Donnerstag, 28. März 2024

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Harald Welzer
"Die offene Gesellschaft ist ein zivilisatorisches Gut, das man verlernt hat wertzuschätzen"

Die Frage nach der Verantwortung des Kulturbetriebs sei heute aktueller denn je, sagte der Sozialpsychologe Harald Welzer im DLF. Deswegen müsse aber nicht jeder mit Ballett- und Museumsbesuchen "beglückt" werden. In einer offenen Gesellschaft gehe es vor allem darum, den Menschen ihre Freiheit zu lassen.

Harald Welzer im Corso-Gespräch mit Bernd Lechler | 19.01.2017
    Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer, aufgenommen am 13.10.2011 auf der Frankfurter Buchmesse.
    Der Sozialpsychologe Harald Welzer meint: Nicht nur Museen, sondern alle müssten sich wieder darauf besinnen, welche Verantwortung ihnen eigentlich zukommt. (picture-alliance / dpa / Arno Burgi)
    Bernd Lechler: In der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf findet noch heute und morgen ein Symposium statt mit dem Namen: "Wem gehört das Museum?" Darin geht es um "Fragen und Bedingungen musealer Vermittlung im globalen Kontext", wie der Untertitel erklärt. Also, wie definieren Museen ihren Auftrag, was das Publikum betrifft? Wer wird im Museum repräsentiert, und wie, und wer vielleicht eher nicht? Wie kann man die vielfältigen Interessen und Orientierungen einer Gesellschaft widerspiegeln und einbeziehen? Ein Eröffnungsredner gestern Abend war Harald Welzer, Sozialpsychologe, Direktor der gemeinnützigen Stiftung FUTURZWEI, Professor für Transformationsdesign an der Uni Flensburg, er sprach über Kultur in der offenen Gesellschaft. Heute ist er schon wieder in Berlin und dort fürs "Corso"-Gespräch mit uns verbunden. Guten Tag, Harald Welzer!
    Harald Welzer: Guten Tag!
    Lechler: Wie museal ist die museale Vermittlung? Hinkt die dem Wandel der Welt hinterher oder brauchen wir sie eher als Konstante und so als Hort der Kultur in einer sich wandelnden Welt?
    Welzer: Also, ich glaube, sie ist eine Konstante, und ich glaube, das, was Menschen an Kunst interessiert oder an Theater interessiert oder an Konzerten interessiert, ist eben auch etwas Konstantes. Nämlich sozusagen bestimmte Arten von Welterfahrung, von Weltsichten oder so was sich zeigen zu lassen oder sich da reinzubegeben. Und das muss ja nicht von jedem in jedem einzelnen Fall irgendwie gut gefunden werden, aber ich glaube, das ist das konstante Moment.
    Lechler: Muss ein Museum auf aktuelle Ereignisse reagieren?
    Welzer: Ich würde sagen, es kann es. Es muss es nicht. Weil, Kunst hat ja ihre Qualität genau darin, dass sie sich im Grunde genommen entgegensetzt zu dem, was aktuelle Zeitläufe, Anforderungen und so weiter sind. Zumindest würde das für die großen Kunstwerke gelten, würde ich denken. Und insofern muss sie es nicht, aber sie kann es natürlich. Und eine andere Frage ist die: Was macht die Institution? Also, Museum ist ja nicht Kunst, genauso wie das Theaterhaus nicht Theater ist. Und die Frage ist: Was machen die Institutionen, welche Art von Verantwortung in gesellschaftlichen Umbruchprozessen müssen die eigentlich übernehmen?
    Lechler: Und welche müssen sie übernehmen?
    Welzer: Na, ich glaube schon, wenn wir die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts uns anschauen, dann ist es ein Jahrhundert von sehr tiefen Brüchen, insbesondere was unsere europäische Welt angeht. Und man kann eigentlich sagen, dass die im weitesten Sinne für Kunst und Kultur Zuständigen keine supergute Figur in diesen Umbrüchen gemacht haben. Also, wenn man beispielsweise Stefan Zweig liest oder Sebastian Haffner oder Viktor Klemperer, also zeitgenössische Berichte aus den 1930er-Jahren, dann ist die Erschütterung sehr stark ausgeprägt, dass ausgerechnet diejenigen, auf die man am meisten vertraut hat, am ehesten umgekippt sind. Also, insofern, glaube ich, ist die Frage nach der Verantwortung des Kulturbetriebs heute aktueller denn je.
