstellungen erscheinen mir auch dann als stärker, wenn sie weite denkübergreifende Bögen schlagen und (ohne den modischen Gestus des coolen Theorie-Apothekers) entscheidende Aussagen schlicht und mit großer Präzision machen, zum Beispiel:

    Was haben so unterschiedliche Theorien wie die Hermeneutik, die analytische Philosophie, die Kommunikative Ethik von Habermas, die Luhmannsche Systemtheorie, Heideggers Spätphilosophie und die Dekonstruktion, um nur diese einflussreichen Strömungen zu nennen, gemeinsam? Eben dies: dass sie eine Wende hin zur Sprache, einen 'linguistic turn' vollziehen, eine Wende und Volte, die sie von den alten Grundorientierungen der Philosophien und Großtheorien an Gott (Theologie), am Sein (Ontologie) oder seit Descartes am Bewusstsein (Idealismus bzw. Subjekt-Bewußtseinsphilosophie) entfernt.

    Die extrem schwierige Aufgabe, die sich Hörisch vorgenommen hat - eine teilweise recht trockene und extrem abstrakte Materie beschwingt zu referieren -, ist da am einfachsten einzulösen, wo er zum einen die Theoretiker aus eigener Anschauung kennt und wo zum anderen die Theoretiker nicht nur ihre Skurrilitäten und tics zur Schau stellen, sondern ihr persönliches Auftreten und ihre Theorien als ein Gesamtkunstwerk betrachten, wie besonders eindringlich Jacques Lacan oder Paul Feyerabend. Hier trifft Hörisch am besten den Ton, der ihm vorschwebt. Zugleich stellen aber gerade diese Kapitel sein ganzes Unternehmen (einer referierenden lexikalischen Kurzdarstellung von Theorien) am ehesten in Frage. In seinem Kapitel "Anarchistische Erkenntnistheorie" scheint er sich sehr weitgehend mit dem hier propagierten Wilden Denken zu identifizieren:

    Wissenschaftlicher (und eben nicht nur wissenschaftlicher!) Fortschritt beruht auf einer bemerkenswerten Frechheit gegenüber den herrschenden Paradigmata, auf produktiven Irrtümern, auf Träumen, auf Intuitionen, auf arroganter Ignoranz ... Gute Wissenschaft ist anarchistisch ... Wahr ist, was dem freien, sich genießenden Leben gut tut. Und das muss nicht unbedingt Wissenschaft sein oder auch nur mit Wissenschaft zu tun haben.

    Eine Lizenz für wissenschaftlich sich gebenden Unsinn stellen aber keine der von Jochen Hörisch vorgestellten Theorien aus, auch wenn sie sich noch so weit von den tradierten Wissenschaftsidealen wegbewegen und teils wie Monumente besonders kunstvoll stilisierter Idiosynkrasien wirken.