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Hart am Rand

Das Element des Verbrechens ist notwendig, um Spannungsliteratur zu schreiben. Und es ist eine Möglichkeit, Figuren sehr direkt aufeinandertreffen zu lassen und sich auseinandersetzen zu lassen, ohne dass sie eine Möglichkeit haben, sich zu entziehen. Sie müssen reagieren.

Matthias Eckoldt | 20.06.2002
    Und das tut die mittlerweile nicht nur Krimifreunden bekannte Personage der Gerstenbergschen Bücher in Hart am Rand ein weiteres Mal. Henry Palmer, der sympathisch-schluffige, immer ein wenig neben sich stehende Mittdreißiger, der die Zumutungen des Lebens gemeistert hat, ohne den geringsten Ehrgeiz zu entwickeln. Theo Trepka, der seine Fähigkeiten als Chemiker nutzte, um die Berliner Techno-Szene mit Extasy zu versorgen, bis Polizei und Staatsanwaltschaft ihn aus seinem Labor ins Tegeler Gefängnis überstellten. Und schließlich die Jugendfreundin der beiden mit dem klingenden Namen Hanna Lachmund, die unermüdlich Anschluss an den Zeitgeist sucht. Als New Age Jüngerin, als spirituelle Mondanbeterin und nun als angehende Clubbesitzerin.

    Der Plot des Krimis spielt in der sogenannten Neuen Mitte Berlins, von der niemand so richtig weiß, wo sie eigentlich ist, die aber dennoch existiert. Als Lebensart, die sich Raum verschafft - in luxussanierten Altbauwohnungen, in den Start-up-Unternehmen der New Economy und in den Clubs und Bars der neuen Hauptstadt. Gerstenberg:

    Mich hat das schon einmal gereizt, weil dieser Begriff gerade im Umlauf war und weil die Veränderungen in Berlin-Mitte sich gerade so krass abzeichnete in den letzten fünf Jahren. Also das ist wohl der Bezirk in Berlin, der sich am meisten verändert hat. Was mich daran interessiert hat, war, Veränderungen zu beschreiben, die passieren und denen man sich nicht entziehen kann. Obwohl es nicht nur um die Berliner Neue Mitte geht. Ich denke, dass das paradigmatisch für westeuropäische Metropolen im Allgemeinen ist. Der Aufenthalt dort ist meist temporär beschränkt. Auf Bürozeiten oder auf Ausflüge, wenn Touristen herkommen. Und die Leute, die dort wohnen und teilweise auch als Gerüstbauer oder Maurer die Wohnungen saniert haben und seit Jahrzehnten dort leben, in die Plattenbauten am Stadtrand verdrängt werden.

    Gerstenberg beschreibt das Leben in einem neuen Kapitalismus. Das Proletariat ist ausgestorben, die Kraft der Hände wird nicht mehr gebraucht. Im postindustriellen Zustand der Gesellschaft heißen die begehrten Ware nicht mehr Stahl und Kohle, sondern Unterhaltung und Information. Filmproduktionsfirmen, Internetdienstleister und Chill-Out-Clubs sind in der Neuen Mitte die Kapitalumschlagplätze. Die zweite Stufe der Spaßgesellschaftsrakete wird hier gezündet. Den Verlockungen des neu-hedonistischen Lebensstils kann niemand widerstehen. Warum auch? Selbst Ex-Out-Law Henry Palmer, der in Gerstenbergs Büchern "Grimm und Lachmund" und "Ganzheitlich sterben" als abgebrochener Germanistikstudent, übellauniger Sozialhilfeempfänger und gestresster Pizzafahrer firmierte, streift sein Loser-Image ab, lässt die Ressentiments fahren und wird dafür von der Informationsgesellschaft mit einem zeitgemäßen Job als Locationsscout belohnt. Henry Palmer erkundet Drehorte für TV- und Kinoproduktionen in Berlin-Mitte, wo inzwischen mehr Filme gedreht werden als in New York City. Bald schon kann er selbst eine der begehrten Dachgeschosswohnungen anmieten. Sein Stern ist mächtig am Leuchten. Diese Wandlung der Hauptperson allein böte Lesegenuß für ein Buch plus TV-Zweiteiler. Doch Gerstenberg schreibt Kriminalromane. Und der Plot beginnt, als Palmers alter Freund Theo aus der Haft entlassen wird. Am Morgen nach der feuchtfröhlichen Freiheitsfeier verschwindet Theos Vater. Der Verdacht fällt auf Kässens und Jakubowski, die Impresarios der Clubbesitzerszene. Theo hatte einst die Clubs der beiden mit jenen Pillen versorgt, die es in keiner Apotheke gibt. Als er aussteigen wollte, hatten ihn Kässens und Jakubowski zu einer letzten Lieferung überredet, bei der er dann verhaftet wurde. Im Knast hat Theo ein autobiographisches Buch verfasst. Eine Abrechnung mit dem erfolgreichen Duo. Nun vermutet er, dass Kässens und Jakubowski mit der Entführung seines Vaters Druck auf ihn ausüben wollen. Henry Palmer hilft seinem Freund bei der Suche nach dem verschollenen Vater und nimmt seine Gerstenberg-Lesern gut vertraute Ermittlungsarbeit auf. Unbeholfen, sich selbst in Gefahr bringend, oft von der Polizei als Täter verdächtigt und doch zum Schluß erfolgreich. Wie es Henry Palmer schließlich schafft, eine Bande von sogenannten Tresengangstern gegen die Russenmafia auszuspielen, sich in eine Prostituierte zu verlieben, einen Waffenhändler zum Freund zu gewinnen und schließlich noch Kässens und Jakubowski zu düpieren - das soll hier nicht verraten werden. Nur so viel noch: Theos Vater findet Palmer nicht. Der taucht von allein wieder auf. Er war zu einer Entziehungskur. So heißt es im Text:

