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Hans Wilhelm Gäb
"Das IOC hat seine moralische Legitimität verwirkt"

Die Whistleblowerin Julia Stepanowa hat gemeinsam mit ihrem Mann Witali das russische Staatsdopingsystem aufgedeckt. Einen Olympischen Orden bekam Sie dafür nicht. Im Gegenteil: Die Leichtathletin wurde von den Sommerspielen in Rio ausgeschlossen. Nun hat sie den Anti-Doping-Preis des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins erhalten.

Von Hans Wilhelm Gäb | 11.12.2016
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    Der ehemalige Automobil-Manager und Präsident des Deutschen Tischtennis-Bundes und Sporthilfechef, Hans Wilhelm Gäb, bei seiner Laudatio auf die Whistleblowerin Julia Stepanowa. (Andrea Schültke)
    Persönlich entgegen nehmen konnte sie ihn nicht. Denn seit den ersten Enthüllungen vor zwei Jahren müssen die Stepanows ihren Wohnort geheim halten. Auch die Reise zur Preisverleihung nach Berlin musste das Ehepaar aus Sicherheitsgründen kurzfristig absagen.
    Die Laudatio wurde zu einer bemerkenswerten Zustandsbeschreibung des weltweiten und des deutschen Sports. Lesen und Hören Sie hier Gäbs Laudatio auf Julia Stepanowa von der Preisverleihung am 6. Dezember in Berlin in voller Länge:
    "Meine Damen und Herren,
    wenn sich Menschen treffen, die den Sport lieben und seine Helden feiern wollen, dann geht es für gewöhnlich um Sieg, um Freude am Erfolg, um Belohnung und Anerkennung für Leistung.
    Mit Julia Stepanowa ist heute eine Siegerin unter uns, zumindest eine moralische Siegerin.
    Anlass und Thema dieses Tages aber führen uns zwangsläufig auch in die Dunkelheit des Sports - dahin, wo anstelle von Fairness und gleichen Regeln für alle die Gier nach Macht, nach Erfolg, Geld und nationalistischem Triumph vorherrschen, wo Sieg um jeden Preis die Parole ist.
    Vom DDR-Regime um Gesundheit und Leben betrogen
    Und diese Veranstaltung der Doping-Opfer-Hilfe ist auch nicht zu trennen von den dunklen Schicksalen jener kranken und geschädigten Athleten, die durch die kriminellen Doping-Methoden des DDR-Regimes um Gesundheit und Leben betrogen wurden.
    Jener Athleten, um deren Unterstützung Ines Geipel und die Doping-Opfer-Hilfe verzweifelt kämpfen, jener Athleten, für die ernsthaft und beständig Verantwortung zu übernehmen, die Bundesrepublik und ihr DOSB nicht den Willen und die Kraft aufgebracht haben.
    Es ist dies aber eben auch ein Tag, an dem Haltung und Tat eines einzelnen Menschen die Dunkelheit erhellen, all den Millionen Mut und Motivation geben, die den Sport als ein Spielfeld bewahren wollen, auf dem sich Kampf und Wettstreit mit den Prinzipien von Anstand und Menschlichkeit verbinden können.
    Liebe Julia Stepanowa, lieber Witali Stepanow, auch ich begrüsse Sie herzlich. Es ist mir eine Ehre, heute Ihr Verhalten und Ihren Mut zu ehren und zudem über Sie und über die nun mit Ihrem Namen verbundenen sportpolitischen Ereignisse zu sprechen.
    Die Verleihung des Anti-Doping-Preises durch die Doping-Opfer-Hilfe findet in einer Zeit statt, in der schmerzhaft klar geworden ist, dass sich der Lebensbereich Sport auf seinen höchsten Leistungs- und Führungs-Ebenen den Moralvorstellungen und dem "Der Zweck heiligt die Mittel"-Denken von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft völlig angepasst hat.
    Medaillengewinne als oberstes Ziel
    Frau Stepanowa hat in einem Interview gesagt, das Ziel Russlands sei es, größer und besser zu sein als jedes andere Land auf der Welt und - ob Präsident, Ministerien oder die russische Antidoping-Agentur - alle wüssten, dass Medaillengewinne das oberste Ziel im Sport seien.