    "Es interessiert sich auch nicht jeder für Sport"
    Lechler: Ein Teil dieser Verantwortung ist auch neben dem, was man macht, auch für wen man es macht. Also, im Programm des Symposiums heißt es: Wer wird im Museum repräsentiert? Heißt das, dass viele nicht repräsentiert sind?
    Welzer: Ja, ich glaube, das heißt es. Ich glaube, wenn man den Statistiken glauben kann, dann ist ja ein Museumsprogramm etwa für zehn Prozent der Bevölkerung nicht gemacht, aber wird von denen angenommen, und viele andere interessieren sich nicht dafür. Das gilt aber für alle anderen gesellschaftlichen Bereiche auch, es interessiert sich ja nicht jeder für Wissenschaft und es interessiert sich auch nicht jeder für Sport oder so. Moderne Gesellschaft besteht ja darin, dass sie solche Angebote zur Bildung, zur Aufklärung und so weiter bereithält, aber nicht voraussetzt, dass sich jeder davon zwangsbeglücken lassen muss.
    Lechler: Das heißt, wenn jetzt die Museen vor allem das Bildungsbürgertum erreichen, dann würden Sie gar nicht sagen, es ist geboten, das zu erweitern, aktiv?
    Welzer: Na ja, ich halte ja nichts von so einem Kulturbegriff, der sagt, man muss die Menschen jetzt mit Kultur unbedingt beglücken. "Kultur für alle" war mal ein großes Programm der 1970er-Jahre, was einige sehr interessante Entwicklungen mit sich gebracht hat, aber natürlich auch nicht dazu geführt hat, dass sich 100 Prozent der Menschen für Hochkultur interessieren. Aber das müssen sie auch nicht. Also, ich interessiere mich für bildende Kunst beispielsweise, aber nicht sonderlich für Ballett. Und ich fände es ziemlich unangenehm, wenn ich aufgefordert werden würde, gewissermaßen zur Planerfüllung beizutragen und müsste jetzt dauernd mich ins Ballett setzen oder so.
    Lechler: In der Kunstsammlung NRW startet mit dem Symposium auch das Projekt "Wegen Umbau geöffnet. Eine Kunstsammlung wird neu verhandelt", bei dem ab sofort bis August 2018 Besucher_innen und Museumsinteressierte sich mit Kunstwerken der Moderne und Fragen des Kanons auseinandersetzen und in Workshops Inhalte begutachten und kommentieren sollen, die Präsentationsformen. Das heißt, da will sich eine Kunstsammlung mithilfe der Besucher neu sortieren. Ist das dann ein zukunftsweisender Ansatz?
    Welzer: Also, ich finde das ein tolles Projekt, ich finde es auch unheimlich interessant, wenn jetzt der Museumsbesucher, die Museumsbesucherin nicht nur als Konsument betrachtet wird, sondern aktiv einbezogen wird, ich denke, das wird auch darauf hinauslaufen, dass diese Beteiligten dann selber auch eine Ausstellung oder eine Neusortierung der Sammlung konzipieren und das auch wiederum gezeigt wird. Das ist ein super Ansatz, ich bin auch gespannt, was dabei herauskommt. Ich glaube nicht, dass es jetzt grundsätzlich den normalen Museumsbetrieb infrage stellen würde oder dass man, wenn die Ausstellung oder das Projekt ein Erfolg wird, dass man in Zukunft in allen Museen das so machen würde. Aber ich finde, es ist ein schönes, schönes Projekt, die Leute aktiv einzubeziehen und sie mit den Arbeiten selber auch umgehen zu lassen, um zu gucken, was kann man denn eigentlich mit Kunst machen und wo ist der jeweilige Bezug zu den einzelnen Personen, die jetzt damit umgehen? Insofern finde ich das sehr schön und ich finde vor allen Dingen diesen Titel "Wegen Umbau geöffnet" total super, weil ja eigentlich moderne Gesellschaften ohnehin pausenlos im Umbau begriffen sind und man sie aber offenhalten muss, damit dieser Umbau auch klappt.
    "Wir sind frei darin, zu tun und lassen, was wir wollen"
    Lechler: Ja, Sie haben gestern Abend erzählt in Ihrem Vortrag, wie Ihnen selbst vor noch gar nicht so langer Zeit aufgegangen sei, dass Ihre ganze eigene Arbeit – und das gilt dann auch für Kultur und eben auch für Museen –, dass die überhaupt nur geht, weil wir in einer offenen Gesellschaft leben, die das alles trägt und erlaubt. Was sind die Eckpfeiler?