    "Richieee!" krähte Inski durch den ganzen Laden und übertönte damit mühelos die Marvellers, die nicht gerade leise spielten. In der Tür stand Theos Vater mit seiner Polaroidkamera und lächelte gutmütig in die Runde. "Der Moment muss doch für die Ewigkeit festgehalten werden, in dem mein Sohn seinen Vater als neuen Menschen erblickt." sagte er, bevor er die Kamera, die das Foto ausspuckte, auf den Tresen legte und Theo in die Arme schloss. Minutenlang hielten sie sich aneinander fest. Der alte Mann schluchzte und Theo heulte wie ein Schlosshund. Hin und wieder flüsterte der eine dem anderen etwas ins Ohr, woraufhin dieser nickte und den anderen besonders fest an sich drückte. Theos Vater hatte zugenommen in dem letzten halben Jahr. Er war frisch frisiert und trug den Anzug, den Theo sich für unseren Auftritt im Embryonic Rendezvous geliehen hatte. Anscheinend waren die Blutflecken doch rausgegangen.

    Mit Hart am Rand ist Gerstenberg so etwas wie die Quadratur des Kreises gelungen. Ein Krimi, der sich fast aller Genre-Elemente zur Spannungsmaximierung bedient und sie zugleich ironisiert. Theos Vater, wegen dessen Verschwinden die Ermittlertätigkeit beginnt, kommt ohne Palmers Zutun nach Berlin zurück. Einen Mord als die Zentralgröße des Kriminalromans schlechthin gibt es auch. Allerdings findet er ganz am Rande statt und wird von einem Kommissar durch einen simplen Bauerntrick aufgeklärt. Alles ist da, was einen Krimi ausmacht und doch hebt sich Gerstenbergs Buch gerade durch seine ironische Dimension wohltuend von jenen mehr oder minder glaubhaften Whodunnit-Storys ab, in denen mit sportlichem Ehrgeiz kriminalistische Rätsel verhandelt werden. Das ist Gerstenbergs Sache nicht. Für ihn sind Milieuschilderungen mit all ihren verschiedenen Lebensgefühlen und -stilen von literarischem Interesse. Bleibt letztlich die Frage, warum sich Gerstenberg nicht einmal an einem Roman versucht, der nicht dem Krimi-Genre zuzurechnen wäre.

    Ich finde diese Vereinbarung mit dem Leser doch recht spannend. So ein Kriminalroman ist ja so wie eine Zugfahrt. Man hat einen Punkt A, von dem man losfährt und weiß, dass man am Punkt B ankommt. Und was dazwischen passiert, da hofft man, dass es eine interessante Reise wird, dass man interessante Landschaften sieht und Leute kennen lernt. Das ist so die Vereinbarung, die man hat. Und dann ist es auch eine recht strenge Form, die ich jetzt nicht mehr so streng behandle. Und das Schreiben eines Romans ist ja eher so eine Fahrt ins Blaue, wo weder der Leser noch man selber weiß, wo es hingeht und wo man ankommt. Und das hat mich bislang immer wieder abgeschreckt. Also ich wollte jetzt eigentlich einen Roman schreiben, hab das aber zurückgestellt und schreibe jetzt wahrscheinlich meinen ersten richtigen Kriminalroman, der in einem abgeschlossenen Raum spielt, nicht in Berlin, sondern in Brandenburg. Und wo es wirklich mal richtig klassisch zugehen wird.