    Um dieses Ziel zu erreichen, wurde nach den Feststellungen der McLaren-Kommission in Russland staatlich beaufsichtigt gedopt, sind tausende von Dopingproben zerstört oder gefälscht worden, sorgfältig organisiert und unter dem Schutz von Polizei und Behörden.
    Im Drama um die Doping-Affären, welche während der Spiele in Rio die ganze Welt beschäftigt haben, geht es für mich aber nicht um Kritik an den Verhaltensweisen einer einzelnen Nation. Ich glaube nicht, dass Russland allein dasteht. Autoritär geführte Nationen und Diktaturen in aller Welt haben seit jeher Lüge und Betrug als legitime Mittel zum Machterhalt und Machtausbau angesehen, eben auch im Sport.
    Gerade hier in Berlin, Frau Stepanowa, hat das Regime der deutschen DDR vor noch nicht allzu langer Zeit vorgeführt, dass die Einhaltung moralischer Massstäbe im Sport von undemokratischen Systemen einfach nicht zu erwarten ist.
    Und wir haben selbst in der demokratischen Bundesrepublik, wo wir uns viele Jahre als Hüter der Moral gefühlt haben, erkennen müssen, dass wir steinewerfend im Glashaus sassen. Die Vorgänge in Freiburg und anderswo haben es gezeigt.
    Politische Systeme können nicht für Integrität des Sports sorgen
    Politische Systeme werden und können nicht für Sauberkeit und Integrität des Sports sorgen. Der Sport selbst muss es tun, wenn er als ein respektierter, privilegierter, von der Gesellschaft akzeptierter und aus öffentlichen Mitteln unterstützter Lebensbereich überleben will.
    Die Geschichte von Julia Stepanowa ist durch die Recherchen des ARD-Journalisten Hajo Seppelt und später durch viele Interviews des Ehepaares Stepanowa und anderer russischer Insider weltbekannt geworden.
    Professor McLaren und seine Kommission, die für das IOC das Staatsdoping in Russland untersuchten, empfahlen nach Prüfung der Unterlagen Russland von den Olympischen Spielen auszuschliessen.
    Die "Null-Toleranz bei Doping"-Rufer vom Auftraggeber IOC aber hatten andere Prioritäten.
    Wie fing alles an?
    Die Sportlerin und 800 m-Läuferin Julia Stepanowa war ehrgeizig, wie viele tausend und abertausende Athleten in aller Welt wollte sie besser werden, wollte gewinnen, und ihr wurde im russischen Sportsystem dann beigebracht, wie man besser wird. Durch Doping.
    Als sie bei Junioren-Meisterschaften fünfzehn Sekunden langsamer war als die Besten über 800 Meter, da sagte man ihr, überall in der Welt nähmen erfolgreiche Athleten verbotene Mittel und wenn sie siegen wolle, müsse sie mitmachen.
    Stepanowa machte mit wie viele andere
    Julia Stepanowa machte mit wie viele andere. Man sagte ihr, das Verfahren sei vor Aufdeckung absolut sicher, befolge man die Anweisungen der Funktionäre und Trainer. Frau Stepanowa startete in der russischen Nationalmannschaft, wurde von hochrangigen Funktionären, Medizinern und Trainern des Russischen Verbandes beraten und in den Betrug eingewiesen, befolgte alle Vorgaben, wurde aber dennoch bei einem Test der WADA auffällig und 2013 wegen abnormaler Blutwerte gesperrt.
    Sie gab die Einnahme von EPO zu, das ihr der russische Nationaltrainer persönlich besorgte und das sie nach den Anweisungen von Dr. Portugalow, dem Chef der medizinischen Kommission des russischen Verbandes, eingenommen hatte.
    Ich zitiere aus einem zur Veröffentlichung autorisierten Gespräch, das Michael Reinsch von der FAZ mit Julia Stepanowa geführt hat und das im Dezember 2014 publiziert wurde.
    Reinsch fragte: Wann hat sich Ihre Haltung zum Doping verändert?
    "Wenn man hört, dieses System existiere auf der ganzen Welt, glaubt man, dass man mitmachen muss. Als ich Portugalow darauf ansprach, sagte er, wenn du tust, was ich sage, wirst du nie erwischt werden."
