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Handschriftliches von Joseph Beuys
Skripturale Schnappschüsse

Flüchtige Notizen, Gekritzel auf Hotel-Briefbögen, Telefonnummern: Die schriftlichen Gedankenfetzen Joseph Beuys' waren eigentlich nie für die Öffentlichkeit bestimmt. Herausgeber Steffen Popp hat es dennoch getan. Für ihn ist "Mysterien für alle" ein "ungebundenes Notizbuch", das aber eher einer hypertrophen Heiligenverehrung gleicht.

Von Martin Krumbholz | 28.01.2016
    Ein Porträt von Joseph Beuys (1921-1986), Aufnahme circa 1985.
    "Mysterien für alle" von Steffen Popp enthält handschriftliche Notizen des Künstlers Joseph Beuys. (imago/Leemage)
    "Mysterien für alle", das erinnert ein bisschen an "Wein für alle" oder ähnliche Reklamesprüche, irgendetwas Ur-Demokratisches wohnt dem inne, und dagegen ist auch nichts zu sagen. Nur: Rezensieren im klassischen Sinn lässt dieser zweifellos schön gemachte Liebhaberband sich leider nicht. Denn es handelt sich bei diesen im besten Sinn flüchtigen Aufzeichnungen nicht um ein Werk, dessen Intentionen sich nachvollziehen und gegebenenfalls beurteilen ließen, ganz im Gegenteil, sie waren nie für eine Veröffentlichung bestimmt, haben nicht den Charakter eines "Manuskripts", obschon durchaus mit der Hand geschrieben.
    Der Herausgeber Steffen Popp spricht in seinem schmalen Nachwort von einem "ungebundenen Notizbuch" im doppelten Sinn.
    Da sehen wir etwa das Faksimile einer Ausstellungsankündigung des Galeristen Konrad Fischer, Platanenstraße 7 in Düsseldorf, Telefon 0211/685908, auf welche Beuys, in ein fleischerhakenmäßiges Fragezeichen mündend, gekritzelt hat:
    "Was nun mit der Zeit?"
    Auf dem geduldigen Briefpapier des Hotel Ritz, Piccadilly, London, heißt es ebenfalls:
    "Was nun mit all der gestauten Zeit? Was nun mit der Zeit?"
    Starker Tobak
    Man muss sich darüber gar nicht lustig machen, jeder von uns kritzelt in müßigen oder traurigen Augenblicken schon mal spontan etwas auf ein Hotelbriefpapier, und umso angenehmer, wenn es sich dabei um das Ritz in London handelt, dessen Wappen einen Löwen mit einem Reichsapfel darstellt.
    Doch schon der erste Satz des Herausgeber-Nachworts, man müsse kein Joseph-Beuys-Kenner sein, um sich diese "kleinsten Aufzeichnungen" zu erschließen, ist starker Tobak.
    Die meisten dieser Aufzeichnungen lassen sich keineswegs "erschließen", weder für Beuys-Kenner noch für andere, solange man damit nicht den puren Akt der Transkription meint, der an sich schon mühevoll genug gewesen sein muss; denn sie sind schlicht und nicht immer ergreifend: kontextlos. Oft genug sind es nur dunkelgraue "Begriffswolken". Steffen Popp bemüht einen "erweiterten Kunstbegriff", wie er "spätestens seit der Frühromantik" im Schwange sei, auch wenn die Notate sich nicht einem dichterischen Impuls verdankten.
    Das ist ehrenwerte Liebesmühe, aber letztlich leistet Popp einen Beitrag zu einer hypertrophen Heiligenverehrung, der jedes noch so mindere Hinterbliebene einer Reliquie gleicht. Man muss solche skripturalen Schnappschüsse, wie sie hier vorlegen, nicht gleich zur "Gaya Scienza", zur Fröhlichen Wissenschaft überhöhen.
    Beuys war kein Philosoph, wollte es wohl auch nicht sein; seine politischen Ambitionen kamen über einen voluntaristischen Impuls selten hinaus.
    "Die Malerei ist nicht erfunden, um Wohnungen auszuschmücken, sondern eine Waffe gegen den Feind."
    Ja schön, aber wer ist der Feind? Womöglich ist der Klassenfeind gemeint, der seinerzeit in aller Munde war. Ist so eine beiläufige Notiz – eher ein gedankliches Anlaufnehmen – schon ein Aphorismus?
    "Christus beim Essen hören sehen und fühlen wie Jesus und seine Mutter hörten, sahen, fühlten."
    Eine deutlichere Sprache als die Texte
    Schokoladenspuren auf dem eng beschriebenen Blatt – wenn es sich nicht um braune Farbe handelt – sprechen eine deutlichere Sprache als die Texte. Dann wieder ein Blättchen mit rotem Filzstift beschrieben und in Versalien:
    "Nur dieses ist Kunst denn menschengemäße Kunst muss doch 1. die Zerstörung des Menschengemäßen verhindern 2. das Menschengemäße aufbauen nur das ist Kunst und sonst gar nichts."
    Da erhebt sich auch der Bildungsspießer zu stehenden Ovationen; nur wird er unter dem "Menschengemäßen" vielleicht etwas ganz anderes verstehen als beispielsweise ein Joseph Beuys.
    "Mit dem Ende der Modernen Kunst beginnt für mich die Kunst erst, mit dem Ende der Modernen Kunst stirbt nicht die Kunst, sondern sie wird erst geboren -, aber dann handelt es sich um einen gewandelten Kunstbegriff. Es ist ein anthropologischer Kunstbegriff: Dann ist jeder Mensch ein Künstler."
    Was hindert den so oft zitierten Satz vom Menschen, der allemal ein Künstler sei, daran, zur bloßen Phrase herabzusinken? Und wie ist die "moderne Kunst" – der Beuys zweifellos angehört – überhaupt zu definieren, wo beginnt, wo endet sie?
    "Die einzige Genialität die ich besitze ist die, dass ich mich mit dem Druck der Zeit bewege, während andere sich dagegen bewegen."
    Hinter einem vertikalen Strich auf diesem Blatt heißt es dann:
    Versuch einer Antwort bleibt aus
    "Was ist der Druck der Zeit?"
    Die offene Frage, die das Postskriptum stellt, ist in der Tat interessant. Der Versuch einer Antwort bleibt leider aus – eben deshalb, weil wir es mit einem privaten Kontor zu tun haben, nicht mit einem theoretischen Text.
    Steffen Popp (Hrsg.): "Joseph Beuys: Mysterien für alle. Kleinste Aufzeichnungen"
    Suhrkamp, 199 Seiten, 24,95 Euro