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Hannelore Schlaffer: "Rüpel und Rebell. Die Erfolgsgeschichte des Intellektuellen"
Wandel und Niedergang einer klassischen Figur

Das Wort "Intellektueller" ist ein schillernder Begriff. Historisch gesehen, war er lange Zeit negativ besetzt. Der Intellektuelle galt als Dauernörgler, Streuner und schlecht gekleideter Rüpel. Hannelore Schlaffer verfolgt seine Spur von den aristokratischen Salons bis zu seinen heutigen Medienauftritten.

Von Jochen Schimmang | 27.12.2018
    Die Autorin Hannelore Schlaffer und ihr Essay "Rüpel und Rebell"
    Der Intellektuelle - vom Rüpel zum Medien-Flaneur? (Buchcover: Zu Klampen Verkag / Portrait: picture-alliance/ dpa / Horst Galuschka)
    Hannelore Schlaffer hat zuletzt zwei Essays über die Mode und über den Wandel des Straßenlebens in der "geplanten Stadt" geschrieben. Das zu erwähnen ist deshalb wichtig, weil sie die klassische Figur des Intellektuellen sowohl an seinen modischen Auftritt wie an den Boulevard als seinen angestammten Ort koppelt. Da nach Ansicht der Autorin heute sowohl die Mode als auch die Urbanität im Niedergang begriffen sind, verschwindet mit beiden auch der Intellektuelle. Schon in der Einleitung charakterisiert sie ihren Essay als eine Grabrede und zieht bereits auf Seite 11 das Fazit: die urbane Stadt, der Flaneur und der Intellektuelle seien gemeinsam gestorben.
    Das erste Auftreten dieser Figur macht Schlaffer an Denis Diderots berühmten Dialog "Rameaus Neffe" fest, der zuerst 1805 in der Übersetzung von Goethe auf Deutsch erschien. Dieser Neffe, der im Café eine lange Unterhaltung mit einem alter ego von Diderot führt, zeichnet sich vor allem durch seine nachlässige Kleidung und sein rüpelhaftes Benehmen aus. Der Intellektuelle betreibt Kritik als Negation der guten Sitten, denn:
    "Intellektualität ist der Widerspruch gegen die gesellschaftliche Normalität, der sich als Schauspiel zelebriert. Die Ideengeschichte des Intellektuellen bedarf daher der Ergänzung durch eine Körpergeschichte, welche Haltung, Geste, Kleid als optische Zeichen von Intelligenz und Kritik durchschaut und anerkennt."
    Im Salon: Der Intellektuelle unterhält die Damen
    Anders ausgedrückt: Der Intellektuelle muss sich inszenieren, um wahrgenommen zu werden. Seine Erfolgsgeschichte sei eine des schlechten Benehmens, heißt es pointiert an anderer Stelle. Historisch beginnt diese Selbstinszenierung im aristokratischen Salon, wo der Intellektuelle in gewisser Weise die Nachfolge des mittelalterlichen Hofnarren antritt. Der Ort dieser Inszenierung ist selbstverständlich Paris und nur Paris. In der französischen Provinz und in den deutschen Kleinstaaten des achtzehnten Jahrhunderts fehlt dem intellektuellen Rüpel die Bühne. Seine Funktion im Salon ist es vor allem, zu unterhalten, wie schon Rameaus Neffe es in Diderots Text selbst formuliert. Unterhalten werden müssen insbesondere die aristokratischen Damen. Der Rüpel darf provozieren, man verlangt das sogar von ihm, denn Hohn und Spott sind seine Kardinaltugenden. Nur langweilen darf er nicht.
    Natürlich steht dieser Typus in der Tradition des Diogenes von Sinope und der Kyniker. Nicht ganz zufällig betrat 1983 Peter Sloterdijk, einer der heutigen deutschen Großintellektuellen, mit seinem zweibändigen Werk "Kritik der zynischen Vernunft" mit großer Geste erstmals die Bühne.
    Im neunzehnten Jahrhundert und mit dem Wandel zur bürgerlichen Gesellschaft verlässt der Intellektuelle die aristokratischen Salons und betritt die Straße, genauer gesagt den Boulevard.
    "Die Neugier, die Leben entdecken und aufdecken wollte, zog durch die Straßen. Der streunende Philosoph, der später den gefälligen Titel ‚Flaneur‘ erhalten sollte, wurde Dauergast und Dauernörgler."
    Pariser Bohème, deutsche Philister
    Dauernörgler wird er vor allem im relativ neuen Medium der Zeitung und dort besonders im Feuilleton. Die Bohème, die die bürgerliche Gesellschaft verspottet, richtet sich zugleich in ihr ein und trifft sich im Café, im Theater und in den Journalen. Ihr Platz ist nicht mehr der Salon, sondern der Markt, und sie unterhält das Publikum unter anderem durch Skizzen des großstädtischen Lebens, die sogenannten Physiologien, eine Gattung "zwischen Soziologie und Poesie", wie Schlaffer schreibt: kleine präzise Porträts von Straßenszenen, geschrieben fürs Tagesgeschäft zur Unterhaltung des Publikums.