    "Anfang 2013 rief Melnikow an, der Nationaltrainer. Wir haben hier ein Papier, sagte er, da steht, dass du gesperrt bist wegen der Werte in deinem Blutpass. Ich sage: Das ist unmöglich. Ich habe genau das getan, was ihr gesagt habt. Und ihr, die ihr mich in die Situation gebracht habt, arbeitet weiter? Ist passiert, sagte er, tut uns leid, unterschreib halt und entspann für zwei Jahre!"
    Es war der Zeitpunkt, an dem Julia ihr eigenes Verhalten überprüfte und über die Dimensionen des Betrugs und auch die menschenverachtenden Handlungsweisen ihrer Funktionäre zu grübeln begann.
    "Die Trainer hämmern es den Athleten ein"
    Sie hatte erkannt und formulierte es im Gespräch mit Hajo Seppelt:
    "Das wird den Trainern eingehämmert und die Trainer hämmern es den Athleten ein. Die Athleten denken deshalb gar nicht, wenn sie verbotene Präparate einnehmen, dass sie etwas Unrechtes tun." Und weiter: "Die Trainer nehmen ein beliebiges Mädchen, füttern sie mit Tabletten und sie läuft dann. Und morgen wird sie gesperrt und dann sagen sie, wir finden ein neues. Sie füttern sie und sagen: 'Ja, nehmt das, alle nehmen das. Nimm diese Substanzen.' Und wenn einer erwischt wird, schmeißen sie den Sportler weg und nehmen einen neuen."
    Zusammen mit ihrem Mann Witali, der für die RUSADA, die russische Antidoping-Agentur arbeitete, die Betrugssysteme dort kennen lernte und ein Dopinggegner war, wandten sie sich an die WADA, die World Anti Doping Agentur.
    "Sie wollten natürlich wissen, wie der Betrug in Russland funktioniert. Wir haben ihnen die Wahrheit gesagt. Aber das waren nur Worte und keine Beweise. Das Erste, was die Leute von der Wada sagten, war: Sorgt dafür, dass ihr in Sicherheit seid. Doping ist Doping, aber schadet euch nicht selbst. Ich wusste, dass ich beweisen muss, was ich sage."
    Erschütternde Beweise
    Das war die Zeit, in der das Ehepaar Stepanowa begann, Beweise zu sammeln und aktiv zu beschaffen.
    Sie fassten den Beschluss, die Situation öffentlich zu machen und sie filmten die Top-Funktionäre Melnikow und Portugalow, wie sie Ihnen Ratschläge und Dopingmittel gaben. Es waren erschütternde Beweise.
    Nach Einblick in diese dokumentierten Abläufe und gesammelten Beweise erklärte der Präsident des russischen Verbandes, Walentin Balachnitschew, das seien alles Lügen und der Verband werde die Stepanowas verklagen.
    Das war eine existentielle Drohung. Es war die Zeit, wo es kein Zurück mehr gab und wo Julia und Witali klar wurde, dass nur noch die internationale Presse und das IOC helfen konnten.
    Die Stepanowas übergaben ihr Material Hajo Seppelt und standen der Presse ausserhalb Russlands Rede und Antwort.
    Ein Leben in der Fremde, konfrontiert mit Drohungen
    Sie wurden damit zu Staatsfeinden und flohen mit ihrem kleinen Sohn ins Ausland.
    Weil sie nicht länger lügen wollten, nahmen sie die Auseinandersetzung mit einer Weltmacht auf, opferten ihre Heimat, nahmen ein Leben in der Fremde auf sich, beständig konfrontiert mit Drohungen, die sie um ihr Leben fürchten liessen.
    Aber sie führten dabei einen einzigartigen Kampf für Ehrlichkeit im Wettkampf und lieferten IOC und Öffentlichkeit den detaillierten Beweis für staatlich organisierten Betrug an allen anständigen Sportlern der Welt durch eine der wichtigsten Sportnationen der Welt.
    Doch Julia Stepanowa wurde am Ende, wohlgemerkt, nach der Verbüssung ihrer Dopingsperre, vom IOC, dem vorgeblichen Bewahrer und Hüter des sauberen Weltsports, auf besondere Art belohnt.
