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Hartz IV-Falle
Leben mit Schikanen

Bewerbungstrainings, Computerkurse, Eignungsfeststellungen: Jobcenter verpflichten arbeitslose Hartz-IV-Empfänger zu zahlreichen Maßnahmen - auch wenn diese im Einzelfall nicht immer sinnvoll sind. Für die Betroffenen hat das oft schwerwiegende Folgen.

Von Axel Schröder | 06.09.2016
    Bildschirm mit der Aufschrift "Job suche" - Wer länger arbeitslos ist, tut sich oft schwer, ins Erwerbsleben zurückzufinden und braucht Hilfe dabei.
    Bildschirm mit der Aufschrift "Job suche" - Wer länger arbeitslos ist, tut sich oft schwer, ins Erwerbsleben zurückzufinden und braucht Hilfe dabei. (picture alliance / dpa)
    Angelika Matzen schenkt frischen Filterkaffee ein, serviert Erdbeer- und Mandarinenkuchen in ihrem Wohn- und Esszimmer. Im sechsten Stock, in einer Hochhaussiedlung am Hamburger Stadtrand. Angelika Matzen ist Ende fünfzig, seit sieben Jahren bezieht sie Hartz IV. Und über den Sinn der sogenannten "Maßnahmen", zu denen ihr Sachbearbeiter sie verpflichtet, kann die gelernte Bauzeichnerin nur noch den Kopf schütteln.
    "Im Moment stecke ich gerade in einer Maßnahme drin: Ich muss lernen, mit einem PC umzugehen und Bewerbungen zu schreiben, weil mein Sachbearbeiter der Meinung ist, ich bemühe mich nicht genug. Und jetzt muss ich eben sechs Monate lang zu einem Training hingehen. Aber ganz ehrlich: Excel, Word – das kann ich alles. Für meine Begriffe ist das Geldverbrennen!"
    Kostenlose Computer für Hartz IV-Empfänger
    Immerhin, erzählt Angelika Matzen, wüsste ihr Sachbearbeiter, dass sie zusammen mit ihrem Mann seit sechs Jahren den Verein "Computerspende Hamburg" organisiert. 2.700 Computer haben die beiden bislang an Hartz IV-Empfänger weitergegeben, kostenfrei, gegen Vorlage der entsprechenden Bescheinigungen. Denn wie sollen Hartz IV-Empfänger ohne PC nach potentiellen Jobs suchen oder Bewerbungen schreiben? Um den Schriftverkehr des Vereins kümmert sie sich seit Jahren, mittlerweile gebe es auch Ableger in Bergheim bei Köln und Hagen.
    "Wir haben ja gedacht, wir würden uns damit eine Stelle bauen können. Das war mal unser ganz, ganz großes Ziel. Wir haben auch gedacht, das Jobcenter würde uns dabei unterstützen können. Die haben uns, als wir vor sechs Jahren angefangen haben damit hingingen, haben die uns nur ausgelacht und haben gesagt: "Das Ding hat ja überhaupt keinen Bestand, sowas ist blödsinnig…!"
    … und außerdem würde die Vereinsarbeit sie auch von der Suche nach einer bezahlten Arbeit abhalten. Die Flyer des Vereins darf sie im Jobcenter, dort, wo sie am meisten Sinn machen, jedenfalls nicht auslegen. Ob sie noch Hoffnung hat auf einen Job? Angelika Matzen zuckt mit den Schultern.
    "Leider ist mein Alter nicht mehr so gefragt. Und der Beruf des Bauzeichners ist auch leider am Sterben. Und somit ist halt schwierig, einen Job zu finden."
    600 Bewerbungen in fünf Jahren
    Probieren tut sie es trotzdem. Wieder und wieder, nicht immer freiwillig. Im winzigen Bürozimmer zeigt Angelika Matzen die penibel beschrifteten Aktenordner in den Regalen, 600 Bewerbungen hat sie in den letzten fünf Jahren verschickt.
    "Das sind dann die Sachen, die man vom Jobcenter bekommt. Da muss ich mich drauf bewerben. Und mittlerweile sind es schon fünf, sechs Ordner voll!"
    Natürlich sind die massenhaften Absagen frustrierend, erzählt Angelika Matzen. Und oft genug schreibt sie Bewerbungen, bei denen sie vorher schon weiß, dass sie keine Chance auf den ausgeschriebenen Job hat. Aber es gilt die Regel: auf alle vom Sachbearbeiter vorgeschlagenen Stellen muss sie sich bewerben. Sonst drohen Sanktionen, sprich: die Kürzung der monatlichen Bezüge. Gegen diese Sanktionen kämpft eine der prominentesten Kritikerinnen dieses Systems, die Hamburgerin Inge Hannemann.