    In Deutschland wird zeitgleich in Ermangelung eines hauptstädtischen Zentrums die Universität ein Ort des intellektuellen Protests. Die akademische Intelligenz und der studentische Rüpel kämpfen nicht wie in Frankreich gegen den Bourgeois, sondern gegen das selbst konstruierte Feindbild des Philisters, wie es in einem Text Clemens Brentanos aus dem Jahr 1811 aufgebaut wird. Der Philister ist in jungen Jahren selbst Künstler, Poet, Intellektueller gewesen, nun ist er dessen alt gewordene Gestalt. Der Klassenkampf verwandelt sich in Deutschland in den Generationenkonflikt, ein Modell, das sich über eineinhalb Jahrhunderte bis zu den sogenannten Achtundsechzigern fortschreibt. Der Gegner des Intellektuellen ist hier nicht der Bourgeois, sondern ein selbst erschaffenes Phantom, das später noch zum Spießer mutiert.
    Die "Christlich-deutsche Tischgesellschaft", vor der Brentano seinen Text vortrug, war eine durch Herkunft reichlich homogene Männerrunde, die sowohl Frauen wie auch Juden konsequent ausschloss. Die Verbindung zwischen Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus richtete sich unter anderem gegen die Berliner Salons jener Zeit, die von jüdischen Frauen geführt wurden und als bürgerliche Imitation der französischen aristokratischen Salons entstanden waren. Der Kreis schließt sich insofern, als die Tischgesellschaft neben der Abneigung gegen Juden und intellektuelle Frauen auch noch einen ebenso großen Widerwillen gegen die Franzosen hegte. In dieser Dreifaltigkeit, die den Hass auf den sogenannten Erbfeind einschließt, kommt das deutschnationale bürgerliche Selbstbewusstsein des neunzehnten Jahrhunderts zu sich selbst.
    In Frankreich hatte die Bohème in Henri Murgers gleichnamigen Roman inzwischen ihren erfolgreichen literarischen Ausdruck gefunden. Dessen Erfolg hängt vermutlich mit der frühen Kapitalismuskritik und der verklärenden Koppelung von Armut und Künstlertum zusammen. Denn im Roman dringt der Kapitalismus in Gestalt von Vermietern und Wirten ins Quartier Latin ein ...
    "... und drängt dem Intellektuellen die neue Erfahrung vom Tauschwert auf. (...) Der Intellektuelle des 19. Jahrhunderts richtet seine Kritik gegen ökonomische Zwänge. Umso wichtiger wird für ihn der Auftritt, das Kleid, die Wohnung, die Geste. Durch sie verwandelt er die Dinge, die als Waren missbraucht werden, zurück in persönliche Lieblinge."
    Die Kritik dieser Romantisierung liefert knapp zwanzig Jahre später Flaubert mit seiner "Éducation sentimentale". In verwandelter Gestalt kommt fast das gesamte Personal Henri Murgers in diesem Desillusionsroman vor. Nach 1848, so Hannelore Schlaffer, gab es die Revolte der Pariser Intellektuellen nur noch als "Schauspiel und Klamottenstück", und die menschheitsbeglückenden Ideen kehrten zurück als Künstlerideologie. Es folgt der Sprung ins Heute.
    Der Intellektuelle in der Talkshow
    "Heute ist Intellektualität ein von den Medien inszenierter Auftritt. Der Intellektuelle ‚flaniert‘ durch Zeitungen, Fernsehanstalten und soziale Netzwerke ... Zum bevorzugten Salon der Intellektuellen ist das Fernsehen geworden. Dort treten sie in Scharen auf und sind beliebter als alle Rüpel, Caféhausliteraten und Dandys von einst."
    Ob sie wirklich in Scharen auftreten und ob Intellektuelle wirklich in sozialen Netzwerken zu finden sind, mag dahingestellt bleiben. Schließlich sollte man den Intellektuellen nicht mit dem so beliebten "Experten" verwechseln. Dem fehlt in der Regel der Zug zur entschiedenen Negation, der die kritische Intelligenz traditionell auszeichnet. Insgesamt ist Schlaffers Gegenwartsanalyse nicht sehr überzeugend. Zwar werden die Namen Sloterdijk und Precht als Beispiele medialer Dauerpräsenz genannt, aber Namen wie Adorno oder Enzensberger fehlen völlig. Zutreffend ist allerdings der Befund, dass der Intellektuelle im Fernsehstudio eher handzahm und "seriös" wird und nicht mehr in der Nachfolge von Rameaus Neffen steht. Er hat sich so vollkommen in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft eingerichtet, dass ihm seine Antipoden verlorengegangen sind und von der kritischen Intelligenz nur die Intelligenz übrig bleibt.
    Trotz des nicht überzeugenden Schlussteils ist Hannelore Schlaffers Essay jedoch überaus lesenswert, nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst liefert, was sie sehr früh im Buch als Charakteristikum des Intellektuellen markiert: dass dieser "die treffendsten" Worte findet, die, so wörtlich, "nicht um die Gedanken schlottern, sondern eng anliegen". Ihr selbst ist das auf diesen knapp 190 Seiten durchgängig gelungen.
    Hannelore Schlaffer: "Rüpel und Rebell. Die Erfolgsgeschichte des Intellektuellen"
    zu Klampen Verlag, Springe 2018.
    189 S., 20 €.