Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Hans Bentzien: Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte - Verlauf - Hintergründe.

Die Berliner "edition ost" sah sich in den letzten Jahren des öfteren dem Vorwurf ausgesetzt, ein Fachverlag für Apologetik einstiger DDR-Funktionäre aus SED, NVA und Staatsicherheit zu sein. Schon allein deshalb ist es interessant, den literarischen Beitrag dieses Verlages zum 17. Juni besonders aufmerksam zu betrachten. Als Autor des Bandes "Was geschah am 17. Juni?" hat die edition ost immerhin diesmal einen Genossen verpflichtet, der in der DDR zwar zeitweilig in hochrangigen Funktionen agierte, jedoch nie zur Betonkopf-, sondern eher zur Querkopf-Fraktion gerechnet wurde. Hans Bentzien.

Manfred Jäger | 02.06.2003
    Auf den ersten Blick scheint es so, als könnten runde Jahrestage hilfreich sein bei dem Bemühen, unser historisches Verständnis zu kräftigen. Die Mischung aus irrationaler Zahlenmagie und nüchternem Verlagskalkül hat jedoch auch fragwürdige Seiten. Ein Segment des Buchmarktes wird kurzzeitig monothematisch verstopft. So fällt es auf, wenn der Autor eines der vielen Sachbücher, die jetzt zum 17. Juni 1953 erscheinen, das erste Kapitel mit dem Stoßseufzer überschreibt: "Es ist wieder einmal so weit." Der Text beginnt mit diesen prophetischen Sätzen:

    Man kann zu bestimmten Jahrestagen darauf warten, dass die Welle der gewünschten Erinnerungen mit aller Wucht an die Ufer des politischen Tagesgeschehens rollen wird und die Meinungsbildner in der konzertierten Aktion mitspielen, die Presse, Rundfunkstationen, Buchverlage und natürlich auch die gelehrten Gesellschaften. Das wird auch 50 Jahre nach den 'Ereignissen vom 17. Juni’ der Fall sein.

    Die Diktion Hans Bentziens ist verräterisch. Der Verfasser gehörte in der DDR in wechselnden Funktionen der mittleren SED-Führungsschicht an - im letzten Jahrzehnt begann er eine neue Karriere mit politischen und historischen Sachbüchern. Begriffe wie "gewünschte Erinnerungen" und "konzertierte Aktion" deuten darauf hin, dass er sich in einer Flut von Manipulationen parteilich behaupten will, wenn er über die von ihm in Anführungsstriche gesetzten "Ereignisse vom 17. Juni" schreibt. Zitiert er nur diejenigen, die sich um eine Definition des Aufruhrs herumdrücken wollen? Oder will er noch immer einer plausiblen Bewertung ausweichen? Gewiss, das Gerede vom "faschistischen Putschversuch" ist für ihn nur dumme, biedere Propaganda - aber er findet nichts dabei, im gleichen Atemzug den von der Mehrzahl der Historiker benutzten Begriff "Volksaufstand" ebenso als eine Floskel zu bezeichnen, an die niemand mehr glaube.

    Das im Untertitel gegebene Versprechen, Vorgeschichte, Verlauf und Hintergründe darzustellen, wird nicht eingelöst. Das Buch liest sich eher als ein autobiographisches Dokument über die Hartnäckigkeit, mit der sich die in der Jugend erworbenen Vorurteile einer Sozialisation halten können, die - trotz aller Krisen, Brüche und Rügen - als Aufstiegsgeschichte, als Karriere erlebt wurde.

    Bentzien liefert in Kurzform eine abenteuerliche Version der Nachkriegsentwicklung in der sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR wie auch in den Westzonen. Mit der Bundesrepublik haben die "am Krieg schuldigen Monopole ihren eigenen Staat errichtet", im Wettkampf der Systeme hätte die Großbourgeoisie der DDR das Tempo diktiert. Damit erklärt Bentzien sich den Beschluss, 1952 mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen, wodurch der Wohlstand rasch ansteigen sollte. Konnte der Weg zum besseren Leben wirklich über verstärkte Repression und Ausbeutung führen? Immer noch müssen unfähige Funktionäre, Leute am falschen Platz, dazu herhalten, das Fiasko zu begründen. Der Verfasser kann sich nicht dazu verstehen, das in der DDR organisierte Gesellschaftssystem als einen Irrweg zu betrachten, er glaubt sogar - trotz Massenflucht, Unzufriedenheit und der Furcht der SED vor freien Wahlen -, dass die Bevölkerungsmehrheit mit dem Sozialismus einverstanden gewesen sei, sogar in der offen stalinistischen Ära.