    Welzer: Ja, die offene Gesellschaft ist eigentlich dieser Typus von westlicher Nachkriegsgesellschaft, in der wir zurzeit leben. Offene Gesellschaft heißt nicht bunter Teller, großer Ponyhof und so weiter, sondern offene Gesellschaft heißt: Wir haben einen rechtsstaatlichen Rahmen, der sicherstellt, dass wir sowohl individuell als auch politisch unsere Gesellschaft gestalten können, das heißt frei sind, darin zu tun und zu lassen, was wir wollen, was wir denken und so. Und das ist ein zivilisatorisches Gut, was man verlernt hat wertzuschätzen, weil man ja glaubt, ach ja, das ist alles so gegeben und das funktioniert schon 70 Jahre lang, also können wir uns darauf verlegen, ständig an dem Ganzen rumzumäkeln. Und deshalb haben wir ja auch so eine eigentümliche Dagegen-Kultur, auch in der öffentlichen Debatte. Aber wir haben völlig vergessen zu sagen: Das ist ein zivilisatorisches Projekt und ein zivilisatorischer Standard, der hat die besten Lebensverhältnisse erreicht, die es in der Geschichte jemals gegeben hat, aber das ist nicht garantiert, das existiert nur, wenn wir auch bereit sind, dafür einzutreten.
    Lechler: Dieser Schreck, dass das nicht garantiert ist, ich glaube, der treibt uns alle zurzeit um. Wie bedroht sehen Sie denn die Grundlagen?
    Welzer: Na, ich sehe leider diverse Angriffe. Also, das eine ist natürlich mit den Händen zu greifen, das ist das, was im Moment von neurechter Seite kommt und was wir ja morgen auch noch mal verkörpert finden in dem Amtsantritt von Donald Trump, also direkte antidemokratische Einstellungen, die regierungsförmig werden. Dann haben wir natürlich die Veränderung in unseren Formen von Kommunikation durch die ganze Digitalisierung und diese unglaublich beschleunigte Veränderung unserer sozialen Umgangsweisen. Und dann haben wir natürlich zum Dritten eine lange dauernde Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts dadurch, dass sich eben die soziale Marktwirtschaft eigentlich weitgehend verabschiedet hat und zur reinen Marktwirtschaft übergegangen ist. Und das hat gesellschaftlichen Zusammenhang sehr stark beeinträchtigt und die Folgen sehen wir jetzt.
    Lechler: Um den Bogen zurückzuschlagen zum Schluss: Was könnten denn und können und sollen Museen leisten für eine offene Gesellschaft?
    Welzer: Also, ich glaube, das lässt sich nicht als Rezept machen. Ich glaube aber, man muss sich wirklich angucken, wo das Versagen im vergangenen Jahrhundert gelegen hat. Und ich glaube aber, das gilt nicht nur für Museen, sondern eigentlich für jedes Amt, jede Tätigkeit, die man ausübt: Man muss sich darauf besinnen, welche Verantwortung einem eigentlich zukommt durch das, was man tut und tun darf. Und wenn man das wertschätzt und auch die Gesellschaft wertschätzt, die einem diesen Rahmen gibt, dann muss man an bestimmten Stellen einfach sagen: Wir können jetzt nicht mit dem Normalprogramm weitermachen, wir müssen uns jetzt mal sichtbar machen und sagen: Die gegenwärtige Entwicklung finden wir bedrohlich und wir treten dafür ein, dass diese Entwicklung nicht weitergeht beziehungsweise das Negative dann wirklich verhindert wird. Also ein offensives, verantwortliches Eintreten, vielleicht einfach auch, weil man begreifen muss, dass dieser Freiraum, den einem eine solche Gesellschaft gibt, auch eben ein Freiraum für Verantwortung ist.
    Lechler: Professor Harald Welzer über Kultur in der offenen Gesellschaft. Das Symposium "Wem gehört das Museum?", noch heute und morgen in Düsseldorf, ist öffentlich. Man kommt leider nicht mehr rein, weil es ausgebucht ist, aber Sie können es über den Youtube-Kanal der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen im Stream mitverfolgen, den Link finden Sie auf kunstsammlung.de, dort auch noch den gestrigen Abend mit dem Eröffnungsvortrag. Herr Welzer, vielen Dank fürs "Corso"-Gespräch!
    Welzer: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.