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Hanya Yanagihara: "Das Volk der Bäume"
Abgründe eines Genies

Der Immunologe Dr. Norton Perina wird 1997 zu zwei Jahren Haft verurteilt: wegen Vergewaltigung eines seiner 43 Adoptivkinder. Im Gefängnis schreibt er seine Lebenserinnerungen auf. Hanya Yanagihara ist mit "Das Volk der Bäume" ein mitreißender, zutiefst desillusionierender Roman gelungen.

Von Christoph Vormweg | 18.02.2019
    Die Schriftstellerin Hanya Yanagihara und ihr Roman „Das Volk der Bäume“
    Hanya Yanagihara hat die Geschichte Perinas dem realen Fall eines Wissenschaftlers nachempfunden. (Cover Hanser Berlin / Aitorenportrait (c)Jenny Westerhoff)
    Ein Prominenter, der im Gefängnis seine Memoiren schreibt, will sich rechtfertigen. Dumm nur, wenn die vorangestellten Pressemeldungen zu seinen Taten und das Vorwort des Herausgebers schon so viel über sein Leben und Werk verraten. Sie entpuppen sich in Hanya Yanagiharas Roman "Das Volk der Bäume" als veritabler Spannungskiller. Deshalb sei es dringend empfohlen, sich die Lektüre des Vorgeplänkels als Nachwort zu Gemüte zu führen und erst einmal die Erinnerungen des 71-jährigen Nobelpreisträgers Dr. Norton Perina zu lesen. Denn die Schilderung der berühmten Forschungsreise, die der Mediziner auf die mikronesischen Inseln unternahm, ist natürlich viel packender, wenn man ihre Ergebnisse noch nicht kennt. Anfang der 1950er-Jahre lässt sich der Mittzwanziger, den die Laborarbeit zutiefst anödet, von dem Anthropologen Tallent und dessen Mitarbeiterin Esme dazu anheuern, die tropische Insel Ivu´Ivu zu erforschen. Ziel ihrer Suche ist ein kleiner Volksstamm, der ohne jeden Kontakt zur Außenwelt im dortigen Dschungel siedeln soll. Die Führer, die das Forscherteam begleiten, sind Wildschweinjäger, bewaffnet mit Speeren. Doch auch sie wissen nicht, was sie erwartet. Denn Ivu´Ivu gilt als "verbotene Insel".
    "Es zerrte an meinen Nerven, wie rasch der Dschungel uns verschluckt hatte, wie unbedeutend wir in ihm wirkten; als wir seit etwa einer Viertelstunde unterwegs waren, drehte ich mich um, weil ich wissen wollte, wie weit wir gekommen waren, nur um zu sehen, dass bereits ganze Baumarmeen unseren Weg verdeckten. Über uns und um uns herum war die Luft von Gesprächen erfüllt – es schnatterte, gackerte, kreischte und tschirpte -, und schon nach einer halben Stunde hatten die Baumkronen den Himmel nahezu völlig ausgelöscht, waren die blauen Kleckse mit jedem Schritt winziger und seltener geworden. Uva und die anderen Führer gingen barfuß, die Fußsohlen grindig und geschwollen, aber Tallent, Esme und ich trugen schwere Schuhe, und wann immer ich den Fuß senkte, hörte ich unsichtbare Kreaturen auf dem Boden unter uns davonhuschen."
    In der grünen Hölle
    Hanya Yanagihara hat die Geschichte Perinas dem realen Fall eines Wissenschaftlers nachempfunden. Ihre Romanprosa ist präzis, leicht verständlich und bildreich, ihre detaillierten Natur-Beschreibungen von großer atmosphärischer Dichte. Das neidlastige Forscher-Milieu – und das spürt man in jeder Zeile – ist ihr von Haus aus vertraut. Denn ihr Vater arbeitete in den USA für das National Institute of Health. Zwischen Perina und den beiden anderen Wissenschaftlern gibt es jedenfalls permanent Spannungen. Abgesehen davon sucht man natürlich ständig nach Indizien für Abnormitäten in seiner Persönlichkeit.