    Mit Demütigung, moralischer Verurteilung und Ausstossung.
    Bei der Eröffnungsfeier in Rio hatte der IOC-Präsident die olympischen Werte beschworen, pries sie sogar als Antwort auf die großen Krisen der Welt und die Probleme der Menschen.
    Die Athleten rief er auf: "Achtet die Werte, dank derer die Olympischen Spiele so einzigartig sind. In dieser olympischen Welt gibt es nur ein weltumspannendes Recht für jedermann, in dieser olympischen Welt sind wir alle gleich."
    Thomas Bach schob die Sanktionierung auf die Verbände ab
    Mitglieder des IOC haben vor ihrer Aufnahme in das Gremium einen Eid abzulegen. Er lautet so:
    "Der Ehre teilhaftig geworden, Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees zu werden, und im Bewusstsein der Verantwortung, die mir diese Stellung auferlegt, verpflichte ich mich, mich nicht von politischen oder geschäftlichen Einflüssen und von rassischen oder religiösen Erwägungen leiten zu lassen"
    Auch Thomas Bach hat dieses Gelöbnis abgelegt. In Rio fand er einen Weg, die ureigene Verantwortung des IOC für eine Sanktionierung der Vorgänge in Russland auf die hilflosen Fachverbände abzuschieben. Er vermied so jegliche Bestrafung russischer Doper oder Doping-Unterstützer im Funktionärsamt.
    Er setzte sich über die Aufforderung von 17 nationalen Anti-Doping-Agenturen hinweg, Russland in Rio nicht starten zu lassen. Aber er nutzte die vom IOC selbst kontrollierte sogenannte Ethik-Kommission und deren angebliche Empfehlung – diese Kommission hat nach der Charta kein Entscheidungs- sondern nur ein Vorschlagsrecht - , er nutzte sie, um Julia Stepanowa die ethische Qualifikation für einen Start bei den Olympics abzusprechen, während unter seinen Augen Doper anderer Länder, die ihre Strafe verbüsst hatten, starten durften.
    In Deutschland assistierte DOSB-Präsident Alfons Hörmann in einem Interview des Deutschlandfunks. Er bot keine Tatsachen oder Sachargumente an sondern übte sich in übler Nachrede und dunklen Andeutungen:
    "Wer die Hintergründe kennt oder ansatzweise erfährt, wie die Ethik-Kommission-Befragung mit Stepanowa gelaufen ist, wie die Vergangenheit dieser Frau aussieht, der kann verstehen, dass eine Ethik-Kommission des IOC zu einer abschlägigen Entscheidung kommt."
    Auch er sprach irreführend von "Entscheidung".
    Der FIFA-Skandal hat der Welt die Augen geöffnet
    Meine Damen und Herren, der Welt ist klar geworden, dass sich in grossen Sportverbänden Korruption, Geldgier und nackter Opportunismus eingeschlichen haben. Die Aufdeckung der kriminellen Systeme in der FIFA spätestens haben der ganzen Welt die Augen geöffnet.
    Die Ereignisse in Rio aber haben in den freien Ländern der Welt zu einer nie dagewesenen, emotionalen und von Verachtung und Entsetzen geprägten Verurteilung der handelnden Personen geführt.
    Denn wenige Tage vor der Entscheidung, den des System-Dopings überführten russischen Sport und seine Funktionäre ohne jede Sanktion zu lassen, wohl aber jene Julia Stepanowa zu bestrafen, die ihr Leben aufs Spiel setzte um den Doping-Lügen ein Ende zu bereiten, hatte Thomas Bach wörtlich erklärt:
    "Die Ergebnisse des McLaren-Berichts zeigen einen erschreckenden und beispiellosen Angriff auf die Integrität des Sports und der Olympischen Spiele. Daher wird das IOC nicht zögern, die härtesten Sanktionen gegen jede beteiligte Person oder Organisation zu treffen."
    Die total entgegengesetzte Entscheidung des IOC nur drei Tage später war einer der Gründe dafür, dass sich über die Führer des Weltsports eine Flut von Hohn und Kritik ergoss. Nicht nur wegen der empörenden Entscheidungen sondern auch in der Erkenntnis, dass die Idee des Sports nun von höchster Stelle mit Füssen getreten worden war.
