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Hans-Werner Sinn: Ist Deutschland noch zu retten?

Ist Deutschland noch zu retten?” - diese Frage stellen sich gerade diejenigen, die trotz mancher Anzeichen für mehr Wachstum ihren globalen Überblick behalten und deshalb nicht nur auf die Bewegung hinter dem Komma starren, sondern auf die Verbesserung für die Wettbewerbsfähigkeit schauen. Dabei aber geht es um Strukturprobleme. Sie zu analysieren und sich anschließend der Frage nach den Rettungsoptionen zu stellen, setzt ein umfangreiches Wissen um die Kenntnis der globalen Verhältnisse voraus. Hier wird es dünn in Deutschland. Einer, der in dieser dünnen Sphäre die Antwort nicht schuldig bleibt, ist der Präsident des IFO-Wirtschaftsforschungsinstituts in München, Prof. Hans-Werner Sinn. Er ist auch Direktor und Gründer des international angesehenen 'Center for economy studies’, lehrt in München Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, und ist Autor des vor ein paar Monaten erschienenen 5oo Seiten starken Buches mit dem Titel "Ist Deutschland noch zu retten?". Und er ist hier bei uns im Studio. Guten Abend, Herr Professor Sinn.

Moderation: Jürgen Liminski | 24.05.2004
    Sinn: Guten Abend.

    Liminski Herr Sinn, beim ersten Blick auf die Inhaltsübersicht Ihres Buches fällt auf, dass Sie die Frage in den internationalen Rahmen stellen. In den ersten zwei Kapiteln situieren Sie Deutschland im internationalen Ranking und mit besonderer Berücksichtigung der Wettbewerbsfähigkeit. 'Schlusslicht Deutschland’ heißt Kapitel eins. Frage deshalb: Ist Deutschland wirklich der kranke Mann Europas?

    Sinn: Ja, empirisch ist das leider so. In den letzten acht Jahren - seit 1995 - hat Deutschland das niedrigste Wachstum von allen EU-Ländern gehabt. Es sind Länder da, die früher Schwierigkeiten hatten - wie England -, die uns wirklich zeigen, wo’s langgeht, erstaunlicherweise. Es ist nicht nur leider das Problem, dass wir langsamer wachsen, sondern wir fallen nun auch allmählich zurück beim Pro-Kopf-Einkommen. Das deutsche Pro-Kopf-Einkommen war ja mal weit über dem Durchschnitt, aber wir fallen stark Richtung Durchschnitt, und es sind maßgebliche Länder, die uns überholt haben. England hat uns überholt, Frankreich hat uns im Jahre 2oo2 überholt, und auch viele kleinere Länder, zum Beispiel auch Österreich. Österreich hatte ja immer Schwierigkeiten, den Anschluss zu finden, früher, als sie noch nicht in der EU waren, und nun sind sie Mitglied und wachsen doch sehr stürmisch. Ganz zu schweigen auch von Ländern wie Holland oder Irland. Irland ist ja der Shootingstar Europas und hat uns mittlerweile überholt beim Pro-Kopf-Einkommen. Sie sind reicher als wir.

    Liminski Herr Professor, in Kapitel zwei konstatieren Sie drei Schocks auf einmal: Zu ihnen gehört die Ost-Erweiterung. Man hört immer wieder, dadurch würden sich die Märkte im Osten gerade für die Deutschen öffnen. Ist das nicht mehr Chance als Schock?