    Zunächst füttert uns Hanya Yanagihara nur mit irritierenden Andeutungen: über das gestörte Verhältnis zu seiner Mutter, über seine Hassliebe zum homosexuellen Zwillingsbruder Owen, über sein Vergnügen beim Töten von Labormäusen oder über die Abneigung gegenüber Esme, die sich immer mehr zur Aversion aufstaut. Hinzu kommen Perinas Reaktionen auf das absolut Fremde: so bei der Begegnung mit der wunderlichen Frau, die sie Eva taufen. Ihre Zurückgebliebenheit ist frappierend. Sprechen kann sie nicht, auch sehen kaum. Nur das Fressen scheint sie zu interessieren. Doch Perina fällt – nicht ohne ein gewisses Neidgefühl - noch etwas anderes auf: die Tatsache, dass sie "nicht unter Einsamkeit" leide. Wenig später stoßen sie dann auf das Dorf des gesuchten Stammes, eine – wie es heißt - "36 Köpfe zählende Mikrogesellschaft":
    "Sie hatten Hunderte von Jahren gelebt und gejagt, hatten sich vermehrt und waren gestorben, und während all dieser Zeit waren sie für das Volk, aus dem sie hervorgegangen waren, ein bloßer Mythos geblieben, eine finstere Fabel, halb Mensch und halb Monster. In Anbetracht dieser Tatsache konnte einen der geradezu unheimliche Gleichmut, mit dem das Dorf unsere Anwesenheit hinnahm, erstaunen, ja schier aus der Fassung bringen. Von all ihren Merkmalen und Eigenarten fand ich diese ihre Fähigkeit, sich nahezu an alles anzupassen und auf alles einzustellen, dem sie begegneten (oder was, wie in diesem Fall, ihnen begegnete), am faszinierendsten."
    Der befremdende Initiationsritus
    200 eng bedruckte Seiten lang verhält sich Perina wie ein Asexueller. Von einem "geborenen Teufel", wie das dem Roman voran gestellte Shakespeare-Motto nahelegt, kann keine Rede sein. Dann das Schlüsselerlebnis: Ein etwa zehnjähriger Junge wird während einer Zeremonie in die Männerwelt aufgenommen. Im Beisein seiner Eltern wird er vom Häuptling und einigen Kriegern sodomiert. Was die anderen beiden Forscher entsetzt, fasziniert Perina. Denn der Junge wirkt nach seiner Initiation alles andere als traumatisiert.
    "Im Laufe der Monate, die wir im Dorf verbrachten, wurde ich Zeuge einer so tiefgreifenden sexuellen Freiheit und Offenheit, das es mich überraschte, sie nicht eher wahrgenommen zu haben: Ich beobachtete Paare (Männer und Frauen, aber auch andere Zusammensetzungen) beim Brunften in Hütten oder im Wald und Kinder jedes Alters, die natürlich andere Kinder, aber auch Erwachsene liebkosten. Vor Ivu´ivu war mir nie in den Sinn gekommen, dass Kinder an sexuellen Handlungen Gefallen finden könnten, aber hier im Dorf erschien es vollkommen natürlich, was es ja auch war."
    In ihrem Roman "Das Volk der Bäume" lässt Hanya Yanagihara tief im Dschungel ein scheinbar primitives Werte- und Moralsystem mit dem christlichen kollidieren. Was zu Hause in den USA unter Strafe steht, gilt auf der "verbotenen Insel" als normal. Perina erlebt mit dem Jungen eine Nacht des Glücks. Doch schon bald steht eine andere unglaubliche Entdeckung im Mittelpunkt: Der Verzehr eines bestimmten Schildkrötenfleisches scheint die Bewohner von Ivu´ivu viel länger leben zu lassen als andere Menschen, manche sogar über 200 Jahre lang. Für Perina ist die Startbahn in Richtung Nobelpreis damit zementiert. Zurück in den USA unterschlägt er allerdings die fatale Nebenwirkung des Schildkrötenfleisches: eine Art verfrühte, immer weiter fortschreitende Demenz. Denn er hofft, durch Reihenuntersuchungen an Mäusen die verheißungsvolle physische Wirkung zu isolieren.
