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Hans Fallada: "Alpdruck"
Historisches Dokument unter dem Deckmantel der Fiktion

Einer der erstaunlichsten Bestsellererfolge der letzten Jahre, und zwar weltweit, stammt von einem deutschen Autor, der zudem bereits 1947 gestorben ist: Hans Fallada. "Jeder stirbt für sich allein" heißt der Roman, und es war Falladas letzter. Umso erstaunlicher, dass erst jetzt sein vorletzter Roman "Alpdruck" wieder vorliegt.

Von Tobias Lehmkuhl | 17.06.2014
    "Alle hatten sie plötzlich etwas Bettelhaftes, Abgerissenes an sich, alle schienen sie viele Stufen in der sozialen Rangleiter hinabgestiegen, hatten aus irgendwelchen Gründen eine lebenslang behauptete Position aufgegeben und sich ohne Scham aufgestellt zwischen den andern Schamlosen. So sahen sie wirklich aus, möge es jeder nur sehen, so hatten sie immer schon ausgesehen, wenn sie alleine mit sich waren. Es gab nichts mehr, das der Mühe des Versteckens wert gewesen wäre, bei diesen Menschen aus einem Volk ohne Würde, das seine Niederlage ohne eine Spur von Größe ertrug."
    Auch um Dr. Doll, aus dessen Perspektive Hans Fallada seinen Roman "Der Alpdruck" erzählt, ist es nicht viel besser bestellt. Der einzige Unterschied zu seinen Mitbürgern ist der, dass er all die Mutlosigkeit und Apathie überhaupt registriert, den plötzlichen Verfall an Würde. Es ist noch willens, die eigene Lage zu reflektieren. Vielleicht sogar geht es ihm dadurch noch schlechter als seinen Mitbürgern; für sie wie für sich selbst hat er im Sommer 1945 nur Verachtung übrig.
    Dr. Doll ist, wie sein Schöpfer Schriftsteller, Anfang Fünfzig, mit einem Wohnsitz in der Mecklenburgischen Provinz und einem in Berlin. Als die russische Armee das kleine Dorf am See erreicht, erwartet Doll sie freudig, begrüßt sie als Genossen. Doch sie schauen durch ihn hindurch wie durch einen leblosen Gegenstand oder ein unbedeutendes Tier. Da wird es Doll schon unheimlich. Und auch wenn ihn die Besatzer kurz darauf zum Bürgermeister des Ortes machen, ist doch schnell klar, dass er fürs Politische nicht geschaffen ist; ohnehin hatte er es sich durch sein Außenseitertum mit seinen Mitbürgern längst verscherzt. So geht er mit seiner jungen Frau zurück ins zerstörte Berlin.
    "Es war nachts halb drei, als Dolls auf Gesundbrunnen den Zug verließen, bis sechs Uhr war Sperrstunde. Ein eisiger Wind pfiff durch den Bahnhof, jede Scheibe schien zerbrochen. Es gab keinen Schutz gegen diese Kälte, gegen diesen Wind! Sie versuchten es da und dort, überall froren sie bis aufs Mark. Auch das zufällig noch stehende Unterkunftshäuschen auf dem Bahnsteig war nicht wärmer. Der Wind stürzte herein durch die zerbrochenen Fenster, die Menschen saßen in dicken Klumpen auf dem Boden, trostlos oder dumpf den Morgen erwartend."
    Der Eindruck von Hoffnungslosigkeit wird dadurch noch verstärkt, dass Frau Doll an einer beginnenden Blutvergiftung im Bein leidet. Und als sie schließlich ihre Wohnung erreichen, ist diese von anderen besetzt, man muss sich arrangieren. Ein Arzt lässt sich schwer auftun, dann aber kommt doch einer, und dem heutigen Leser kommt er sogar sehr bekannt vor.
    "Ich bin auch Schriftsteller", sagte der Arzt, immer in der gleichen unpersönlichen, leisen Art, "wussten Sie das?" Doll überlegte, was für ein Name auf dem Arztschild gestanden hatte. Aber er erinnerte sich nur an das, Haut- und Geschlechtskrankheiten. "Nein", antwortete er darum. "Ich wusste das nicht."
    Heute weiß man, dass nur Gottfried Benn gemeint sein kann. In Zukunft, in der Zukunft des Jahres 45 werden die Dolls immer häufiger Ärzte aufsuchen, egal welcher Fachrichtung, denn sie brauchen eines der Mittel, über das nur Ärzte verfügen: Morphium. Dafür ist Dolls Frau auch bereit, sich den Ärzten hinzugeben; ihr Mann verschwindet so lange im Nebenzimmer. So kommt zur Apathie angesichts der Lage des Landes noch die Antriebslosigkeit des Junkies hinzu. Immer mehr versackt und verkommt das Ehepaar, bis beide nur noch die Möglichkeit sehen, sich zu trennen: Sie geht ins Krankenhaus, er in ein ihm von früheren Phasen der Abhängigkeit wohlbekanntes Sanatorium.
    "Er liebte die,Schocktage, wenn den Kranken mit Cardizol oder Insulin oder auch mit elektrischem Strom Schocks beigebracht wurden. Dann hörte er in seinem Zimmer den Aufschrei der Geschockten, wenn sie das Bewusstsein verloren. Und schon trat tiefe Stille ein, als wagten die Verschonten nicht, sich zu rühren, um nicht ein gleiches Schicksal auf sich herabzuziehen."
    "Der Alpdruck" ist ein ungewöhnlicher Fallada-Roman: Er ist kurz und sachlich und ähnelt zuweilen eher einem Bericht denn einem Roman. Man meint die dürren, erschöpften Gestalten, von denen er erzählt, direkt vor sich zu sehen, die Kälte zu spüren, den Schmerz, die Hoffnungslosigkeit. Der autobiographische Anteil dabei ist fraglos groß; neben Gottfried Benn tritt gegen Ende ein gewisser Granzow auf, ein Kulturfunktionär, der dem halbwegs genesenden Doll weiter auf die Beine hilft - genauso wie Johannes R. Becher damals Hans Fallada half. Erstaunlich ist nicht nur die sehnige Kraft und plastische Anschaulichkeit dieses Roman-Berichts, erstaunlich ist vor allem, dass dieses Zeugnis, mag es auch unter dem Deckmantel der Fiktion daherkommen, bisher als historisches Dokument so wenig beachtet worden ist.
    Hans Fallada: Der Alpdruck. Aufbau Verlag, Berlin 2014. 288 Seiten, 19,99 Euro.