    Sinn: Ja, beides. Es ist natürlich eine Chance, wenn wir aus dieser Randlage herauskommen, wenn die osteuropäischen Länder integriert werden. Ich glaube also: Ganz langfristig ist das sehr zum Vorteil von ganz Europa und auch zum Vorteil von Deutschland. Aber der Übergang ist zunächst schwierig und der Strukturwandel, der damit verbunden ist, der wird uns also einige Jahre zu schaffen machen, und er wird insbesondere hier Anpassungen bei den Löhnen im Niedriglohnsektor usw. erlauben und erfordern, die außerordentlich schwierig sind für uns. Das ist das Problem. Die Löhne in Polen, in Tschechien, in Ungarn sind ein Sechstel von den westdeutschen Löhnen. Und das führt natürlich dann dazu, dass die Firmen ihren Standort nach Osteuropa verlagern - vielleicht nicht das Hauptquartier und auch nicht die Endproduktion, aber viele Vorprodukte, die in der Firma verwendet werden, kommen zunehmend aus Osteuropa. Es gibt ein Outsourcing. Die arbeitsintensiven Teile des Produktionsprozesses gliedert man aus. Wenn Sie einen 'Audi’ zum Beispiel nehmen: Dessen Motor, der ja sehr werthaltig ist und sehr teuer zu produzieren, kommt aus Ungarn - die bauen überhaupt keine Motoren mehr in Deutschland -, wird dann in Deutschland montiert und der 'Audi’ verlässt in Deutschland die Werktore, wird exportiert in die Welt. Unser Export sieht ganz toll aus, weil wir hier ja diese Waren haben wie diesen 'Audi’, aber man muss sehen, der Export ist ja gar nicht mehr hier produziert. Ein immer größerer Teil unserer Exporte kommt selber wieder aus dem Ausland. Das ist eine schon etwas problematische Entwicklung, weil sie bedeutet, dass die deutschen Firmen sich durch ein Outsourcing nach Osteuropa wettbewerbsfähig halten und dann auch die Konkurrenz mit den asiatischen Firmen da wohl bestehen, dass aber die deutschen Arbeitnehmer nicht mehr wettbewerbsfähig bleiben. Die Arbeitsplätze verschwinden hier und werden in Osteuropa stattdessen wieder aufgebaut. Das ist schon ein schwieriger Prozess. Damit das nicht passiert, müssten eigentlich jetzt die Löhne nachgeben, oder wir müssen so viel besser werden in der Bildung, dass das kompensiert wird. Aber beides ist schwierig. Die Bildung dauert sehr lange, bis sie zu Ergebnissen führt und billiger zu werden ist keine schöne Sache, denn das heißt, dass letztlich die Einkommen fallen müssen, oder wenn nicht die Nettoeinkommen fallen, dann die Lohnkosten. Und dann müssen diese berühmten Lohnnebenkosten gesenkt werden, das heißt aber, dass der Sozialstaat viel weniger Einnahmen hat und dann auch nicht mehr so viel ausgeben kann für die Rentner, für die Sozialhilfebezieher und andere.

    Liminski Man könnte ja nun auf die Idee kommen, dass die Demographie dieses Problem wenigstens teilweise löst, und zwar deswegen, weil eben weniger Arbeitnehmer nachwachsen und dadurch sozusagen auch der Bedarf an Arbeit geringer wird:

    Sinn: Ja, das ist aber eine zu einfache Sichtweise, denn es wachsen ja auch weniger Arbeitgeber nach. Ein Arbeitsverhältnis entsteht durch dieses Zusammenwirken eines Unternehmers mit seinen Arbeitnehmern. Einer muss den Prozess organisieren. Und es ist nun mal so, dass Unternehmer - jedenfalls bei der Gründung - junge Leute sind. Das durchschnittliche Alter der Unternehmensgründer in Deutschland liegt bei 35 Jahren. Das heißt also, wenn die deutsche Bevölkerung jetzt altert, weil nicht mehr so viele Junge nachwachsen, dann wird es ja auch an Dynamik fehlen und dann wird es insbesondere an jungen neuen Unternehmen fehlen, von denen neue Arbeitsplätze kommen können. Das Arbeitslosenproblem wird also wegen der demographischen Entwicklung eher größer statt kleiner.

    Liminski Sie gehen in Ihren Buch systematisch die einzelnen Problemkreise durch: Arbeitsmarkt, Sozialstaat, Steuerstaat, Vergreisung. Was halten Sie für das größte Problem?