    "Bach hätte ein starkes Signal an alle Nationen senden können, die genauso dreist betrügen wie Russland. Aber er hat versagt. Als Anführer. Als Stimme für den sauberen Sport. Als jemand, der sein Wort hält.", schrieb die New York Times und die Londoner Times kommentierte:
    "Es gab bereits einige beschämende Episoden in der langen Geschichte des IOC, aber keine war so feige wie die Entscheidung, Russland den Start bei den Olympischen Spielen in Rio zu erlauben."
    "Das IOC hat seine Seele verkauft"
    "Marca" aus Spanien formulierte:
    "Das IOC hisst die Fahne Russlands!"
    US TODAY, die grösste Zeitung der USA, schrieb so: "Das IOC hat seine Seele verkauft. Schlimmer noch: Es hat all jene sauberen Athleten verkauft, die sich nach Rückendeckung in schwierigen Zeiten sehnen. Und mit ihnen gemeinsam auch die Frau, die mutig genug war, Russlands schmutzige Geheimnisse aufzudecken.
    "Guardian" in London:
    Das IOC hinterlässt das ungute Gefühl, dass die vielleicht wichtigste Whistleblowerin in der Geschichte des Sports geopfert wurde, um Wladimir Putin zu besänftigen."
    "El Mundo", Spanien
    "Man kann sich vorstellen, welchem Druck das IOC ausgesetzt war, damit die russische Hymne bei den Spielen erklingt"
    Die spanische Zeitung berührt einen Kernpunkt der Probleme. Denn nach Rio stellt sich eine harte Frage:
    Wie abhängig von politischer Macht und wirtschaftlichen Einflüssen muss ein IOC sein, dass es solche Entscheidungen vertritt und wenige Wochen später die Welt sogar vorbereitet auf die Möglichkeit olympischer Spiele in Katar, jenem Staat, der den Sport weltweit kauft und mit seinem Geld überrollt?
    Meine Damen und Herren, hinter der weltweiten Empörung stehen aber nicht nur Empörung über die Urteile in Sachen Russland und Julia Stepanowa, sondern auch Trauer und Zorn darüber, dass das IOC, das sich selbst als die Hüterin der Prinzipien von Anstand, Fairplay und Sport ausgibt, die moralische Legitimation für diesen Anspruch nun so schamlos und auf so drastische Weise verwirkt.
    Die deutsche Sportführung fügt sich kritiklos
    Das IOC hat Respekt, Achtung und Autorität verloren, der Sport hat keine moralische Instanz mehr.
    Nun ist die Empörung der internationalen Sportpresse und das Unverständnis von Sportfans in aller Welt eine Sache, das Verhalten der Sportführer in den Demokratien und ihre Spitzensport-Planungen eine andere.
    Gerade auch in Deutschland.
    Die deutsche Sportführung fügt sich kritiklos den Denkweisen und Vorstellungen ihres ehemaligen Chefs Thomas Bach, und DOSB-Präsident Hörmann hat seine Beschreibung der IOC-Entscheidungen als "fair und gerecht" bis heute nicht zurückgenommen oder relativiert.
    Und ausgerechnet in einer Zeit, in der der DOSB den Ansehensverlusten des Sports scheinbar ohne jedes Konzept gegenübersteht, hat er sich entschlossen, auf die Karte "Mehr Medaillen" zu setzen. Er stärkt damit den Eindruck in der breiten Öffentlichkeit n, dass es im Sport vor allem um Siege und Erfolgszahlen geht.
    Und um die Akquise von Steuergeldern, beides zu kaufen.
    Eine bessere, transparentere und gerechtere Spitzensportförderung ist notwendig und seit Jahren überfällig, diese Reform aber mit der Überschrift zu versehen: Mehr Gold bei Olympia, das ist ein zweifelhafter Dienst am Sport.
    Der Breitensport droht zu verkümmern
    Die Konzentration aller Anstrengungen und Fördergelder auf Medaillengewinne bei Olympischen Spielen folgt einem Denkmuster, das in der DDR weite Bereiche des Breitensports hat verkümmern lassen und in dem die Bedeutung des Breitensports als essenzielle Basis der Elite und als soziales Kapital für das Land vernachlässigt wird.