    "Es hat wirklich zu mehr Entrechtungen geführt, zu – in Anführungszeichen – Zwangsarbeit. Aber wirklich in Anführungszeichen! Weil jede Tätigkeit muss angenommen werden. Und wenn ich jetzt zurückblicke auf die Zeit vor Hartz IV, vor die "Jobcenter-Zeit", da hatten wir die Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld. Und es war nicht möglich, sozusagen die Menschen auf Null zu sanktionieren. Das ist ja dann in Stufen aufgeteilt. Also 30, 60, 90 Prozent Sanktion. Und dann bekomme ich gar nichts mehr. Das ist der große Knackpunkt."
    Absurde Schikane
    Inge Hannemann kämpft schon seit Jahren gegen das "System Hartz IV", zu dem sie früher selbst gehörte. Als Sachbearbeiterin im Jobcenter musste sie 300 sogenannte "Kunden", also Arbeitslose betreuen und als sie sich ein ums andere Mal weigerte, die fälligen Sanktionen zu verhängen, musste sie ihren Platz räumen. Heute sitzt Inge Hannemann für die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft. In ihrem Büro arbeitet auch Angelika Matzen als geringfügig beschäftigte Bürokraft. Die dauernden Bewerbungstrainings und Computerkurse, die das Jobcenter ihrer Angestellten verordnet, hält Inge Hannemann für eine besonders absurde Schikane:
    "Man sollte sie in Ruhe lassen. Man sollte sagen: "Machen Sie ihren Verein erfolgreich weiter! Bauen Sie den aus! Da gucken wir, dass wir Sie unterstützen, vielleicht im Rahmen einer Selbständigkeit! Und dann sehen wir einfach weiter."
    250 Euro verdient Angelika Matzen so dazu. Behalten darf sie davon aber nur 130 Euro. Den Rest, das ist die Regel bei den so genannten "Aufstockern", kassiert das Jobcenter. Allein in Hamburg wird bei 30.000 Menschen so verfahren. In den Arbeitslosenstatistiken taucht diese Gruppe nicht auf, genauso wenig wie alle Arbeitssuchenden über 58 Jahren oder solche, die gerade in einer Maßnahme stecken.
    "Ich weiß gar nicht, was man dazu sagen soll… Es ist grotesk. Denn die Menschen, die in einer Maßnahme sind, die krankgeschrieben sind, die Angehörige pflegen, die sind ja trotzdem erwerbslos. Und trotzdem fallen sie aus der Statistik heraus."
    Nötige Arbeitsplätze fehlen
    Nicht mitgezählt werden auch all jene, die – so heißt es im Behörden-Deutsch – "auf Null sanktioniert" wurden. Menschen, denen "Hartz IV" nach wiederholtem Fehlverhalten komplett gestrichen wurde. Mit kleinen Reformen sei dieses System nicht zu retten, glaubt Inge Hannemann und fordert die Abschaffung von Hartz IV. Auch wenn viele ihrer einstigen Kolleginnen und Kollegen in den Jobcentern mit großem Engagement bei der Sache seien, fehlten einfach die nötigen Arbeitsplätze, um Menschen dauerhaft in Arbeit zu bringen, von der sie leben können. Allein mit Druck, allein durch niedrige Hartz-IV-Sätze, durch immer neue Schulungsmaßnahmen und Sanktionen sei dieses Problem nicht zu lösen.
    "Die Folge ist, dass Menschen in eine Lethargie fallen. Das ist ganz schwierig zu erklären, was in den Menschen passiert. Ich kann es nur wiedergeben, was ich im Jobcenter erlebt habe. Dass die Menschen mir wirklich erzählt haben: 'Ich möchte, Frau Hannemann, aber ich kann nicht mehr!'"
    Angelika Matzen bestätigt das. Sie sitzt an ihrem Kaffeetisch, weiße Tischdecke, die Hände gefaltet.
    "Mein Leitspruch ist immer: 'Man kann damit überleben, man kann da aber nicht mit leben!' Irgendwann habe ich dann eigentlich aufgegeben. Eigentlich habe ich wirklich aufgegeben, noch einen Job zu finden."
    Und trotzdem wird sie in den nächsten sechs Monaten den vorgeschrieben Computerkurs besuchen, wird Bewerbungen schreiben und die Absagen gewissenhaft abheften.