    Sinn: Also, da muss ich nach der Fristigkeit unterscheiden für die nächsten zehn, 2o Jahre. Damit unser Wachstum wieder anzieht, brauchen wir Maßnahmen zur Belebung des Arbeitsmarktes und hier insbesondere einen neuen Sozialstaat, der sein Geld weniger als Lohnersatz zur Verfügung stellt - also als eine Zahlung unter der Bedingung, dass man nicht arbeitet, sondern der mehr in Richtung Zuschüsse geht -, dann wird die Lohnstruktur flexibler und dann können wir unser Arbeitslosigkeitsproblem lösen. Entsprechende Vorschläge - Stichwort: Aktivierende Sozialhilfe - liegen auf dem Tisch. Das scheint mir essentiell zu sein, um wieder Wachstum zu kriegen über die nächsten zehn,2o Jahre. Aber Deutschland muss ja auch danach leben und da kommen wir zum nächsten Problem. Das ist das Bevölkerungsproblem. Die deutsche Bevölkerung schrumpft alle 5o Jahre um etwa 2o Prozent oder 25 Prozent, und wir haben eine der niedrigsten Geburtenraten auf der ganzen Welt. Die deutschen Frauen haben nur noch eine Geburtenrate von 1,3 - also 1oo Frauen kriegen 13o Kinder. Es müssten aber über 2oo sein, damit die Bevölkerung stabil bleibt. Es gibt heute schon mehr Kinder, die in Frank- reich geboren werden als in Deutschland, obwohl dieses Land ja noch viel kleiner ist. Die haben ja nur 6o, und wir haben über 8o Millionen Menschen. Sie haben mehr Kinder. Das heißt in 3o Jahren wird es mehr 3o-jährige Franzosen geben als 3o-jährige Deutsche. Dieser Trend ist schon angelegt. Wir müssen etwas tun, zumal ja auch unsere Sozialversicherungssysteme hier in eine Riesenkrise hineinschlittern. Wir werden in 3o Jahren doppelt so viel Alte pro Person im erwerbsfähigen Alter haben als das heute der Fall ist. Und das bedeutet, dass - wenn wir das Rentenniveau nicht antasten wollen - der Beitragssatz zur Rentenversicherung von 2o auf 4o Prozent hochgeht. Oder umgekehrt: Wenn wir den Beitragssatz einfrieren auf 2o Prozent, dann geht das Rentenniveau auf die Hälfte runter. Also so oder so wird das eine äußerst schwierige Entwicklung und deswegen müssen wir dringend etwas tun, um a) die Rentenversicherung auf ein zweites Standbein zu stellen - Stichwort Kapitaldeckung -, dieses Riester-Sparen müssen wir ausbauen, und b) Wir müssen Anreize setzen, damit wieder mehr Kinder in Deutschland geboren werden, und ich würde es sogar am liebsten verbinden, indem ich die Renten differenzieren würde nach der Kinderzahl und die Leute, die keine Kinder haben, bitten würde, zum Ausgleich halt zu sparen, um aus den Erträgen ihrer Ersparnisse später sich eine aufstockende Rente gewähren zu können, deren Bezahlung man den wenigen Kindern, die es dann noch gibt und die dann im arbeitsfähigen Alter sind, nicht mehr zumuten kann.

    Liminski Haben wir denn überhaupt noch das menschliche Potential für zukunftsweisende Reformen, und zwar Sie sagten eben, es fehlen künftig auch die Unternehmer, die die Arbeitsplätze schaffen. Fehlt uns nicht schon das numerische und auch das qualitative Humanvermögen?

    Sinn: Ja, das ist - glaube ich - ein ganz großes Thema. Das Humanvermögen hat eine quantitative Seite von der Zahl der jungen Menschen, und zweitens fehlt es eben vielleicht auch an den nötigen geistigen Eliten. Wir müssen in der Tat etwas tun, um den Ausbildungsstand in Deutschland zu verbessern, und zwar sowohl in der Breite - damit wir bei PISA wieder besser abschneiden -, als auch in der Spitze. Wir müssen die Spitzenforschung stärken und das geht nur, indem wir auch Eliteuniversitäten zulassen. Aber: Das müssen echte Eliteuniversitäten sein, und es muss sich eine Elite herausbilden durch einen Wettbewerbsprozess. Das kann nicht staatlich verordnet werden. Das wird dann einige wenige Universitäten geben, die dann wirklich in der Lage sind, internationale in der ersten Liga mitzuspielen und auch forschungsmäßig Spitzenleistungen hervorzubringen.

    Liminski Ich will diese Frage vielleicht auch mit Blick auf den Titel Ihres Buches anders formulieren: Ist Deutschland noch zu retten? Würden Sie Ja sagen?

    Sinn: Ja, ich bin immer ein Optimist. Deutschland ist zu retten, aber das ist noch nicht erkannt worden, wie außerordentlich scharf der internationale Wettbewerb ist, der uns hier zusetzt. Es ist nicht erkannt worden, wie viele Unternehmen derzeit noch in Konkurs gehen. Das sind ja erschreckende Zahlen. Es ist nicht erkannt worden, wie stark die Flucht des Mittelstandes nach Osteuropa jetzt wirklich ist. Da baut sich etwas auf und braut sich etwas zusammen, was wir in den Griff kriegen müssen, was wir verhindern müssen, und es bedarf also ganz radikaler Reformen, die weit über die Agenda 2o1o hinausgehen. Ich bin ein bisschen in Sorge, dass jetzt - wo die Wahlen anstehen - man keine Lust mehr zum Reformieren hat und dass man denkt: Ah, jetzt haben wir mal diese Agenda gemacht und jetzt muss es ja mal gut sein. Davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Ich würde mal sagen: Wir müssen einen Marathonlauf machen, und von dem Marathonlauf - der 42 km lang ist - haben wir vielleicht fünf Kilometer hinter uns gebracht.


    Das war Hans Werner Sinn, Autor des Buches "Ist Deutschland noch zu retten?" erschienen im Econ Verlag in München, das Buch hat 499 Seiten und kostet 25 Euro.