    So kann es nicht verwundern, dass Bentzien - in gewohnter Manier - den Westberliner Rundfunksender RIAS zum Organisator des Aufstands stempelt, als seien die harten politischen Forderungen den Arbeitern nur über den Äther eingeredet worden. Wieder einmal habe die Mehrheit der Arbeiterklasse sich auf die Seite des Gegners gestellt. Er polemisiert gegen die differenzierte Darstellung des damaligen RIAS-Redakteurs Egon Bahr, der die gängigen Verschwörungstheorien immer wieder zurückgewiesen hat. Der überall in der DDR gehörte Sender wurde zum Katalysator des Aufstands, weil er über die Ereignisse informierte. Bahr hat Verständnis dafür, dass die Gegenseite den RIAS hasste - ein Echo dieser aggressiven Abneigung hört man bei Bentzien, der in führender Position beim "Staatlichen Rundfunkkomitee der DDR" agiert hat und auch dort dickköpfig Anstoß erregte.

    Sein Buch enttäuscht auch deswegen, weil Bentzien zu DDR-Zeiten kein pflaumenweicher Anpasser war. Er flog immer wieder aus seinen Ämtern heraus, er wurde als Kulturminister geschasst und als Fernsehboss, weil er es an opportunistischer Flexibilität vermissen ließ. Ein sturer Kerl, der kein Talent zur Selbstkritik hatte, ein kräftiger Charakter, dem es noch heute schwer fällt, von Illusionen und Verrücktheiten Abschied zu nehmen. Man muss sein Buch gegen den Strich lesen, wenn man bei der Lektüre einen Gewinn sucht.

    Mit den Ergebnissen der historischen Forschung beschäftigt er sich nicht. In den entscheidenden Tagen hielt er sich nicht in Berlin auf. So reiht er - hilfsweise - seitenlang Zitate aus den Memoiren der Zeitzeugen aneinander. Man darf seine Lesefrüchte herunterschlucken, das pluralistische Menü von Robert Havemann, Heinz Brandt, Fritz Schenk und Karl Schirdewan und Wolfgang Leonhard. Es sieht nach Objektivität aus, weil Bentzien den sogenannten Renegaten viel Platz einräumt. Aber der Gewährsmann, dem er wirklich vertraut, heißt Fritz Selbmann, der Industrieminister, der sich als einziger aus der SED-Mannschaft den Aufständischen stellte und eine offene Diskussion anbot. Aus Selbmanns autobiographischem Buch "Acht Jahre und ein Tag" wird unentwegt zitiert, und weil es auch Bentzien zu lang erscheint, kommt ein erklecklicher Rest noch in den 40-seitigen Anhang.

    Leider werden die ausschweifenden Zitate nicht durch kursiven Druck abgehoben, so dass man beim Lesen oft nicht mehr erkennt, ob man gerade dem Autor oder einem seiner ausgewählten Zeugen folgt.

    Obwohl die Streitschrift im Ganzen misslungen ist, enthält sie auch bemerkenswerte Passagen. Zum Zeitpunkt des Aufstands war Bentzien erst 26 Jahre alt. Als gefördertes Arbeiterkind hatte er ein Studium der Geschichte, Philosophie und politischen Ökonomie in Jena hinter sich. Am 17. Juni 1953 sollte er im Auftrag der SED-Bezirksleitung in Gera für Ordnung sorgen. Er gibt zu, sich an Details nicht mehr erinnern zu können, und nimmt daher lapidare Faktensammlungen einer PDS-Interessengemeinschaft für Geschichte auf. Mit einem Parteiauftrag wird er nach Silbitz geschickt, in ein unter sowjetischer Verwaltung stehendes Edelstahlwerk. Von dort wird er in die SED-Kreisleitung Jena-Stadt delegiert, wo er die Funktion des 1. Sekretärs übernimmt. Er fühlt sich unerfahren, sucht Zuspruch bei Kommunisten, die bei den Nazis inhaftiert waren und im neuen Regime auch schon Anstoß erregt hatten. Man darf Bentzien glauben, dass er während der "Konsolidierung" im Sommer 1953 mäßigend auftrat. Er war kein Scharfmacher, sondern ein Pragmatiker. Bentzien identifizierte sich sogar mit der geistigen Tradition der Zeiss-Werke und der gleichnamigen Stiftung, die von den Dogmatikern dem Verdikt des "Sozialdemokratismus" ausgeliefert wurde:

    Von hoher Qualität war alles, was aus den Mitteln der Zeiss-Stiftung finanziert wurde. ... Die Arbeiter fürchteten um die Verschlechterung der Bedingungen, die hundert Jahre gegolten hatten, die Meister und Ingenieure um das Recht, bis zu ihrem Tode in den kleinen Einfamilienhäusern zu wohnen. Sie verstanden sehr wohl, dass dieses Netz kluger Maßnahmen von Zeiss, Abbe und Schott der Qualität der Erzeugnisse die notwendige Beständigkeit gesichert und dem Namen der Betriebe weltweit einen guten Klang verschafft hatte. Wieso brauchte man im Sozialismus diesen Ausweis erstklassiger Qualität nicht mehr?