    Die Investition von Athleten mit Haltung und Persönlichkeit Steuergeldern in den Hochleistungssport ist nützlich, weil Athleten mit Haltung und Persönlichkeit - denken Sie an Namen wie Steffi Graf, Dirk Nowitzki, Boris Becker, Timo Boll oder Bernhard Langer - den Ruf Deutschlands weltweit positiv beeinflussen. Sie muss aber vor allem durch den Umstand politisch legitimiert werden, dass der Leistungssport der Wenigen den für die innere Stabilität des Landes entscheidend wichtigen Breitensport der Millionen in den rund 90.000 deutschen Sportvereinen beflügelt.
    Diese Vereins- und Breitensport-Strukturen sind vermutlich die wichtigsten gesellschaftspolitischen Stabilisatoren in einer der Toleranz und dem Miteinander verpflichteten Republik. Diese Vereine stehen wie nichts anderes für soziales Miteinander und lebendige Kommunikation. Sie sind das stärkste Bollwerk gegen die Verachtung anderer Rassen und Kulturen, auch gegen die schleichende Selbstisolierung der Jugend und den Verlust an zwischenmenschlichen Kontakten, der durch ihre immer intensivere Beschäftigung mit Computern, Smartphones und der elektronischen Medienwelt beschleunigt wird.
    Der DOSB aber, unter dessen Dach sich die Millionen des Breitensports versammeln, scheint nicht zu verstehen, wie er den Imageverfall des Sports stoppen kann, wo sein Kapital liegt und mit welchem Kapital er wuchern müsste, um seinen Ruf zu verbessern und in einem dem Spitzensport gegenüber immer kritischeren Umfeld die Forderung nach Steuergeld zu legitimieren.
    Jagd auf Medaillen sei ein Selbstzweck
    Er erweckt den Eindruck, leider mit Unterstützung der Bundesregierung, die Jagd auf Medaillen sei ein Selbstzweck, forciert dadurch indirekt die unnatürliche Trennung von Spitzen- und Breitensport, gefährdet die Zukunftsfähigkeit von Sportarten, die gerade nicht medaillenträchtig sind, und erhöht am Ende den Druck auf die Athleten an, die nun, auch im Interesse und zum finanziellen Überleben ihrer Fachverbände, gewinnen müssen um politischen Erwartungen zu genügen.
    Wird das die Versuchung zu dopen reduzieren?
    Wird es die Geschicke der Bundesrepublik wirklich beeinflussen, ob Deutschland in einer olympischen Medaillen-Rangliste dritter, vierter oder fünfter ist?
    Der DOSB könnte mithelfen, die Prinzipien des Sports, nämlich den Wettkampf nach Regeln in Respekt vor dem anderen, als ein Leitbild für die ganze Gesellschaft zu beschreiben.
    Er könnte, nein, der müsste zu einer Marke werden, die Werte transportiert.
    Wenn man aber durch die heutige Sieg-Zahlen-Politik den Eindruck vermittelt, dass Medaillen-Gewinne der letzte Sinn des Sports sind, dann stülpt man dem Millionenheer ganz normaler Amateur- und Wettkampfsportler auch das zwielichtige Image jener Sportarten über, deren Affairen die Medien beherrschen und die so das Bild des Sports immer mehr verdunkeln.
    Es wird Kraft kosten, diesen Weg zu gehen
    Gerade im Rückblick auf die deprimierenden Ereignisse in Rio werden wir also dafür kämpfen müssen, ein Bild des Sports zu erhalten, das seinen tatsächlichen Wert widerspiegelt und seine tatsächliche Bedeutung für ein positives soziales Miteinander in unserem Land.
    Es wird Kraft kosten, diesen Weg zu gehen, und es wird die unbedingte Überzeugung erfordern, dass nur Respekt vor den Regeln, Fairplay und Anstand diesen Weg freimachen können.
    Julia Stepanowa, nach Jahren des Irrtums, hat den Mut aufgebracht, hat diesen Weg beschritten.
    Sie hat im Kampf gegen Schmutz und Betrug im Sport unter schwersten persönlichen Opfern ein weltweites Zeichen der Hoffnung gesetzt.
    Frau Stepanowa, wir und die Welt des Sports haben Ihnen zu danken."