Donnerstag, 18. April 2024

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Hannah Ryggen in der Frankfurter Schirn
Gewebter Widerstand

Ihre Wandteppiche entstanden auf einem abgelegenen Hof an der norwegischen Küste – aus der Wolle ihrer eigenen Schafe. Wie hochpolitisch und engagiert die Textilkunst der Norwegerin Hannah Ryggen war und wie aktuell ihre Botschaften bis heute sind, zeigt nun eine große Retrospektive.

Von Änne Seidel | 26.09.2019
Auf dem Wandteppich an der Wand des Museums sieht man ein nacktes, sich umschlingendes Paar. Um dieses Paar herum ranken sich Köpfe, Hände, Werkzeuge. Rechts und links je ein Säugling. Es dominiert die Farbe blau, ein braunes Oval spannt sich wie ein großer Buchstabe O über die gesamte Fläche. Außerhalb erkennt man desweiteren Sterne und den Mond.
Hymne auf das Leben: Hannah Ryggens Bildteppich "Wir leben auf einem Stern" aus dem Jahr 1958 (Foto: Norbert Miguletz)
Mit Benito Mussolini machte Hannah Ryggen kurzen Prozess: Sie verbannte den italienischen Faschisten in die Ecke eines Wandteppichs und ließ ihm dort von einem äthiopischen Krieger einen Speer durch den Kopf rammen. Der Teppich war Ryggens wütender Kommentar zum Abessinien-Krieg, zu Mussolinis Überfall auf das Gebiet des heutigen Äthiopien. Das Werk war 1937 auf der Pariser Weltausstellung zu sehen – allerdings ohne den durchbohrten Mussolini-Kopf. Aus Angst vor der Reaktion Italiens hatten die Organisatoren einen Teil des Teppichs eingerollt. Sie hatten die politische Sprengkraft von Ryggens Werk erkannt, die dem unaufmerksamen Betrachter bis heute durchaus entgehen kann: Politische Manifeste? Wer vermutet die schon auf einem Teppich? Dass sie mit ihrem Medium eine ungewöhnliche Wahl getroffen hatte, war wohl auch der Künstlerin bewusst:
"Sicher würden so manche mich am liebsten strangulieren, wenn ihnen dämmert, worum es bei den Wandteppichen eigentlich geht. Ich werde verbannt und ewig abgeschoben in die Museen für angewandte Kunst, aber dort wird mein Weg nicht enden. Ich bin eine freie Künstlerin."
Kein Kunsthandwerk...
Tatsächlich wurde Ryggens Werk zeitweise als Kunsthandwerk rezipiert. Die Ausstellung in der Schirn korrigiert das zu recht und würdigt sie als wichtige Künstlerin der Moderne: Zu sehen sind 25 monumentale Teppiche. Alle zeigen Menschen – mal als Ganzkörperfiguren, mal in Form von Körperteilen, Händen oder Köpfen. Im Hintergrund: Landschaften und Interieurs oder abstrakte Flächen und Muster. Manche Bildthemen fand Ryggen in Zeitungsartikeln und -fotos: Ihre Teppiche zeigen die grausamen Taten von Faschisten und Nationalsozialisten. Später kritisierte die Künstlerin das militärische Engagement Norwegens in der NATO oder den Vietnam-Krieg:
"Heute Abend sagten sie, die Südvietnamesen sollten 370 Millionen Dollar an die USA bezahlen. Das ist großartig, das Volk soll dafür bezahlen, dass die USA Giftstoffe auf über acht Millionen Hektar versprüht hat, sodass dort nichts mehr angebaut werden kann. Die Armen sollen mit Geld, Blut und Tränen zahlen. Ja, die Welt ist nicht besser geworden als früher."
... und auch kein politisches Pamphlet
Dennoch: Ryggens Werk ist kein politisches Pamphlet. Es ist viel mehr als das. Ihre Empörung über politisches Unrecht fußte nicht nur auf einer sozialistischen, sondern auch auf einer zutiefst humanistischen Weltanschauung: Der Wunsch nach einer gerechteren Gesellschaft und nach einem friedlichen Leben im Einklang mit der Natur durchwirkt ihre Teppiche. Immer wieder klingen auch große philosophische Fragen an: nach dem Wesen der Liebe oder dem ewigen Kreislauf des Lebens. Ryggen trennte nicht zwischen Politischem und Privatem. Die Gleichberechtigung der Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft thematisierte sie genauso wie ihre eigene Rolle als Mutter. Letztere beschäftigte sie in der Arbeit "Mutterherz": Aus rosaroter Wolle webte Ryggen ein ikonisches Porträt der Mutterschaft – in der Freude und Leid so nah beieinander liegen können. Sie selbst schrieb über diese Arbeit:
"Das Herz einer Mutter wird so groß. Sie selbst verschwindet, das Kind steht an erster Stelle. Ein Blitz schlägt ein. Das Herz zerbricht. Die Mutter ist tief, tief unten. Einsam. Alle sind einsam. Die Mutter richtet sich auf. Sie trägt, was sie tragen muss."
Ryggen glaubte an ihre Kunst
Auch stilistisch lassen sich Ryggens Teppiche in keine Schublade stecken: Manches erinnert an traditionelle Volkskunst, anderes an den Sozialistischen Realismus, wieder anderes an Künstler wie Gauguin oder Picasso, deren Kunst sie schätzte. Auch Hannah Ryggen hatte einst als Malerin angefangen, dann aber den Pinsel gegen den Webstuhl getauscht, um ihr ganz eigenes, eigenwilliges Werk zu schaffen: Hannah Ryggen glaubte an sich selbst – und an die universelle Kraft ihrer Kunst. Die Zukunft sollte ihr recht geben: Um ein Haar wäre ihr Hauptwerk dem Rechtsextremisten Anders Behring Breivik zum Opfer gefallen. Der imposante Wandteppich "Wir leben auf einem Stern" hing im Osloer Regierungsviertel, als Breivik dort 2011 seine Bombe zündete. Ryggens Teppich überlebte den Anschlag: Die Bombe hinterließ nur einen kleinen Riss, heute kaum noch sichtbar – eine verblasste Narbe.