    Hanya Yanagihara beschreibt das US-amerikanische Wissenschaftler-Milieu als prall gefülltes Haifischbecken. Auch Perina ist alles andere als ein Unschuldslamm. Um das für seine Forschungen nötige Schildkrötenfleisch in die USA bringen zu können, muss er lügen und stehlen. Mehr noch: Für den Nobelpreisruhm opfert er das intakte System der Mini-Gesellschaft fernab der Zivilisation. Denn Perinas Forschungen lassen die Pharma-Unternehmen auf Ivu´ivu eine Goldgrube witterten. Auf der Suche nach dem Wundermittel für ein ewiges Leben stürmen sie das Paradies.
    Die katastrophalen Folgen
    "Soll ich erzählen, dass es in Fällen wie diesem keine wirklich neuen Geschichten gibt: dass sich die Männer dem Alkohol zuwandten, dass die Frauen die Handarbeit vernachlässigten, dass sie alle dicker, derber und fauler wurden, dass sie sich von den Missionaren so leicht aus ihren Häusern pflücken ließen wie überreife Äpfel vom Ast? Soll ich von den Geschlechtskrankheiten erzählen, die aus dem Nichts zu kommen schienen, aber, als sie einmal da waren, nicht mehr verschwanden? Soll ich erzählen, dass ich all das selbst mit ansah, dass ich immer wieder zurückkehrte, auch als die Fördergelder längst verbraucht waren, die Leute längst das Interesse verloren hatten, die Insel sich längst aus einem Garten Eden in das verwandelt hatte, was […] sie ist: nur eine weitere mikronesische Ruine."
    "Das Volk der Bäume" ist ein mitreißender, zutiefst desillusionierender Roman. Wie in ihrem Welterfolg "Ein wenig Leben" stellt Hanya Yanagihara ihr faszinierendes Gespür für vertrackte menschliche Abgründe unter Beweis. Um zu Ruhm zu kommen, hat Dr. Norton Perina das Paradies, wo er zum ersten Mal so etwas wie Glück empfand, der Zerstörung preisgeben. Doch hofft er danach, das Glück genauso exportieren zu können wie vorher das Schildkrötenfleisch: durch die Adoption von 43 verwahrlosten Kindern, die meisten davon Jungen. Er möchte ihr Häuptling sein, mit allen Rechten und Pflichten, und gibt ihnen dafür ein Zuhause: mit Gouvernante und erstklassiger Schulausbildung. Zum Verhängnis wird ihm, dass die Adoptivkinder fern ihrer mikronesischen Heimat natürlich automatisch das christliche Werte- und Moralsystem annehmen. Sie denken bald wie Amerikaner – und in deren Land steht Pädophilie unter Strafe. Die meisten Kinder tanzen in ihrer Machtlosigkeit nach Perinas Pfeife, nicht aber der aufmüpfige Victor.
    "Jede Form von Ethik und Moral" sei "kulturabhängig", rechtfertigt sich Perina an einer Stelle seiner "Memoiren". Demnach wäre alles relativ, auch die Leiden der Kinder. Hanya Yanagihara lässt den zwischen den zwei Moral-Systemen verirrten Nobelpreisträger in seiner Zelle über Schuld und Unschuld brüten. Gelungen ist ihr Roman nicht nur, weil sie immer wieder intensive, zwiespältige, verunsichernde Konflikt-Szenen über Fragen der Autorität und Rechtmäßigkeit konstruiert, sondern auch, weil sie ihren Lesern das Urteilen nicht abnimmt. Das gilt auch für die Passage, die der servile Herausgeber zunächst aus dem Manuskript streicht, um sie am Schluss doch zu zitieren. Ob er es aus wissenschaftlicher Redlichkeit tut, bleibt sein Geheimnis. In jedem Fall: Die Passage öffnet den Blick auf die jeden betreffende Frage, wann Liebe zum Missverständnis wird, zum Verbrechen.
    Hanya Yanagihara: "Das Volk der Bäume"
    aus dem Englischen von Stephan Kleiner
    Hanser Berlin Verlag, Berlin, 478 Seiten, 25 Euro.