    Hätte ein deutscher Weg zum Sozialismus je eine Chance gehabt, hätte Bentzien sicher im Laufschritt mitgemacht. Heftig kritisiert er das sowjetische Kommandosystem, den Befehlston und die Beweihräucherung der Roten Armee:

    Zum Beispiel galt es als Tabu, von den Übergriffen, die während des Krieges auf Zivilisten verübt worden waren, vor allem auf Frauen, oder über das Abfackeln eroberter Ortschaften zu sprechen. Der Krieg verroht alle, das war den meisten Menschen, die Lebenserfahrung hatten, klar, aber wenn eine Armee als in jeder Beziehung untadelig hingestellt wurde, es aber offensichtlich nicht war, sondern Schwächen und Fehler hatte, die zu Rachegelüsten an Unschuldigen führten, dann glaubt man Beteuerungen nicht, die das Gegenteil behaupten.

    Bentziens Parteilichkeit ist auch heute noch so kräftig, dass er den Aufstand unzweifelhaft "konterrevolutionär" nennt. Die Verschweigetechnik der DDR lehnt er aber ebenso ab wie die Sprachregelung, die nicht zugeben wollte, dass allein die Sowjetpanzer das SED-Regime erhielten. Für ihn läuft die historische Pointe auf ein einziges Wort hinaus: Uran.

    Der entscheidende Punkt für das Eingreifen der Roten Armee, ohne das der Arbeiter- und Bauernstaat verlorengegangen wäre, dürfte aber der wertvolle Schatz der DDR, das Uranvorkommen, gewesen sein. Im Kalten Krieg der Blöcke gab der Besitz der Atombombe - ohne Uran kann sie nicht funktionieren - den Ausschlag.

    Aus Bentziens Buch erfährt der Leser interessante Informationen über die Mentalität eines intelligenten SED-Funktionärs mit allerlei Ecken und Kanten - und über seine Beschränktheiten. Über den 17. Juni 1953 sollte er sich andernorts informieren, zum Beispiel in der knappen Darstellung von Thomas Flemming. Der Titel "Kein Tag der deutschen Einheit" formuliert eine polemische Stoßrichtung gegen das bequeme Gedenkritual, bei dem allzu oft illusionäre Wunschvorstellungen rhetorisch zelebriert wurden. Die Ereignisse werden jedoch nüchtern, anschaulich und detailreich dargestellt und mit Quellen belegt.

    Fotos und Faksimiles illustrieren die dramatischen Vorgänge in der DDR. Flemming konzentriert sich nicht auf die Hauptstadt, sondern beschreibt, was in der Provinz ablief, in Görlitz, Halle, Bitterfeld, Leuna/Buna, Magdeburg, Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt. Mehr als eine halbe Million Menschen hätten sich beteiligt, auch Angestellte und Bauern, so dass mit Recht von einem Volksaufstand gesprochen werden könne. Eine klare Programmatik habe sich in den wenigen Tagen so wenig gezeigt wie ein festes Führungspersonal. Noch immer sei die Datenbasis schmal. Umfassende soziologische Untersuchungen über die Zusammensetzung der Demonstranten gebe es nicht, obwohl die Breite des Protests unbestreitbar sei. Wenn es ein "Aufstand ohne Gesicht" war, spricht das für die Spontaneität des Aufbegehrens und widerlegt abermals die absurde These vom langfristig durch imperialistische Geheimdienste geplanten "Tag X". Der vergleichenden historischen Forschung obliegt es zu untersuchen, warum der deutsche Aufruhr 1953 international geringere Sprengkraft in sich barg als der Ungarn-Aufstand 1956 und der Prager Frühling 1968.

    Hans Bentzien: Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte - Verlauf - Hintergründe. edition ost, Berlin 208 Seiten für 12 EUR 90 und Thomas Flemming: Kein Tag der deutschen Einheit. 17. Juni 1953. bebra Verlag Berlin, 156 Seiten zum Preis von 19 EUR und 90 Cent.